(New York) - Die Ukraine sollte Vorwürfen der Misshandlung russischer Kriegsgefangener durch ukrainische Kämpfer*innen effektiv nachgehen, so Human Rights Watch heute. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, würde das Schlagen und Schießen in die Beine gefangener Kämpfer*innen ein Kriegsverbrechen darstellen. Die Ukraine muss zeigen, dass sie in der Lage und willens ist, schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zu verhindern und zu bestrafen.
Videos, die am 27. März 2022 online gestellt wurden, zeigen mutmaßlich, wie ukrainische Militärs gefangen gehaltene russische Soldat*innen oder Kämpfer*innen misshandeln, die den Status von Kriegsgefangenen haben, und drei von ihnen in die Beine schießen. Der Vorfall scheint sich in einem Dorf in der Nähe der Stadt Charkiw ereignet zu haben, dessen Rückeroberung die ukrainischen Behörden zwei Tage zuvor angekündigt hatten. Ein am 28. März von einem ukrainischen Journalisten veröffentlichtes Video zeigt drei verkohlte Leichen am selben Ort, aber wer sie sind und wie sie starben, bleibt unklar.
„Alle Informationen in den Videos, die auf Misshandlungen von Kriegsgefangenen und möglicherweise Schlimmeres hindeuten, müssen wirksam untersucht werden“, sagte Aisling Reidy, leitende Rechtsberaterin bei Human Rights Watch. „Es sollte möglich sein, zu überprüfen, ob ein Missbrauch stattgefunden hat, und auf dieser Grundlage die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“.
Ein Berater des ukrainischen Präsidenten, Olexij Arestowych, räumte ein, dass die Misshandlung von Kriegsgefangenen ein Kriegsverbrechen darstellt, und erklärte, dass die Verantwortlichen bestraft würden. „Ich möchte noch einmal alle unsere Soldaten, Zivilisten und Selbstverteidigungseinheiten daran erinnern, dass die Misshandlung von Kriegsgefangenen ein Kriegsverbrechen ist, für das es nach dem Militärrecht keine Amnestie gibt und das nicht verjährt“, schrieb er am Abend des 27. März auf Telegram. „Ich erinnere alle daran, dass wir eine europäische Armee eines europäischen Landes sind. Wir werden die Gefangenen in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention behandeln, unabhängig davon, welche persönlichen emotionalen Beweggründe Sie haben.“
In einem Video, das am selben Tag um 22 Uhr auf YouTube veröffentlicht wurde, erklärte Arestowytsch, dass die Ukraine die Verantwortlichen bestrafen werde, wenn eine Untersuchung ergeben sollte, dass es zu Misshandlungen gekommen sei.
Zwei Videos, die den mutmaßlichen Missbrauch zeigen, wurden am Morgen des 27. März auf Reddit bzw. Twitter veröffentlicht. Ein längeres Video, das später auf YouTube gepostet wurde, enthält dasselbe Bildmaterial wie diese beiden Videos und zusätzlich 1 Minute und 58 Sekunden des Vorfalls.
Das längere Video zeigt fünf Männer in Militäruniform, die mit gefesselten Händen auf dem Boden liegen, zwei von ihnen mit Taschen über dem Kopf. Mindestens drei der Gefangenen scheinen am Bein verwundet zu sein. Ein Traumatologe, der das Video für Human Rights Watch begutachtet hat, sagte, dass die Verletzungen am Oberschenkel und das Blut auf dem Boden auf Schussverletzungen hindeuten.
Nach 2 Minuten und 40 Sekunden ziehen die Kämpfer drei weitere Gefangene aus einem blauen Lieferwagen und schießen ihnen aus nächster Nähe ins Bein. Anschließend schlägt einer von ihnen einem Gefangenen mit einem Gewehrkolben ins Gesicht. Der Traumatologe erklärte, dass dem dritten Gefangenen anscheinend in die Rückseite des Oberschenkels geschossen wurde, und wies darauf hin, dass Oberschenkelfrakturen den Körper schwächen und zu starken Blutungen führen können.
Das Video wurde auf einem Milchbetrieb im Dorf Malaya Rohan aufgenommen, etwa 18 Kilometer östlich des Zentrums von Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Der Ort wurde zunächst von einem Social-Media-Nutzer identifiziert und dann von verschiedenen anderen Personen sowie von Human Rights Watch verifziert.
Die ukrainischen Kämpfer tragen verschiedene Uniformen, Waffen und Ausrüstungsgegenstände, aber keine klar erkennbaren Abzeichen. Es ist unklar, ob diese Personen der regulären Armee, einer territorialen Verteidigungseinheit oder einer anderen Truppe angehören.
Einige der Gefangenen tragen weiße Armbänder und einer von ihnen ein rotes Band, die beide von russischen und pro-russischen Kräften im Ukraine-Krieg getragen werden. Viele der Wächter tragen blaue Armbinden, die häufig von ukrainischen Truppen getragen werden.
Eine Person, die im Video nicht zu sehen ist, beschuldigt die Männer, Charkiw anzugreifen, und spricht auf Russisch mit ukrainischem Akzent. „Fragt Sie nach der Aufklärungsgruppe, wo er sie gesehen hat, ich muss es genau wissen“, fragt die Person aus dem Off. „Wo ist die Gruppe?“
Einige der Gefangenen sind kurz davor, ohnmächtig zu werden. „Der ist weg“, sagt ein Wächter. „Der Nächste.“
An einer Stelle ist eine Person zu hören, die offenbar über ein Militärradio auf Russisch ohne ukrainischen Akzent spricht.
Das Video wurde erstmals am 27. März um 4:29 Uhr Ortszeit in einem Reddit-Thread veröffentlicht. Da das Video bei Tageslicht gefilmt wurde, müsste es am oder vor dem 26. März aufgenommen worden sein. Nach einer Untersuchung des Videos und der Prüfung von Wetterberichten erklärte die BBC, dass das Video am 26. März aufgenommen worden sein könnte.
Am 28. März veröffentlichte der ukrainische Journalist Juri Butusow, Redakteur von Censor.net, ein Video vom gleichen Milchbetrieb, das er nach eigenen Angaben einige Stunden nach dem Ende der Kämpfe in der Region aufgenommen hatte. Es zeigt die stark verbrannten Überreste von drei Personen, die seiner Meinung nach russische Uniformen trugen.
In dem Video, über das auch The Intercept berichtet, sind einige der Gebäude des Bauernhofs durch Explosionen oder Feuer beschädigt. In dem Video mit der mutmaßlichen Misshandlung der Kriegsgefangenen sind diese Gebäude scheinbar nicht beschädigt. Wie die Menschen getötet und die Leichen verbrannt wurden und ob es sich um dieselben Männer wie in den früheren Videos handelt, ist noch nicht bekannt.
Journalist*innen, die Malaya Rohan am 28. März besuchten, berichteten, dass sie die Leichen von zwei russischen Soldaten auf der Straße und zwei weiteren gesehen hätten, die in einen Brunnen geworfen worden waren. Ein befragter ukrainischer Soldat gab an, dass fünf russische Soldaten gefangen genommen worden seien, von denen einer bei einem Fluchtversuch getötet worden sei.
Am 27. März beschuldigte der Kommandeur der ukrainischen Streitkräfte, Valerii Zaluzhnyi, Russland, gefälschte Videos von angeblichen Misshandlungen russischer Kriegsgefangener zu produzieren, um die ukrainischen Streitkräfte zu diskreditieren. „Ich betone, dass sich die Angehörigen der ukrainischen Streitkräfte und anderer legitimer militärischer Formationen strikt an die Normen des humanitären Völkerrechts halten“, schrieb er auf Facebook.
Das Genfer Abkommen III regelt die Behandlung von Kriegsgefangenen, und zwar ab dem Zeitpunkt der Gefangennahme. Dies beinhaltet die Verpflichtung, sie jederzeit human zu behandeln. Es ist ein Kriegsverbrechen, Kriegsgefangene vorsätzlich zu töten, zu misshandeln oder zu foltern oder ihnen vorsätzlich großes Leid oder eine schwere Verletzungen des Körpers oder der Gesundheit zuzufügen. Weiterhin ist es verboten, mittels Folter oder anderer Art von Zwang Informationen jeglicher Art von Kriegsgefangenen zu erpressen.
Repressalien gegen Kriegsgefangene sind strengstens untersagt. Kriegsgefangene dürfen weder für Taten bestraft werden, die sie nicht begangen haben, noch dürfen sie einer Kollektivstrafe unterworfen werden. Verwundete oder kranke Kriegsgefangene sollten die gleiche medizinische Versorgung erhalten wie die Angehörigen der Streitkräfte der Partei, in deren Gewahrsam sie sich befinden. Diese Standards gelten gleichermaßen für russische und ukrainische Kriegsgefangene. Zu den Personen, die Anspruch auf den Kriegsgefangenenstatus haben, zählen Angehörige der Streitkräfte, Mitglieder von Milizen oder ähnlichen Kräften, die bestimmten Bedingungen unterliegen, Personen, einschließlich Journalist*innen, die die Streitkräfte begleiten, ohne ihnen anzugehören, Zivilisten, die „en masse“ zu den Waffen greifen, und andere.
Die Ukraine ist auch an das im Völkerrecht geregelte absolute Verbot von Folter und anderer erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung gebunden, das sowohl im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) als auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert ist, der das Land beigetreten ist.
Anfang März forderte Human Rights Watch die Ukraine auf, sich an ihre Verpflichtung zu halten, Kriegsgefangene nicht öffentlich zur Schau zu stellen, was auch bedeutet, kein Material zu veröffentlichen, in dem einzelne Gefangene erkennbar sind. Insbesondere sollten die ukrainischen Behörden die Veröffentlichung von Videos gefangener russischer Soldaten in sozialen Medien und Messaging-Apps stoppen und verhindern, vor allem solche, die zeigen, wie sie gedemütigt oder eingeschüchtert werden. Human Rights Watch wandte sich am 10. März 2022 schriftlich an den Sicherheitsdienst der Ukraine und das Innenministerium, erhielt jedoch keine Antwort.
Die Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) hat eine Untersuchung möglicher schwerer Kriegsverbrechen im Ukraine-Konflikt eingeleitet, worunter auch Kriegsverbrechen gegen russische Kriegsgefangene fallen. Nach dem Grundsatz der Komplementarität kann der IStGH seine Zuständigkeit für die Verfolgung von Verbrechen ausüben, wenn die ukrainischen Behörden nicht in der Lage oder nicht willens sind, ihre eigenen wirksamen innerstaatlichen Verfahren durchzuführen.
Human Rights Watch hat auch über Verstöße gegen das Kriegsrecht und mutmaßliche Kriegsverbrechen durch die russischen Streitkräfte berichtet, darunter wahllose Angriffe auf Zivilist*innen und zivile Objekte mit Streumunition und anderen Waffen, übermäßige Zerstörung, die militärisch nicht gerechtfertigt ist, sowie das Versäumnis, Zivilist*innen die sichere Flucht aus Kampfgebieten zu ermöglichen.
„Der mögliche Missbrauch von Kriegsgefangenen wäre ein Kriegsverbrechen, das eine wirksame Untersuchung und, sollten sich die Vorwürfe als wahr erweisen, eine strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung durch die Ukraine nach sich ziehen muss“, sagte Reidy. „Der Schutz von Kriegsgefangenen vor allen Konfliktparteien und durch alle Konfliktparteien ist ein grundlegendes Element des Kriegsrechts.“