(Budapest) – Die Europäische Kommission sieht mit ihrer am 22. Oktober 2019 veröffentlichten Einschätzung, Kroatien sei bereit für den Beitritt zum Schengen-Raum, bewusst über die gewaltsame Zurückweisung von Migranten an der kroatischen Grenze hinweg, so Human Rights Watch heute anlässlich der Veröffentlichung eines Videos, das diese Menschenrechtsverletzungen dokumentiert.
Mit ihrem Vorgehen signalisiert die Europäische Kommission, dass schwere Menschenrechtsverletzungen kein Hindernis für eine Aufnahme ins Schengen-Gebiet sind. Statt Kroatien zu belohnen, sollte die Kommission eine Untersuchung einleiten.
„Kroatiens rechtswidrige und gewaltsame Zurückweisung von Migranten und Asylsuchenden sollte das Land vom Beitritt zum Schengen-Raum ausschließen“, so Lydia Gall, Expertin für Osteuropa und den Balkan bei Human Rights Watch. „Wer die Menschenrechtsverletzungen gegen Migranten an Kroatiens Grenzen ignoriert, macht eine hohle Phrase aus der Idee, dass eine Schengen-Mitgliedschaft die Achtung der Menschenrechte voraussetzt.“
Das von Human Rights Watch veröffentlichte Video zeigt Interviews mit Menschen, die kurz zuvor von der kroatischen Polizei nach Bosnien zurückgedrängt wurden. Die Interviews stammen aus dem August. Das Video enthält auch Interviews mit anderen Opfern und Augenzeugen, unter ihnen der Bürgermeister der bosnischen Grenzstadt Bihac. Das Video enthält zudem heimlich gefilmte Aufnahmen, die zeigen, wie kroatische Grenzbeamte Gruppen von Migranten über die Grenze nach Bosnien eskortieren, ohne ihren Schutzanspruch gemäß rechtsstaatlicher Verfahren zu prüfen.
In ihrer Einschätzung bewertet die Europäische Kommission es weiterhin als problematisch, dass die kroatischen Sicherheitskräfte potentiellen Asylsuchenden den Zugang zum Asylverfahren verwehren und dabei auch Gewalt anwenden. Dennoch beurteilt die Kommission die Einrichtung eines Kontrollregimes für das Verhalten der kroatischen Grenzbeamten sowie das Versprechen der kroatischen Regierung, allen Vorwürfen nachzugehen, positiv. Es gebe ausreichende Belege dafür, dass das Land bemüht ist, seine Verpflichtungen beim Schutz der Menschenrechte zu erfüllen.
Die Push-Backs ganzer Gruppen von Asylsuchenden ohne Prüfung ihres Schutzanspruchs widerspricht europäischen Rechtsnormen wie der EU-Grundrechtecharta und der Flüchtlingskonvention von 1951.
Human Rights Watch hat seit 2016 Sammelabschiebungen aus Kroatien nach Serbien und nach Bosnien-Herzegowina dokumentiert. In manchen Fällen setzten die kroatischen Grenzbeamten dabei Gewalt ein: Sie schlugen und traten auf die Migranten ein und zwangen sie zu „Spießrutenläufen“ zwischen den Polizeireihen. Die Gewalt traf auch Frauen und Kinder. Anders als bei rechtskonformen Abschiebungen werden die Migranten nicht zurück an den Ausgangsort ihrer Einreise gebracht, sondern in entlegene Gebiete. Teilweise wurden sie gezwungen, eiskalte Bäche zu durchqueren.
Die von Human Rights Watch geäußerten Bedenken wurden durch den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR), die Menschenrechtskommissarin des Europarats und andere Nichtregierungsorganisationen bestätigt. Obwohl Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarovic im Juli einräumte, dass es zu Push-Backs komme, bestritten die kroatischen Behörden die Vorwürfe wiederholt, auch gegenüber Human Rights Watch. In einigen Fällen warfen sie Hilfsorganisationen und Opfern vor, Sachverhalte zu erfinden, um die kroatische Polizei in ein schlechtes Licht zu rücken.
Die kroatischen Behörden haben keine glaubwürdigen Maßnahmen ergriffen, um die Zurückweisungen zu unterbinden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Bei einem Treffen mit Human Rights Watch im Mai erklärte Terezija Gras, Staatssekretärin im Innenministerium, die Polizei ermittele in jedem Fall, in dem ein Migrant eine Beschwerde wegen Misshandlung durch Polizeibeamte vorbringe. Sie konnte jedoch nicht angeben, wie viele solcher Beschwerden bei den Behörden eingegangen waren. Ebenso wenig vermochte sie zu erklären, wie ein Migrant nach seiner Zwangsrückführung nach Bosnien-Herzegowina in der Lage sein soll, eine Beschwerde bei den kroatischen Behörden einzureichen.
Innerhalb des Schengen-Raums, dem 22 EU-Mitgliedstaaten und 4 Nicht-EU-Staaten angehören, sind Grenz- und Ausweiskontrollen faktisch abgeschafft. Um dem Abkommen beizutreten, muss ein Staat bestimmte, im EU-Recht festgelegte Kriterien erfüllen. Dazu gehört die Achtung des Rechts auf Asyl. Gemäß Artikel 4 des Schengener Grenzkodex müssen Mitgliedstaaten in Einklang mit EU-Recht handeln und „Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Zugang zu internationalem Schutz, insbesondere des Grundsatzes der Nichtzurückweisung [auch non-refoulement, Verbot von Rückführungen in Staaten, in denen Folter, eine grausame, unmenschliche oder herabwürdigende Behandlung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen], sowie der Grundrechte“ einhalten. Die Zurückweisungen verstoßen gegen Artikel 4, da sie in der Praxis die Inanspruchnahme des kroatischen Asylsystems verhindern.
Bevor der Europäische Rat den Bericht der Kommission dazu nutzt, um Kroatiens vollständigen Zugang zum Schengen-Raum zu billigen, sollte er einfordern, dass die Einhaltung des Schengener Grenzkodex durch Kroatien erneut überprüft wird. Der Rat sollte Kroatien auffordern, konkrete Fortschritte bei der Einrichtung eines unabhängigen und wirksamen Kontrollregimes vorzuweisen und Beweise dafür zu liefern, dass die Push-Backs von Migranten und Asylsuchenden und die Anschuldigungen, wonach Grenzbeamte Gewalt gegen Migranten anwenden, gründlich untersucht werden. Die Europäische Kommission sollte angesichts der Verletzung von EU-Bestimmungen durch Kroatien Durchsetzungsmaßnahmen einleiten.
„Sollte die EU Kroatien in den Schengen-Raum aufnehmen, während Asylsuchende weiterhin brutal zurückgewiesen werden, gibt sie grünes Licht für weiteren Missbrauch“, so Gall. „Die Europäische Kommission sollte sich nicht mit Kroatiens leeren Versprechungen begnügen. Sie muss dafür sorgen, dass die Schengen-Kriterien tatsächlich eingehalten werden. Momentan ist das sicherlich nicht der Fall.“