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Sitzung des Deutschen Bundestags in Berlin, 1. Februar 2018. © 2018 Reuters/Axel Schmidt
(Berlin) – Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in Deutschland kann zu ungerechtfertigter Zensur führen, ohne dass dagegen Widerspruch eingelegt werden kann. Es sollte deshalb umgehend aufgehoben werden, so Human Rights Watch heute. Das Gesetz stellt auch einen gefährlichen Präzedenzfall für andere Länder dar, welche die Meinungsfreiheit im Netz einschränken wollen.

„Die Sorgen von Regierungen und der Öffentlichkeit wegen rechtswidriger und menschenrechtsverletzender Inhalte im Netz sind durchaus berechtigt. Aber dieses Gesetz hat grundsätzliche Mängel”, so Wenzel Michalski, Deutschland-Direktor von Human Rights Watch. „Es ist vage formuliert, nicht präzise genug und und macht private Unternehmen zu übereifrigen Zensoren, die horrende Geldstrafen vermeiden wollen. Gleichzeitig haben Online-Nutzer kein Widerspruchsrecht.”

Der Bundestag verabschiedete das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, besser bekannt als  „NetzDG“, am 30. Juni 2017. Am 1. Januar 2018 trat es in Kraft.

Das Gesetz verpflichtet große soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram, Twitter und YouTube, „rechtswidrige Inhalte” umgehend zu löschen. Was dabei als rechtswidrig gilt, ist in  22 Paragraphen des Strafgesetzbuchs festgelegt. Hierbei reicht das Spektrum von Beleidigung gegen Amtsträger bis zur Androhung von Gewalt. Wegen drohender Geldstrafen von bis zu 50 Millionen Euro entfernen Unternehmen bereits jetzt Inhalte, um nicht gegen das neue Gesetz zu verstoßen.

Mit Russland, Singapur und den Philippinen haben mindestens drei Länder das deutsche Gesetz bereits als vorbildhaft bezeichnet, als sie ihre Überlegungen oder Vorschläge zu Gesetzen gegen illegale Online-Inhalte darlegten. Der russische Gesetzentwurf, der derzeit der Duma vorliegt, könnte sowohl große soziale Plattformen als auch Online Messenger-Dienste betreffen.

Zwei Kernpunkte des Gesetzes verstoßen gegen Deutschlands Verpflichtung, die Meinungsfreiheit zu achten. Zum einen verpflichtet das Gesetz große Unternehmen,  die schwierige Entscheidung zu treffen, ab wann Nutzer gegen das Gesetz verstoßen. Selbst für Gerichte kann es eine Herausforderung sein, zu entscheiden, wann ein Inhalt rechtswidrig ist,  da hierzu ein Verständnis des Kontexts, der jeweiligen Kultur und des Gesetzes nötig ist. Für diese Prüfung haben die Unternehmen wenig Zeit und sie riskieren hohe Geldstrafen. Das bietet ihnen nur wenig Anreize, sich im Zweifelsfall für die Meinungsfreiheit zu entscheiden.

Zum anderen gibt es  keine gerichtliche Kontrolle und kein Widerspruchsrecht, falls ein übervorsichtiges Unternehmen gegen die Meinungsfreiheit oder das Recht auf Zugang zu Informationen verstößt. Somit werden die größten Plattformen für Meinungsfreiheit zu „rechenschaftsfreien Zonen“, in denen juristische Überprüfungen durch den Zensurdruck der Regierung umgangen werden.

Gleichzeitig jedoch sollen soziale Medien in Deutschland und in anderen Ländern die Rechte ihrer Nutzer achten und sie vor Menschenrechtsverletzungen durch andere schützen. Zu solchen Schutzmaßnahmen gehören Nutzungsvereinbarungen, in denen festgelegt ist, welche Inhalte nicht erlaubt sind, ein System, um bedenkliche Inhalte zu melden, sowie die Bereitstellung ausreichender Ressourcen, um umstrittene Inhalte mit entsprechenden Experten für die Region und die jeweilige Sprache zu prüfen. Zudem sollen Nutzer Widerspruch einlegen können, wenn sie der Meinung sind, dass ihre Inhalte zu Unrecht gesperrt oder entfernt wurden. Gewaltandrohung, Verletzung der Privatsphäre und massive Belästigung richten sich häufig gegen Frauen und Minderheiten und können Menschen aus dem Internet vertreiben oder sogar zu körperlichen Angriffen führen.

Die Kritik am NetzDG ist über die letzten sechs Wochen immer lauter geworden, nachdem Inhalte einiger bekannter Nutzer blockiert oder ihre Konten vorübergehend gesperrt wurden. Dabei waren einige dieser Vorfälle auf Verstöße gegen die jeweilige Benutzerordnung zurückzuführen und nicht auf das NetzDG.

Zu den Nutzern, deren Inhalte entweder durch das NetzDG zensiert oder wegen Verstößen gegen die jeweiligen Nutzungsbedingungen entfernt wurden, gehören die stellvertretende Vorsitzende der AfD, das Satiremagazin Titanic und die Street Art- und Aktionskünstlerin Barbara. Inhalte von vielen weniger bekannten Nutzern wurden möglicherweise unberechtigterweise gesperrt oder entfernt, sei es auf der Grundlage des NetzDG oder wegen Verstößen gegen die Nutzerordnung.

Vier der im Bundestag vertretenen Parteien sind gegen das neue Gesetz: die Linke, die auch gegen das Gesetz gestimmt hat, FDP und AfD, die beide zum Zeitpunkt der Abstimmung nicht im Parlament vertreten waren, sowie die Grünen, die sich bei der Abstimmung enthalten haben. Ein führendes Mitglied der CSU, die als Teil der Regierungskoalition den Gesetzesvorschlag miteingebracht hatte, hat sich nun auch gegen das Gesetzt ausgesprochen.

Bundeskanzlerin Merkel verteidigte das Gesetz, sagte jedoch: „Es kann sein, dass wir hier auch Veränderungen vornehmen müssen.“ Der Koalitionsvertrag zwischen Merkels CDU, der CSU und der SPD für eine neue Regierung, der am 7. Februar veröffentlicht wurde, nennt das NetzDG einen „korrekten und wichtigen Schritt“, weist aber auch darauf hin, dass die Regierung Möglichkeiten prüfen wird, das Gesetz „weiterzuentwickeln“.

Viele Organisationen, die sich für die Menschenrechte und die Medienfreiheit einsetzen, waren vom ersten Entwurf an gegen das neue Gesetz. Die Global Network Initiative, eine Koalition von Nichtregierungsorganisationen, Akademikern, Investoren und Unternehmen, die sich für die Meinungsfreiheit und Privatsphäre im Netz einsetzt, sagte, das Gesetz würde Entscheidungen über die Meinungsfreiheit an private Unternehmen auslagern. In einem offenen Brief an acht EU-Kommissare sagte eine Gruppe von sechs zivilgesellschaftlichen Organisationen und Industrieverbänden, das Gesetz würde der Meinungsfreiheit im Netz massiv schaden, da es Unternehmen dazu ermutigen würde, gemeldete Inhalte zu löschen. Die britische Menschenrechtsorganisation Article 19, die sich für die Meinungsfreiheit einsetzt, kritisierte das Gesetz, weil es die Meinungsfreiheit in Deutschland massiv beeinträchtige und schon jetzt ein gefährliches Vorbild für andere Länder sei.

Der UN-Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Meinungsfreiheit David Kaye sagte, der Gesetzentwurf sei nicht im Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards. Die Regierung verteidigte daraufhin das Gesetz und zitierte hierbei Änderungen an dem Entwurf, den Kaye geprüft hatte, so etwa eine größere Flexibilität bei den Fristen, um Inhalte zu entfernen. Zudem wurde auf die „Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung“ verwiesen, um komplexe Fälle zu prüfen. Kayes Hauptsorge, das Gesetz würde die Verantwortung zur Regulierung der Meinungsfreiheit auf private Unternehmen übertragen, bleibt jedoch weiter bestehen.

„Mit dem NetzDG untergräbt Deutschland die Meinungsfreiheit im eigenen Land. Das Gesetz ist auch ein beunruhigendes Vorbild für andere Länder, welche die künstlerische Freiheit, Gesellschaftskritik, politischen Aktivismus oder unabhängigen Journalismus unterdrücken wollen”, so Michalski. „Es ist höchst problematisch, wenn Unternehmen in demokratischen Staaten gezwungen werden, Zensur für die Regierung zu betreiben. Passiert dies in Ländern ohne einen starken Rechtsstaat, dann ist das höchst gefährlich.”

Ein mangelhaftes Gesetz

Gemäß dem NetzDG müssen Unternehmen mit mehr als zwei Millionen registrierten Nutzern in Deutschland ein effektives und transparentes Verfahren einführen, um Beschwerden zu mutmaßlich rechtswidrigen Inhalten erhalten zu können und zu prüfen. „Offensichtlich rechtswidrige Inhalte“ müssen grundsätzlich innerhalb von 24 Stunden ab Eingang der Beschwerde gesperrt oder entfernt werden. Sollten weitere Ermittlungen nötig sein, haben sie bis zu einer Woche und unter Umständen auch länger Zeit. Besonders komplexe Fälle können die Unternehmen an eine von der Industrie finanzierte, aber von der Regierung anerkannte Einrichtung verweisen, die ihrerseits innerhalb von 7 Tagen über die Rechtswidrigkeit des gemeldeten Inhalts entscheiden muss. Die Regierung hat bislang noch keine Kriterien für die Anerkennung einer solchen Einrichtung festgelegt und kann diese auch nach Belieben ändern.

Die Unternehmen müssen die Nutzer über alle Entscheidungen informieren, die aufgrund von Beschwerden getroffen wurden, und diese auch begründen. Das Gesetz sieht jedoch keine gerichtliche Aufsicht und keine rechtlichen Widerspruchsmöglichkeiten vor, sollten Nutzer mit einer Entscheidung der Unternehmen oder der Prüfeinrichtung nicht einverstanden sein, bestimmte Inhalte zu sperren oder zu entfernen.

Gemäß dem neuen Gesetz kann das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Geldstrafen von bis zu 5 Millionen Euro gegen Einzelpersonen und bis zu 50 Millionen Euro gegen Unternehmen verhängen, die kein entsprechendes Überwachungssystem einführen oder den im Gesetz geforderten Halbjahresbericht zu ihren Aktivitäten nicht veröffentlichen. Die Höhe der Geldstrafe hängt von der Schwere des Verstoßes und der Nutzeranzahl der jeweiligen Plattform ab. Das Ministerium hat jedoch noch keine detaillierte Staffelung veröffentlicht.

Reaktionen der Unternehmen

Um nicht gegen das neue Gesetz zu verstoßen, haben soziale Medien neue Mechanismen eingeführt, um mutmaßlich rechtswidrige Inhalte zu melden. Zudem gibt es nun Angestellte, die diese Berichte prüfen. Diese neuen Prüfer verstärken die Teams, die bis jetzt bereits die Aufgabe hatten, die Einhaltung der Nutzungsbedingungen zu überwachen.

Google, zu dem YouTube gehört, kündigte im Dezember 2017 an, im nächsten Jahr die Zahl der Mitarbeiter auf über 10.000 aufzustocken, die prüfen, ob Inhalte gegen die Richtlinien des Unternehmens verstoßen.

Facebook gab Human Rights Watch gegenüber an, 10.000 sog. Content Reviewers weltweit zu beschäftigen. Diese seien entweder direkt bei Facebook oder durch Subunternehmer angestellt und arbeiteten u.a. in zwei Zentren in Deutschland. Ihre Aufgabe ist es hauptsächlich, Verstöße gegen die „Community Standards” zu überwachen. Doch sie prüfen ebenso Verstöße gegen das NetzDG.

Beide Unternehmen, wie auch Twitter, haben spezielle Meldeformulare für das NetzDG. Sie sollen dabei helfen, potentielle Verstöße gegen das Gesetz zu prüfen und Daten für die vorgeschriebenen Halbjahresberichte zu sammeln.

Ein entscheidender Unterschied zwischen dem Melden eines Verstoßes gegen die Nutzungsbedingungen und eines Verstoßes gegen das NetzDG besteht im Widerspruchsrecht. Beim ersteren bieten Facebook, YouTube und Twitter den Nutzern die Gelegenheit, einer Entscheidung des Unternehmens zu widersprechen. Bei einem Verstoß gegen das neue Gesetz sind die Unternehmen jedoch nicht verpflichtet, ein Widerspruchssystem einzurichten, und haben dies bislang auch nicht getan.  

Dominoeffekt

Das Gesetz hat einen Präzedenzfall geschaffen, der besondere Aufmerksamkeit verdient. Regierungen auf der ganzen Welt beabsichtigen, die Meinungsfreiheit im Netz einzuschränken, indem sie soziale Medien zwingen, als ihre Zensoren zu agieren. Die folgenden Beispiele verdeutlichen dies:

  • In Singapur, einem Land, in dem Gesetze bereits häufig zur Einschränkung der Meinungsfreiheit genutzt werden, zitiert die Regierung das deutsche Gesetz als positives Beispiel, da es Mittel und Wege vorschlage, gegen „Fake News“ vorzugehen.
  • Auf den Philippinen wurde im Kongress im Juni der Act Penalizing the Malicious Distribution of False News and Other Related Violations eingebracht, der auf das NetzDG verweist. Dieser Entwurf schlägt Geldstrafen für soziale Medien vor, die Falschmeldungen oder falsche Informationen nicht „innerhalb eines angemessenen Zeitraums“ entfernen. Den verantwortlichen Einzelpersonen soll eine Gefängnisstrafe drohen. Der Gesetzentwurf liegt derzeit dem Ausschuss für öffentliche Informationen und Medien vor und ist eine der Maßnahmen, die derzeit in einer Anhörung des philippinischen Senats diskutiert werden, um „Fake News“ zu bekämpfen. 
  • In Russland hat die regierende Partei „Einiges Russland” zwei Gesetzentwürfe zur Regulierung von Online-Inhalten bei der Duma eingereicht. Mit direktem Bezug auf das NetzDG fordert einer dieser Entwürfe soziale Plattformen mit mehr als zwei Millionen registrierter Nutzer sowie andere „Organisationen zur Informationsverbreitung“ in Russland dazu auf, bestimmte rechtswidrige Inhalte innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer Beschwerde zu entfernen. Zu diesen Inhalten gehören Kriegspropaganda oder Inhalte, die zum Hass aufgrund von Nationalität, Rasse oder Religion aufrufen, welche die Ehre, die Würde oder den Ruf einer Person schädigen oder deren Verbreitung gegen öffentliches Recht oder Strafrecht verstößt. Das zweite Gesetz sieht eine Geldstrafe von 3 bis 5 Millionen Rubel (ca. 40.000-70.000 EUR) für Einzelpersonen und 30 bis 50 Millionen Rubel (ca. 400.000-700.000 EUR) für Unternehmen vor, sollten rechtswidrige Inhalte nicht entfernt werden. Der erste Entwurf befindet sich zurzeit in der ersten Anhörungsphase, der zweite wird derzeit noch geprüft.
  • In Venezuela hat die regierungstreue verfassungsgebende Versammlung am 8. November das „Anti-Hate Law for Peaceful Coexistence and Tolerance” verabschiedet. Neben anderen Bestimmungen, welche die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einschränken, sieht das Gesetz hohe Geldstrafen für soziale Medien vor, die Inhalte nicht innerhalb von sechs Stunden entfernen, die „zu Krieg anstiften oder zum Hass aufgrund Nationalität, Rasse oder Religion oder aus anderen Gründen anstacheln.“
  • In Kenia hat die Kommunikationsbehörde im Juli Richtlinien veröffentlicht, nach denen soziale Medien Nutzerkonten schließen müssen, über welche „unerwünschte politische Inhalte” verbreitet würden. Dies muss innerhalb von 24 Stunden geschehen, nachdem die entsprechenden Inhalte gemeldet worden waren. Es ist jedoch noch niemand hierfür belangt worden. Unerwünschte Inhalte sind u.a. politische Botschaften, die anstößig, menschenrechtsverletzend, beleidigend, irreführend oder obszön sind oder die eine blasphemische Sprache verwenden.
  • In Europa rief die EU-Kommission soziale Plattformen dazu auf, mehr Verantwortung zu übernehmen, rechtswidrige Inhalte zu identifizieren und zu löschen. So schlug sie u.a. einen Verhaltenscodex für IT-Unternehmen vor. Die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens haben einen gemeinsamen Aktionsplan ausgearbeitet, um Onlinematerial effektiver zu identifizieren und zu löschen, das die Behörden als terroristisch, radikal oder hassmotiviert einstufen. Zu den Vorschlägen gehört es, Unternehmen dazu zu drängen, die Identifikation rechtswidriger Inhalte zu automatisieren und deren Sperrung und Entfernung zu beschleunigen. Zudem sollen die Unternehmen den Behörden Zugang zu verschlüsselten Inhalten gewähren.
  • In Großbritannien rief Premierministerin Theresa May große soziale Medien kürzlich dazu auf, mehr zu tun, um terroristische Inhalte zu identifizieren und zu löschen. Einer ihrer Minister forderte Steuerstrafen für Technologieunternehmen, die entsprechende Inhalte nicht umgehend löschen oder der Regierung den Zugang zu verschlüsselten Nachrichten verweigern.

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