Das strenge Eingreifen der türkischen Regierung an den Universitäten, gekoppelt mit einem strikten Kopftuchverbot für Studenten und Dozenten, unterdrückt die akademische Freiheit, sagte Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befasst sich heute mit den Fällen zweier türkischer Studentinnen, die wegen des Tragens eines Kopftuches von der Hochschule ausgeschlossen wurden.
Der 46-seitige Bericht analysiert das staatlich verhängte Kopftuchverbot an türkischen Universitäten. Außerdem wird darin die dominierende Rolle des Türkischen Hochschulrates (Yuksek Ogretim Kurulu, oder YÖK), der vom Militär nach dem Putsch von 1980 gebildet wurde, erörtert.
Trotz der, im Rahmen einer Verfassungsänderung im Mai, willkommenen Entlassung eines Kandidaten des Militärs vom Hochschulrat, drückt das Militär weiterhin öffentlich seine strenge Haltung über Bildungsrichtlinien aus und wendet sich strikt gegen jede Infragestellung des Kurses des Hochschulrates zum Universitätssystem.
„Die türkische Regierung hat immer noch nicht den Zwang und die Selbstzensur beendet, die das akademische Leben bestimmen“, sagte Rachel Denber. „Professoren werden weiterhin für ihre Kritik an Staatspraktiken zur Rechenschaft gezogen“.
Das jüngste Beispiel ist die Entlassung der Professorin, Şebnem Korur Fincanci, Direktorin der Abteilung für Gerichtsmedizin an der Istanbuler Universität im April, weil sie sich kritisch über die Bemühungen der staatlichen Abteilung für Gerichtsmedizin, Folter zu bekämpfen, geäußert hatte.
Der Bericht von Human Rights Watch untersucht das staatlich auferlegte Kopftuchverbot, das Tausende Frauen von höherer Bildung ausschließt. Hunderte weitere wurden von ihren Lehrstühlen suspendiert oder entlassen.
Die Umsetzung des Verbots wurde seit 1997 verstärkt, als das Militär der damaligen Regierung ein Ultimatum stellte. Unterstützer der führenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei würden es begrüßen, wenn die Regierung das Verbot aufheben würde. Die Regierung wagt es aber nicht, das Militär in dieser sensiblen Frage herauszufordern. Das Militär betrachtet die Kopftuchfrage als einen Prüfstein der modernen, säkularen Identität des türkischen Staates.
Der Bericht von Human Rights Watch betrachtet den historischen, sozialen und politischen Kontext der Kopftuchfrage. Sie wird in der Türkei noch kontroverser diskutiert, als im restlichen Europa. Viele Säkularisten in der Türkei glauben, dass die religiösen Parteien planen, den Säkularismus Stück für Stück zu beseitigen, wobei das Kopftuch der erste Schritt ist.
Human Rights Watch ist der Meinung, dass das Kopftuchverbot eine ungerechtfertigte Verletzung des Rechtes auf Ausübung der Religionsfreiheit darstellt. Außerdem ist die Kleiderordnung diskriminierend und verletzt das Recht auf Bildung, Meinungs- und Religionsfreiheit und Privatsphäre.
Die türkische Regierung verhängte das Kopftuchverbot im Namen des Säkularismus als Schutz einer anerkannten Gefahr: Das Eindringen des Islam in die Politik. Tatsächlich aber ist der Schutz der Religionsfreiheit vollkommen vereinbar mit dem Säkularismus in staatlichen Institutionen. Das Tragen verschiedener Kopfbedeckungen sagt nichts darüber aus, ob staatliche Autoritäten irgendeine bestimmte Religion befürworten und bedarf auch keiner zusätzlichen staatlichen Mittel.
Vielmehr unterstreicht der Schutz der Religionsfreiheit den Respekt unterschiedlichster religiöser Ausrichtungen, worauf der Säkularismus öffentlicher Institutionen basiert. Studenten dazu zu verpflichten oder ihnen zu verbieten, sichtbare religiöse Kleidung zu tragen, ist ein Pflichtversäumnis des Staates, keinen Zwang auf den Religionsglauben auszuüben.
Kopftücher stellen weder eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit, Gesundheit, Ordnung oder Moral dar, noch verletzen sie die Rechte anderer, so Human Rights Watch. Außerdem stellen Kopftücher selbst keine Gefahr dar, stören nicht die öffentliche Ordnung und untergraben auch nicht erzieherische Funktionen.
„Die türkischen Autoritäten sagen, sie wollen die Frauen schützen, die sich dagegen entscheiden, ein Kopftuch zu tragen,“ sagte Denber. „Wenn aber Frauen aufgrund ihrer Kleidung von höherer Bildung ausgeschlossen werden, ist das ein fragwürdiger Weg, die Freiheiten der Frauen zu schützen.“
Human Rights Watch fordert die Regierung auf, das Kopftuchverbot so schnell wie möglich aufzuheben. Dies könnte ein Teil einer Langzeitstrategie sein, um die Mängel im Schutz von Frauen aufzuheben und ihren Zugang zu Bildung und Arbeit zu verbessern. Ein ähnlicher Vorschlag wurde bereits vom UN-Komitee zur Beendigung der Diskriminierung von Frauen gemacht.
Einige türkische Studentinnen, die vom Studium wegen des Tragens eines Kopftuches ausgeschlossen wurden, haben Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der sich heute damit befasst, eingelegt. Die Studentinnen behaupten, dass nach der Europäischen Menschenrechtskonvention das Kopftuchverbot ihre Religionsfreiheit, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und ihre Privatsphäre verletzt. Außerdem sei es diskriminierend. Die jüngsten Entscheidungen des Gerichtshofs bestätigen das Recht der Regierungen, das Tragen von Kopftüchern „im Interesse der öffentlichen Sicherheit, dem Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ einzuschränken.
Der Bericht von Human Rights Watch stellt die Annahme in Frage, dass die Ausweitung von Rechten und Freiheiten streng gläubiger Moslems zwangsläufig die Rechte von Nichtmoslems und Säkularisten einschränken würde. Der Bericht unterstreicht außerdem die Bemühungen von Gruppen innerhalb der türkischen Gesellschaft, die sich für den pluralistischen Standpunkt aussprechen, um sicherzustellen, dass Frauen in der Lage sind, ihre eigenen Entscheidungen bezüglich des Kopftuches zu treffen.