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Ein Untersuchungsgefängnis in der Teploenerhetykiv-Straße im ukrainischen Cherson, das von den russischen Streitkräften zur Folter von Zivilpersonen genutzt wurde. © 2022 Roman Baklazhov
  • Es sind neue Beweise dafür aufgetaucht, dass russische Streitkräfte während ihrer Besetzung des Gebiets zwischen März und November 2022 Menschen in einem Folterzentrum und in anderen Einrichtungen in Cherson und Umgebung unrechtmäßig festgehalten und gefoltert haben.
  • Es ist ein Kriegsverbrechen, Zivilpersonen oder gefangene Kombattanten vorsätzlich zu misshandeln, zu foltern oder zu töten, ihnen vorsätzlich großes Leid oder schwere Verletzungen zuzufügen oder sie unrechtmäßig zu verschleppen oder zu verlegen.
  • Die Verantwortlichen für diese schrecklichen Taten sollten nicht ungestraft bleiben, und die Opfer und ihre Familien müssen für ihr Leid entschädigt werden und Informationen über ihre Angehörigen erhalten, die noch als vermisst gelten.  

(Kiew, 13. April 2023) - Russische Streitkräfte haben während ihrer Besetzung der Stadt Cherson und der Umgebung zwischen März und November 2022 Einwohner*innen unrechtmäßig inhaftiert und gefoltert, so Human Rights Watch.

Die Opfer und ihre Familienangehörigen berichteten Human Rights Watch von Folter und anderen Misshandlungen in einem Untersuchungsgefängnis in der Teploenerhetykiv-Straße in Cherson, das von den Anwohner*innen als „Loch“ bezeichnet wurde, sowie in einer Haftanstalt in der Perekopska-Straße und in behelfsmäßigen Einrichtungen im Gebäude der Stadtverwaltung, in einer Dorfschule und einem Flughafenhangar. Ehemalige Gefangene berichteten durchweg von ähnlichen Formen der Misshandlung, darunter schwere Schläge mit Stöcken und Gummiknüppeln, Elektroschocks, Drohungen, verstümmelt oder getötet zu werden, sowie das erzwungene Verharren in schmerzhaften Positionen. Die Gefangenen erhielten keine angemessene medizinische Versorgung.

„Die russischen Besatzungstruppen haben im Folterzentrum in der Teploenerhetykiv-Straße und in zahlreichen anderen Haftanstalten Einwohner*innen von Cherson brutal gefoltert und misshandelt“, sagte Yulia Gorbunova, leitende Ukraine-Forscherin bei Human Rights Watch. „Die Verantwortlichen für diese schrecklichen Taten dürfen nicht ungestraft bleiben, und die Opfer und ihre Familien müssen für ihr Leid entschädigt werden und Informationen über ihre Angehörigen erhalten, die noch als vermisst gelten.“

Human Rights Watch befragte 34 Personen zu den Misshandlungen von Zivilist*innen während der russischen Besetzung der Region Khersonska vom 2. März 2022 bis zum Abzug der russischen Streitkräfte aus einem Großteil des Gebiets am 11. November. Zwölf ehemalige Gefangene und 10 Familienangehörige berichteten, dass sie gefoltert wurden oder die Folterung anderer Gefangener miterlebten, die in drei gemeldeten Fällen zu deren Tod führte. Diese Gespräche über Folter folgten auf Dutzende Interviews, die Human Rights Watch mit Bewohner*innen der Region Cherson in den ersten Monaten der Besatzung für einen Bericht vom Juli 2022 geführt hat.

Die russischen Streitkräfte in Cherson gingen während der gesamten Besetzung stets nach dem gleichen Muster gegen die Zivilbevölkerung vor. Sie führten rabiate Hausdurchsuchungen durch und nahmen dann eine oder mehrere Personen, die im jeweiligen Haus wohnten, aufgrund verschiedener Vorwürfe fest. Mehrere Festgenommene berichteten, dass die russischen Streitkräfte sie oder ihre Angehörigen, darunter auch ältere Menschen, schlugen und bedrohten. Die russischen Soldaten bedeckten dann die Augen oder den Kopf der Festgenommenen mit einer Mütze oder einem Beutel und zwangen sie in ein Fahrzeug. Anschließend wurden sie in eines der über 20 Haftzentren in und um Cherson gebracht.

Fast alle in jüngster Zeit in Cherson dokumentierten Folterfälle betrafen Personen, die in der Untersuchungshaftanstalt in der Teploenerhetykiv-Straße 3 festgehalten wurden. Eine Person wurde auch in behelfsmäßigen Hafteinrichtungen am internationalen Flughafen von Cherson und im Gebäude der Stadtverwaltung von Cherson festgehalten. Eine andere Person gab an, dass ihr Zellengenosse zuvor in einem Untersuchungsgefängnis in der Perekopska-Straße 10 festgehalten worden war, wo die BBC und andere Medien über Folterungen durch die russischen Besatzungstruppen berichteten. Ein anderer ehemaliger Häftling, der etwa 120 Kilometer von Cherson entfernt entführt wurde, sagte, er sei in einem 6 m² kleinen Lagerraum einer Dorfschule festgehalten worden.

Human Rights Watch hat bereits zuvor Fälle von Folter an Gefangenen, darunter auch an ukrainischen Kriegsgefangenen der Territorialverteidigung, im ehemaligen Gebäude der Nationalen Polizeidirektion in der Liuteranska-Straße 4 (früher Kirowa-Straße) dokumentiert.

Ein ehemaliger Gefangener, der in der Teploenerhetykiv-Straße festgehalten wurde, sagte: „Es waren fünf Männer.... Sie wurden alle verprügelt. Einem wurde ins Bein geschossen, ein anderer hatte eine gebrochene Rippe. Wir hörten die Schreie [von misshandelten Menschen] den ganzen Tag und die ganze Nacht. Die Leute schrien nachts um 3 Uhr und sie schrien am Abend.... Niemand wurde medizinisch versorgt.“

Das russische Wachpersonal demütigte die Gefangenen zudem, indem es sie unter Androhung von Schlägen zwang, pro-russische Parolen zu rufen, die russische Nationalhymne und patriotische Lieder zu hören und zu singen bzw. den Sängern zu applaudieren.

Die meisten der Familienmitglieder, mit denen Humann Rights Watch sprach, gaben an, dass sie keine Informationen über den Aufenthaltsort ihrer Angehörigen erhielten, was aber nach dem internationalen Besatzungsrecht vorgeschrieben ist. Viele suchten verzweifelt und versuchten, ihren Angehörigen Pakete mit Lebensmitteln und anderen lebenswichtigen Dingen zukommen zu lassen, ohne zu wissen, ob diese sie tatsächlich erreichen würden.

Inhaftierte und Familienangehörige berichteten, dass die russischen Besatzungsbehörden sie bzw. ihre Angehörigen in Gewahrsam nahmen, weil sie sich tatsächlich oder mutmaßlich freiwillig engagierten, die ukrainischen Streitkräfte oder die Regierung aktiv unterstützten bzw. ihre Unterstützung zum Ausdruck brachten oder weil sie an den Operationen der ukrainischen Sicherheitskräfte in der Donbass-Region 2014 teilgenommen hatten.

Eine Frau berichtete, dass die russischen Streitkräfte sie festhielten, weil sie ihren Ehemann nicht ausfindig machen konnten. Sie hielten sie als Geisel fest, bis ihr Mann sich am nächsten Tag stellte.

Als das ukrainische Militär im November 2022 Cherson zurückeroberte, nahmen die russischen Streitkräfte, die sich auf das linke Ufer des Flusses Dnipro zurückzogen, einige inhaftierte Zivilist*innen ohne grundlegende Schutzvorkehrungen mit und verlegten sie unrechtmäßig. Darunter befanden sich auch drei Männer, deren Familienangehörige von Human Rights Watch interviewt wurden. Zwei von ihnen wurden freigelassen, durften aber die noch besetzten Gebiete nicht verlassen. Die Russen haben auch eine inhaftierte Aktivistin rechtswidrig von Cherson nach Simferopol auf der russisch besetzten Krim verlegt und gewaltsam verschwinden lassen. Die russischen Behörden haben keine Informationen über ihren Verbleib preisgegeben und sie ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand in Isolationshaft gehalten.

Die ukrainischen Behörden haben Fälle von unrechtmäßiger Inhaftierung, Folter und anderen Misshandlungen in Cherson und der umliegenden Region während der russischen Besetzung untersucht. Eugen Tereshenko, Staatsanwalt in der Abteilung für Kriegsverbrechen in der Region Cherson, schätzt, dass in diesem Zeitraum 4.000 bis 5.000 Fälle von inhaftierten Zivilist*innen registriert wurden, die tatsächliche Zahl dürfte jedoch wesentlich höher liegen.

Es ist ein Kriegsverbrechen, Zivilist*innen oder gefangene Kombattanten in Gewahrsam vorsätzlich zu misshandeln, zu foltern oder zu töten, ihnen vorsätzlich großes Leid oder schwere körperliche oder gesundheitliche Schäden zuzufügen oder sie unrechtmäßig zu verschleppen oder zu verlegen.

„Fünf Monate nach dem Rückzug der russischen Streitkräfte aus Cherson und den umliegenden Gebieten kratzen wir immer noch nur an der Oberfläche ihrer Gräueltaten, und die Behandlung der ukrainischen Zivilist*innen in den besetzten Gebieten wird immer besorgniserregender“, sagte Gorbunowa. „Die Militärs entlang der gesamten Befehlskette sollten wissen, dass sie für jedes Verbrechen, das sie begehen, zur Rechenschaft gezogen werden.“

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