(New York) – Chinesische Behörden haben ihre Polizeikontrollen in vielen Städten und Dörfern der Autonomen Region Tibet (TAR) erheblich verstärkt. Bei diesen Kontrollen komme es unter anderem zur willkürlichen DNA-Entnahme, so Human Rights Watch heute.
Verfügbare Informationen deuten darauf hin, dass die dort lebenden Menschen der Entnahme ihrer DNA nicht widersprechen können und dass die Polizei solche Entnahmen auch ohne konkrete Beweise für eine Straftat durchführen darf. In einem Bericht der Stadtverwaltung von Lhasa vom April 2022 heißt es, dass systematisch Blutproben für die DNA-Entnahme von Kindern in Kindergärten und von anderen Anwohner*innen genommen werden. Aus einem Bericht einer tibetischen Gemeinde in der Provinz Qinghai vom Dezember 2020 geht hervor, dass von allen Jungen ab dem fünften Lebensjahr DNA-Proben genommen wurden.
„Die chinesische Regierung setzt die Menschen in Tibet bereits systematischer Repression aus“, sagte Sophie Richardson, China-Direktorin bei Human Rights Watch. „Nun nehmen die Behörden [ihnen] sprichwörtlich das Blut ohne Einwilligung, um ihren Überwachungsapparat zu festigen.“
Diese massenhaften DNA-Entnahmen finden offenbar in allen sieben Präfekturen oder Großgemeinden der TAR statt, die den westlichen Teil der tibetischen Hochebene ausmacht. Es gibt keine öffentlich zugänglichen Hinweise darauf, dass Menschen diese Maßnahme ablehnen können oder dass der Polizei glaubwürdige Beweise für kriminelle Handlungen vorliegen, die eine solche Maßnahme rechtfertigen könnten. Aus den von Human Rights Watch untersuchten Berichten geht hervor, dass von allen Bewohner*innen dieser Gebiete, einschließlich derer, die sich nur vorübergehend dort aufhielten, DNA-Proben entnommen werden sollten. In keinem der Berichte werden Möglichkeiten für Bewohner*innen genannt, die Probenentnahme zu verweigern.
Human Rights Watch liegen Berichte über derartige Aktionen in 14 verschiedenen Orten (1 Präfektur, 2 Landkreisen, 2 Städten, 2 Gemeinden und 7 Dörfern) in den sieben Präfekturen der TAR vor, was darauf hindeutet, dass in der gesamten Region bereits DNA-Proben entnommen werden oder Entnahmen geplant sind. Aus öffentlichen Ausschreibungsunterlagen geht hervor, dass die Polizei der TAR im Juli 2019 Angebote für den Aufbau eines regionalen DNA-Registers einholte, was ein weiteres Indiz dafür ist, dass die Beamt*innen eine Aktion in der ganzen Region vorbereiteten. Im November 2019 kündigte die Polizei in Nyingtri, einer Präfektur in der TAR, ebenfalls den Aufbau einer DNA-Datenbank für das Gebiet an.
Die DNA-Entnahme in der Großgemeinde Chamdo, einer weiteren der sieben Regionen, wurde mit der „verbesserten Nachverfolgung und Unterstützung bei der Ergreifung flüchtiger Personen“ gerechtfertigt. Auch in anderen Gebieten der Region wurde den Einwohner*innen mitgeteilt, dass die Sammlung von DNA-Daten zur allgemeinen Verbrechensaufklärung erforderlich sei. In einem offiziellen Bericht heißt es, die Massenerfassung sei notwendig, „damit die Organe der öffentlichen Sicherheit verschiedene illegale Fälle aufdecken und wirksam gegen illegale und kriminelle Elemente vorgehen können“.
Researcher*innen, die außerhalb von China aktiv sind, erklärten im Jahr 2020, dass schon 2013 mit der massenhaften Sammlung von Gendaten in der TAR begonnen worden sei. Ihre Behauptung basiert auf offiziellen Nachrichtenberichten über ein Programm der chinesischen Regierung zur Durchführung von Massengesundheitschecks mit der Bezeichnung „Untersuchungen für alle“, das 2013 in der TAR eingeführt wurde. Erklärtes Ziel des Programms ist es, die Gesundheitsversorgung zu verbessern. In Xinjiang nutzten die Behörden es jedoch, um heimlich massenhaft DNA-Daten von Einwohner*innen im Alter von 12 bis 65 Jahren zu sammeln. Das geht aus einem offiziellen Dokument hervor, das Human Rights Watch 2017 erhielt. Human Rights Watch hat keine Informationen, die darauf hindeuten, dass die Behörden in der TAR solche Programme zur DNA-Entnahme eingesetzt haben.
Auch in anderen Teilen Chinas hat die Polizei seit Anfang der 2010er Jahre im großen Stil DNA-Proben entnommen. Die verfügbaren Informationen deuten jedoch darauf hin, dass sich diese Aktionen entweder auf Teilgruppen der Bevölkerung beschränken, die die Polizei als problematisch betrachtet, wie etwa Migrant*innen, ehemalige Häftlinge, Tatverdächtige und andere soziale Gruppen, die von den Sicherheitsbehörden als „Fokuspersonen“ eingestuft werden, oder seit 2017 auf ein Polizeiprogramm in ganz China, das Gendaten von schätzungsweise 8,1 bis 26,4 Prozent aller männlichen Personen im Land erhoben hat.
Der Zwang zur Abgabe von Blutproben oder die Entnahme von Blutproben ohne eine freie, im Vollbesitz der geistigen Kräfte abgegebene und informierte Einwilligung oder Rechtfertigung kann die Privatsphäre, die Würde und das Recht auf körperliche Unversehrtheit einer Person verletzen. Unter bestimmten Umständen kann dies auch eine erniedrigende Behandlung darstellen. Die zwangsweise Entnahme von DNA-Proben aus einer ganzen Region oder Bevölkerungsgruppe zur Wahrung der Sicherheit ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, da sie weder notwendig noch verhältnismäßig ist.
Das Recht auf Achtung der Vertraulichkeit medizinischer Informationen ist gleichzeitig ein Kernprinzip des Rechts auf Gesundheit. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) hat Staaten empfohlen, „alle Gesundheitseinrichtungen, -güter und -dienstleistungen so zu gestalten, dass die Vertraulichkeit gewahrt bleibt“. Während das Recht auf Privatsphäre keine absolute Vertraulichkeit medizinischer Informationen vorsieht, muss ein Eingriff in oder eine Verletzung der Vertraulichkeit nach strengen Maßstäben gerechtfertigt sein. Dies ist nicht der Fall, wenn auf diese Weise erhobene Daten routinemäßig mit der Polizei und jeder anderen Behörde mit Zugang zu der Datenbank geteilt werden sollen.
DNA-Informationen sind hochsensibel und können eine Vielzahl missbräuchlicher Nutzungen begünstigen, wenn sie ohne Zustimmung gesammelt oder weitergegeben werden. Jede zwangsweise Sammlung oder Verwendung durch die Regierung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Privatsphäre dar. Auch wenn die Erhebung von Gendaten durch die Regierung in einigen Fällen als zulässiges Instrument für polizeiliche Ermittlungen gerechtfertigt ist, muss diese Art des Eingriffs in das Recht auf Privatsphäre umfassend geregelt und in ihrem Umfang begrenzt und verhältnismäßig sein, um ein legitimes Sicherheitsziel zu erreichen.
Die Datenerhebungsprogramme der chinesischen Regierung erfassen jedoch DNA-Daten von sämtlichen Personen, unabhängig davon, ob sie in irgendeiner Weise mit strafrechtlichen Ermittlungen in Verbindung stehen. Sie scheinen keinen Mechanismus zur Einholung einer informierten Zustimmung oder eine Erklärung vorzusehen, warum DNA-Proben angefordert werden.
Die Privatsphäre von Kindern ist von entscheidender Bedeutung, um ihre Sicherheit, Handlungsfähigkeit und Würde zu gewährleisten, und eine Einschränkung der Privatsphäre eines Kindes ist nur dann zulässig, wenn sie den Standards der Rechtmäßigkeit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit entspricht.
Die Erhebung, Verarbeitung und Verwendung genetischer Informationen birgt erhöhte Risiken für die Privatsphäre von Kindern. Die DNA enthält hochsensible Informationen, die ein Kind, seine Familienmitglieder sowie vererbte Krankheiten, die zu Behinderungen und schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen führen können, eindeutig und dauerhaft identifizieren. Die Verwendung und Weitergabe dieser Daten „kann negative Folgen für die Kinder haben, die sie auch in späteren Lebensabschnitten beeinträchtigen können“.
Die Sammlung der DNA von Kindern durch die Behörden ohne deren freie, im Vollbesitz der geistigen Kräfte abgegebene und informierte Einwilligung oder die ihrer Betreuer*innen sowie die Probenentnahme in Bildungseinrichtungen, in denen sie sich nicht bewusst dagegen entscheiden oder die Angabe ihrer persönlichen Gesundheitsdaten verweigern können, stellt eine Verletzung der Privatsphäre von Kindern dar. Darüber hinaus scheint der von den Behörden angegebene Verwendungszweck dieser Daten, also die Aufdeckung von Straftaten, kein legitimer, verhältnismäßiger Zweck zu sein, der dem Wohl des Kindes dient.
Die chinesischen Behörden erklärten im Januar 2022, die Sammlung von Gendaten in den Dörfern sei Teil eines Vorgehens in der Region, die sie als „Die drei großen Aktionen“ bezeichneten. In offiziellen Medienberichten aus sieben Gebieten in der Region – Lhodrak (Lhokha), Gyatsa (Lhokha), Nedong (Lhokha), Chonggye (Lhokha), Chushul (Lhasa), Lhasa-Stadt (Lhasa) und Bayi (Nyingtri) – wird die Maßnahme als eine von mehreren laufenden Bemühungen zur „Stärkung des Systems der sozialen Governance an der Basis“ beschrieben, vor allem durch eine verstärkte Polizeipräsenz in den Dörfern, die bisher nur bis zu den Verwaltungszentren, den sogenannten Townships (Ch: xiang) gehörten.
Unter der Bezeichnung „Große Einzelinspektion, Große Untersuchung und Große Vermittlung“ (da zou fang 大走访, da diao yan 大调研, da hua jie 大化解) wird die Polizei in neu eingerichteten Dorfpolizeistationen oder in nahe gelegenen Polizeistationen der Townships (paichusuo) dazu angehalten, jedes Haus aufzusuchen und die Bewohner*innen nach ihren Ansichten zu befragen. Die Polizeieinheiten, die „Die drei großen Aktionen“ im Kreis Lhodrag in Südtibet durchführten, wurden angewiesen, „in das Dorf zu gehen und [jedes] Haus zu betreten, um ein Netz zu spannen, mit dem sich die Wahrheit herausfinden lässt“.
„Drei wirklich ‚große Aktionen‘ für die Tibeter würden ein sofortiges Ende dieser generalpräventiven Verstöße sowie Ermittlungen und die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen bedeuten“, so Richardson.