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Ukraine: Folter und Verschwindenlassen im besetzten Süden

Mutmaßliche Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte in den Regionen Cherson und Saporischschja

Russische Soldaten am Straßenrand in der Region Cherson, Ukraine. © 2022 Olga Maltseva/AFP/Getty Images

(Kiew) – Die russischen Streitkräfte haben in den besetzten Gebieten der Regionen Cherson und Saporischschja Zivilist*innen unrechtmäßig festgenommen, gefoltert und verschwinden lassen, so Human Rights Watch. Außerdem haben russische Streitkräfte Kriegsgefangene gefoltert, die dort festgehalten wurden.

„Die russischen Streitkräfte haben die besetzten Gebiete im Süden der Ukraine in einen Abgrund der Angst und der Gesetzlosigkeit verwandelt“, sagte Yulia Gorbunova, Senior-Researcherin zur Ukraine bei Human Rights Watch. „Folter, unmenschliche Behandlung sowie willkürliche Verhaftungen und die unrechtmäßige Inhaftierung von Zivilisten sind einige der mutmaßlichen Kriegsverbrechen, die wir dokumentiert haben, und die russischen Behörden müssen solche Missstände sofort beenden und verstehen, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden können und werden.“

Human Rights Watch sprach mit 71 Menschen aus Cherson, Melitopol, Berdjansk, Skadowsk und zehn weiteren Städten und Gemeinden in den Regionen Cherson und Saporischschja. Sie schilderten 42 Fälle, in denen russische Besatzungstruppen Zivilist*innen entweder verschwinden ließen oder sie auf andere Weise willkürlich festhielten – in einigen Fällen in Isolationshaft. Viele von ihnen wurden gefoltert. Human Rights Watch dokumentierte auch drei Fälle der Folter von Angehörigen der Territorialverteidigung, die sich in Kriegsgefangenschaft befanden. Zwei von ihnen starben.

Ziel der Misshandlungen scheint zu sein, Informationen zu erhalten und Angst unter der Bevölkerung zu schüren, damit diese die Besatzung akzeptiert – schließlich versuche Russland, die Souveränität über das besetzte Gebiet unter Verletzung des Völkerrechts durchzusetzen, so Human Rights Watch.

Die befragten Personen berichteten, dass sie gefoltert oder Zeug*innen von Folter wurden, unter anderem durch wiederholte Schläge und in einigen Fällen durch Elektroschocks. Sie beschrieben Verletzungen wie gebrochene Rippen und andere Knochen, zerstörte Zähne, schwere Verbrennungen, Gehirnerschütterungen, geplatzte Blutgefäße im Auge, Schnittwunden und Prellungen.

Ein ehemals inhaftierter Organisator von Protesten, der um Anonymität bat, sagte, die russischen Streitkräfte hätten ihn in der Haft mit einem Baseballschläger geschlagen. Ein anderer Demonstrant wurde wegen Verletzungen durch Schläge in der Haft einen Monat lang im Krankenhaus behandelt. Ein dritter gab an, dass er nach sieben Tagen Haft „kaum gehen“ konnte und gebrochene Rippen und eine gebrochene Kniescheibe hatte.

Die Frau eines Mannes, den die russischen Streitkräfte nach einer Hausdurchsuchung Anfang Juli vier Tage lang festhielten, berichtete, dass die Militärs ihren Mann mit einer Metallstange schlugen, Elektroschocks anwendeten, seine Schulter verletzten und ihm eine Gehirnerschütterung zufügten.

Ein Journalist in Cherson beschrieb die allgegenwärtige Angst mit folgenden Worten: „Du weißt nicht, wann sie dich holen und wann sie dich gehen lassen.“

Ehemalige Häftlinge berichteten, dass sie die gesamte Haftzeit mit verbundenen Augen und angelegten Handschellen verbringen mussten, sie nur wenig zu essen und zu trinken bekamen und keine medizinische Versorgung erhielten. Mindestens ein ziviler Häftling wurde von den russischen Militärs gewaltsam auf die von Russland besetzte Krim gebracht, wo er zu „Arbeitseinsätze zur Umerziehung“ gezwungen wurde.

In mehreren Fällen ließen die russischen Streitkräfte die Festgenommenen erst frei, nachdem sie eine Erklärung unterschrieben hatten, in der sie versprachen, mit den Behörden zu „kooperieren“, oder ein Video aufnahmen, in dem sie andere zur Kooperation aufforderten.

Mit einer Ausnahme teilten die russischen Streitkräfte den Familien nicht mit, wo ihre Angehörigen festgehalten wurden, und das Büro des russischen Militärbefehlshabers stellte den Familien auf Anfrage keine Informationen zur Verfügung

Das Kriegsrecht erlaubt es Kriegsparteien in einem internationalen bewaffneten Konflikt, Kombattanten als Kriegsgefangene festzuhalten und Zivilist*innen in nicht strafrechtliche Haft aufzunehmen, wenn ihre Aktivitäten eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit der festhaltenden Behörde darstellen. Willkürliche Verhaftungen, rechtswidriges Festhalten und das Verschwindenlassen von Personen sind nach dem humanitären Völkerrecht verboten und können verschiedene Kriegsverbrechen darstellen oder beinhalten. Folter und unmenschliche Behandlung von Gefangenen sind nach dem Völkerrecht unter allen Umständen verboten und stellen im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt ein Kriegsverbrechen und möglicherweise auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.

Für Zivilist*innen ist das Risiko willkürlicher Inhaftierung und Folter unter der Besatzung hoch, aber sie haben keine wirkliche Möglichkeit, in das von der Ukraine kontrollierte Gebiet zu fliehen, so Human Rights Watch. Ein Journalist in Cherson sagte beispielsweise zu Human Rights Watch: „Ich habe meinen eigenen Telegram-Kanal, ich bin in ihrer Datenbank, ich musste untertauchen. Ich bin gewarnt worden, dass sie mich jederzeit abholen können. Ich riskiere nicht zu gehen, weil ich auf ihrer [schwarzen Liste] stehe.“ Dreizehn Personen, die die Flucht wagten, berichteten von schrecklichen Reisen mit zahlreichen russischen Kontrollpunkten und Inhaftierungen.

In einem Interview mit Human Rights Watch sagte Tamila Tasheva, ständige Vertreterin des ukrainischen Präsidenten auf der Krim, die auch die Lage in den neu besetzten Gebieten im Süden der Ukraine beobachtet, dass die ukrainischen Behörden die genaue Zahl der Verschwundenen in der Region Cherson nicht überprüfen können. Sie sagte, dass Menschenrechtsbeobachter*innen zufolge seit Februar 2022 vermutlich mindestens 600 Menschen dort verschwunden seien.

„Die Ukrainer in den besetzten Gebieten durchleben eine höllische Tortur“, sagte Gorbunova. „Die russischen Behörden und internationale Ermittlungsbehörden sollten Kriegsverbrechen und andere Rechteverletzungen durch ihre Streitkräfte in diesen Gebieten unverzüglich untersuchen, um eine Strafverfolgung zu ermöglichen.“

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