(New York) – Die chinesische Regierung verübt in der nordwestchinesischen Region Xinjiang massenhaft und systematisch Menschenrechtsverletzungen gegen turkstämmige Muslime, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 117-seitige Bericht „‘Eradicating Ideological Viruses’: China’s Campaign of Repression Against Xinjiang’s Muslims“ präsentiert neue Belege für massenhafte willkürliche Verhaftungen, Folter und Misshandlung durch die chinesische Regierung. Er belegt zudem eine zunehmend durchdringende Überwachung des Alltagslebens. Die rund 13 Millionen turkstämmigen Muslime in der Region werden politischer Indoktrinierung, kollektiver Bestrafung, verschärften Einschränkungen der Religionsausübung sowie massenhafter Überwachung unterworfen. Damit verletzt China internationale Menschenrechtsstandards.
„Die chinesische Regierung verübt in Xinjiang Menschenrechtsverletzungen in einem Ausmaß, das wir seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben“, so Sophie Richardson, Direktorin für China bei Human Rights Watch. „Die Repression in Xinjiang stellt die Vereinten Nationen und Regierungen auf die Probe: Werden Sie der wachsenden Macht Chinas standhalten und Sanktionen verhängen, um diese Verbrechen zu beenden?“
Der Bericht stützt sich auf Interviews mit 58 ehemaligen Einwohnern Xinjiangs, darunter 5 ehemalige Häftlinge und 38 Verwandte von Häftlingen. Neunzehn Befragte hatten Xinjiang innerhalb der vergangenen eineinhalb Jahre verlassen.
Die „Kampagne des harten Schlags gegen den gewalttätigen Extremismus“ in Xinjiang wurde von der chinesischen Regierung im Jahr 2014 eingeleitet. Nachdem der Parteisekretär Chen Quanguo Ende 2016 aus der autonomen Region Tibet nach Xinjiang versetzt wurde, um die Führung der Autonomieregion zu übernehmen, nahm das Ausmaß der Repression dramatisch zu.
Seitdem veranlassten die Behörden immer häufiger Masseninhaftierungen, sowohl in regulären Haftanstalten wie Gefangenensammelstellen und Gefängnissen als auch in Einrichtungen wie politischen Umerziehungslagern, die nicht im chinesischen Recht verankert sind. Glaubwürdigen Schätzungen zufolge sitzen eine Million Menschen in den Lagern fest. Dort werden turkstämmige Muslime gezwungen, Mandarin zu lernen, Lobeshymnen auf die Kommunistische Partei zu singen und spezielle Regeln für turkstämmige Muslime zu verinnerlichen.
Die Insassen der politischen Umerziehungslager werden ohne angemessene Verfahrensrechte festgehalten. Sie erhalten weder eine Anklage noch ein Gerichtsverfahren und haben keinen Zugang zu Anwälten oder Angehörigen. Grundlage ihrer Inhaftierung sind meist vermeintliche Kontakte ins Ausland, insbesondere in Staaten, die laut einer offiziellen Liste als „sensibel“ gelten. Weitere Haftgründe sind die Nutzung von Kommunikationsmitteln wie WhatsApp oder die friedliche Bekundung der eigenen Identität und Religion. Keine dieser Handlungen stellt eine Straftat dar.
Ein Mann, der monatelang in einem politischen Umerziehungslager inhaftiert gewesen war, erklärte gegenüber Human Rights Watch: „Ich fragte [die Behörden], ob ich einen Anwalt engagieren könne. Sie sagten: ‚Nein, du brauchst keinen Anwalt, denn du bist nicht verurteilt. Es gibt keinen Grund, dich gegen irgendetwas zu verteidigen. Du bist in einem politischen Erziehungslager. – Du musst nichts weiter tun als lernen.‘“
Auch außerhalb der Hafteinrichtungen unterwerfen die chinesischen Behörden turkstämmige Muslime derart weitreichenden Einschränkungen des Privatlebens, dass ihre Lebenswirklichkeit in vielen Fällen der von Häftlingen gleicht. Eine Kombination von administrativen Maßnahmen, Kontrollposten und Ausweiskontrollen schränken willkürlich ihre Bewegungsfreiheit ein. Sie werden ununterbrochen politischer Indoktrinierung unterworfen, mit verpflichtenden Flaggenzeremonien, politischen Versammlungen, öffentlicher Anprangerung und „Nachtunterricht“ in Mandarin. Durch die beispiellose Kontrolle religiöser Praktiken haben die Behörden die islamische Religion faktisch verboten.
Die Staatsorgane unterwerfen die Bevölkerung von Xinjiang zudem einer durchdringenden und ständigen Überwachung. Sie ermutigen Nachbarn, sich gegenseitig auszuspionieren. Sie setzen modernste Überwachungssysteme ein, die QR-Codes, Biometrik, künstliche Intelligenz, Spyware für Telefone und große Datenbanken nutzen. Und sie haben mehr als eine Million Beamte und Polizisten zur Überwachung der Bevölkerung mobilisiert. Dazu gehören auch Programme, die bestimmten Personen Beobachter zuweisen, welche sich regelmäßig in ihren Privatwohnungen aufhalten.
Durch die Kampagne wurden Familien getrennt, etwa wenn Passkontrollen oder Grenzbestimmungen unerwartet verschärft wurden. Teilweise saßen Kinder ohne ihre Eltern im In- bzw. Ausland fest. Die Regierung verbietet turkstämmigen Muslimen, Kontakt mit Personen im Ausland aufzunehmen. Sie drängt im Ausland lebende Uiguren und Kasachen zur Rückkehr nach China und zwingt einige von ihnen, detaillierte Auskünfte über ihr Privatleben zu geben.
Im August untersuchte der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) die Lage in China und beschrieb Xinjiang als eine „rechtsfreie Zone“. Die chinesische Delegation widersprach dieser Darstellung wie auch der Beschreibung der politischen Umerziehungslager und bezeichnete letztere als „berufliche Ausbildungszentren“.
Offensichtlich rechnet die chinesische Regierung nicht damit, für ihre menschenrechtswidrige Kampagne in Xinjiang einen nennenswerten politischen Preis bezahlen zu müssen. Dies liegt unter anderem an ihren erheblichen Einfluss innerhalb der Vereinten Nationen. Angesichts der überwältigenden Beweise für schwere Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang sollten ausländische Regierungen eine Reihe von uni- und multilateralen Sanktionen anstreben. Sie sollten sich für gemeinsame Maßnahmen des UN-Menschenrechtsrats einsetzen und eine Koalition schmieden, die Beweise für Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang sammelt und auswertet. Zudem sollten sie gezielte Sanktionen gegen Parteisekretär Chen Quanguo und andere hochrangige Funktionäre, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, verhängen.
„Das Leid der Familien, die zerrissen wurden und nicht wissen, was mit ihren engsten Angehörigen passiert ist, steht im krassen Widerspruch zur Behauptung Pekings, die turkstämmigen Muslime seien ‚glücklich‘ und ‚dankbar‘“, so Richardson. „Wenn die Regierung nicht unter Druck gesetzt wird, ihre Menschenrechtsverletzungen zu beenden, wird sie dies in ihrem Handeln bestärken.“