(Athen) – Der Polizei gelingt es nicht, die Menschen in den geschlossenen Flüchtlingszentren auf den griechischen Inseln, den sogenannten Hotspots, vor den häufigen gewaltsamen Vorfällen zu schützen, so Human Rights Watch. Die Zentren wurden zur Aufnahme, Identifizierung und Antragsbearbeitung von Migranten und Asylsuchenden eingerichtet. Keines der drei Zentren auf Samos, Lesbos und Chios, welche Human Rights Watch Mitte Mai 2016 besuchte, hatte etwa abgetrennten Bereiche für alleinstehende Frauen. Alle drei Zentren waren zudem unhygienisch und stark überfüllt.
„Europas Version der Flüchtlingslager zwingt Frauen und Kinder, die vor dem Krieg geflohen sind, in Angst zu leben und täglich neue Gewalt zu erleben“, so Bill Frelick, Leiter der Flüchtlingsabteilung von Human Rights Watch. „Durch den mangelhaften Polizeischutz, die Überfüllung und die miserablen Hygienezustände entsteht in den Lagern, die mit Stacheldraht umzäunt sind, eine von Chaos und Unsicherheit geprägte Atmosphäre.“
Bei mehreren Besuchen zwischen dem 9. und 15. Mai stellte Human Rights Watch in allen drei Einrichtungen eine starke Überbelegung fest. Es war schmutzig und unhygienisch, und es gab nicht genug einfache Unterkünfte. Zu dem chaotischen und unberechnebaren Klima in den drei Hotspots trugen auch Mismanagement, fehlende Informationen und die langen Warteschlangen bei der Ausgabe der minderwertigen Verpflegung bei.
Am 13. Mai kam es in dem Hotspot Vathi auf Samos zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit rund 200 Beteiligten, welche über mehrere Stunden andauerte. Die Einrichtung mit 250 Betten war an diesem Tag mit 945 Menschen belegt. Als Human Rights Watch-Mitarbeiter das Zentrum am 14. Mai besuchten, fanden sie dort Blutspuren am Boden, blutverschmierte Kleidung, Löcher in den Hütten, offenbar von Steinwürfen, sowie Glasscherben und andere Trümmer der Kämpfe. Mehrere Männer und Frauen trugen Blutergüsse und Platzwunden. Viele Bewohner sagten, die für die Sicherheit in der Einrichtung verantwortlichen Polizisten seien nach dem Ausbruch der Kämpfe abgezogen. Humanitäre Helfer der niederländischen Nichtregierungsorganisation Boat Rescue, die für die medizinische Versorgung der Einrichtung sorgten, berichteten, dass 14 Personen stationär behandelt werden mussten, unter anderem wegen Knochenbrüchen.
Human Rights Watch musste den Besuch in Vathi am 14. Mai aus Sicherheitsgründen vorzeitig abbrechen, besuchte das Zentrum jedoch am 15. Mai erneut.
Lagerbewohner und Mitarbeiter der Versorgungsdienstleister erklärten, gewaltsame Auseinandersetzungen gehörten in Vathi zum Alltag. Die Polizei ziehe sich zurück, sobald die Kämpfe begännen, und greife nicht ein, um Menschen zu schützen. Die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR, die an allen drei Tagen, an denen Human Rights Watch die Einrichtung besuchte, vor Ort war, erklärte, in Vathi gebe es keinen Lagerleiter. An den Tagen, an denen Human Rights Watch vor Ort war, schien niemand die Verantwortung für den Lagerbetrieb zu tragen. Auch in den beiden anderen Lagern, Moria auf Lesbos und VIAL auf Chios, gaben die Bewohner an, die Polizei greife bei gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht ein.
Obwohl alle Polizeibeamten, die mit Migranten und Flüchtlingen zu tun haben, per Dienstanweisung angehalten sind, für die Sicherheit von Frauen und Kindern zu sorgen, verfügen die Zentren in Chios und Samos nicht über separate Bereiche für alleinstehende Frauen, Familiengruppen oder Frauen mit Kindern. In Moria beobachtete Human Rights Watch, dass unbegleitete Kinder und Familien in gemeinsamen Bereichen untergebracht wurden. Moria verfügt über eigene Bereiche nur für Kinder und Familien, welche jedoch nicht groß genug sind, um alle Frauen und Kinder in der Einrichtung zu beherbergen.
In allen drei Hotspots berichten Frauen über regelmäßige sexuelle Belästigungen: „Die Männer betrinken sich jeden Abend und versuchen, in unser Zelt zu kommen“, so eine alleinstehende 19-jährige Eritreerin, die in Vathi lebt. „Wir gingen zur Polizei und baten, dass man uns in einen anderen Teil des Lagers bringt, getrennt von den Männern, die versuchen, uns zu missbrauchen. Doch die Polizei weigerte sich, uns zu helfen. Genau aus diesem Grund sind wir aus unserem Land geflohen. Doch hier im Lager, haben wir Angst, unser Zelt zu verlassen.“ Frauen im Lager Moria auf Lesbos und in VIAL auf Chios schilderten ähnliche Probleme und waren tief besorgt um die Sicherheit ihrer Kinder.
Seit dem Abschluss des Flüchtlingsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Türkei am 20. März inhaftieren die griechischen Behörden automatisch jeden Asylsuchenden oder Migranten. Am 2. April verabschiedete das griechische Parlament im Eiltempo ein Gesetz, das pauschale „Einschränkungen der Bewegungsfreiheit“ erlaubt. Damit können Neuankömmlinge verpflichtet werden, während ihrer Aufnahme und Identifizierung für bis zu 25 Tage innerhalb der geschlossenen Einrichtungen an den Grenzen – etwa auf den griechischen Inseln – zu bleiben. Nachdem die Hotspots so faktisch in Haftzentren umgewandelt wurden, beendeten das UNHCR und mehrere Nichtregierungsorganisationen ihre Arbeit, wenngleich das UNHCR die Situation weiterhin beobachtet und eingeschränkte Angebote bereitstellt.
Die Hotspots, offiziell „Empfangs- und Identifikationszentren“ genannt, werden formal vom Erstaufnahmedienst des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik betrieben. Weitaus deutlicher treten dort jedoch zwei EU-Behörden in Erscheinung: Die EU-Grenzschutzagentur Frontex, die in Kooperation mit der griechischen Polizei die Erstregistrierung, die Befragungen zur Feststellung der Staatsangehörigkeit und die Abnahme von Fingerabdrücken durchführt, sowie das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), welches Befragungen zur Zulässigkeit der Asylgesuche durchführt und entsprechende Empfehlungen an die griechische Asylbehörde weitergibt. Letzere ist ebenfalls in den Einrichtungen präsent, wenngleich ihre Büros bei allen Besuchen von Human Rights Watch geschlossen waren. Für die Sicherheit in den Lagern ist die griechische Polizei verantwortlich.
Die griechischen und europäischen Behörden sollen unverzüglich Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit und den Schutz der Frauen und Kinder sowie aller anderen Bewohner in den Hotspots zu gewährleisten. Frauen, Kinder und Familien sollen sichere Schlafplätze und Sanitäreinrichtungen erhalten, getrennt von jenen für alleinstehende Männer. Griechenland soll Menschen nicht in überfüllten und gesundheitsgefährdenden Einrichtungen inhaftieren.
Da weniger restriktive Alternativen existieren, ist die pauschale Inhaftierung von Migranten und Asylsuchenden in geschlossenen Einrichtungen nicht gerechtfertigt und kommt einer willkürlichen Inhaftierung gleich. Die Hotspots auf den griechischen Inseln sollen in offene Lager mit angemessenen Versorungsleistungen und Sicherheitsvorkehrungen umgewandelt werden.
Niemand, der die Absicht gezeigt hat, Asyl zu beantragen, soll in einer der Einrichtungen auf den griechischen Inseln inhaftiert werden, solange die Inhfatierung nicht nachweislich aus einem legitimen Grund erfolgt bzw. zu einem legitimen Zweck notwendig ist, etwa wenn die betreffende Person ein konkretes individuelles Sicherheitsrisiko darstellt.
Alle EU-Mitgliedstaaten sollen ihre Anstrengungen beschleunigen, die Verpflichtungen im Rahmen der befristeten Regelung zur Verteilung der Flüchtlinge zu erfüllen. Sie sollen dringend ausreichende Kontingente bereitstellen und die Umsiedlung abgelehnter Asylsuchender aus den griechischen Hotspots erleichtern. Dabei soll auch individuellen Umständen wie familiären Bindungen Rechnung getragen werden.
„Wenn Griechenland Menschen in überfüllten Einrichtungen einsperrt, die selbst für Tiere ungeeignet sind, und ihnen einen grundlegenden Polizeischutz verwehrt, schafft es ein Klima, in dem Gewalt blüht“, so Frelick. „Die EU ist zwar nicht direkt für die Sicherheit in den Lagern verantwortlich, doch es war erschreckend zu beobachten, wie das Frontex-Personal am 14. Mai eilig das Lager Vathi verließ, als sich die Spannungen dort zuspitzten. Die EU und Griechenland sollen diese beschämende Situation unverzüglich korrigieren, willkürliche Inhaftierungen rasch beenden und eine menschliche Behandlung der Menschen unter ihrer Obhut garantieren.“