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Fast ein Jahr ist vergangen, seit die ersten Berichte über die Massenüberwachung der National Security Agency (NSA) publik wurden. Und was ist nicht alles seither geschehen:

Deutschland hat sich an die Spitze der Reformbefürworter gesetzt. Gemeinsam mit Brasilien brachte Berlin eine Resolution bei den Vereinten Nationen ein - seit 25 Jahren die erste größere Stellungnahme der UN zum Recht auf Privatsphäre. Angela Merkel zählt zu den wichtigsten Stimmen, die die USA zu Reformen drängen. Das Auswärtige Amt hat einen Sonderbeauftragten für Cyber-Außenpolitik benannt, die Bundesregierung hat das Amt eines Staatssekretärs für die Belange der Nachrichtendienste geschaffen und der Bundestag hat einen Untersuchungsausschuss ins Leben gerufen.

Auslöser für diese Aktivitäten waren Unterlagen, die der ehemalige NSA-Mitarbeiter Edward Snowden unter großem persönlichen Risiko öffentlich gemacht hat. Dennoch weigert sich Berlin, Snowden Zeugenschutz und eine sichere Zuflucht in Deutschland anzubieten.

Die Dokumente, die Snowden Journalisten zuspielte, belegen, dass die Regierungen in den USA und Großbritannien weitreichende Fehlverhalten begangen und gegen das Recht auf Privatsphäre, auf Meinungsfreiheit und auf Vereinigungsfreiheit verstoßen haben. Selbst Präsident Obama hat eingeräumt, dass durch Edward Snowden eine öffentliche Diskussion über Überwachungsaktivitäten angestoßen wurde, die dringend nötig war.

Doch nach amerikanischem Recht steht die Veröffentlichung von Geheimdokumenten unter schwerer Strafe. Auch sind Whistleblower zu Themen der nationalen Sicherheit von Schutzprogrammen ausgenommen, unabhängig davon, wie wertvoll ihre Enthüllungen gesellschaftlich sein mögen. Snowden drohen Anklagen wegen Spionage. Er könnte zu seiner Verteidigung nicht damit argumentieren, dass der Nutzen, den die Gesellschaft durch die Veröffentlichung geheimer Unterlagen gewonnen hat, größer sei als der Schaden durch den Geheimnisverrat . Er würde aufgrund verschiedener US-Bundesgesetze angeklagt werden. Ihm droht eine Haftstrafe von mehreren Jahrzehnten. Die deutsche Bundesregierung hätte da schon längst öffentlich Washingtons Aussagen zu einer Anklage gegen Snowden verurteilen und auf ein Umlenken hinwirken sollen.

Deutschland ist Mitglied der „Freedom Online Coalition", einer Gruppe von Ländern, die sich verpflichtet haben, für Menschenrechte im Internet einzutreten. Die Enthüllungen über die NSA haben die Glaubwürdigkeit von mindestens zwei Ländern aus diesem Bündnis - USA und Großbritannien - zutiefst beschädigt. Deshalb hat Deutschland bei Menschenrechten im Internet die Führungsrolle übernommen. Gemeinsam mit Brasilien drängt Deutschland andere Länder, bestehende Verpflichtungen einzuhalten und ein willkürliches Sammeln von Daten zu verhindern. Das ist sehr wichtig, aber angesichts des Widerstands in den USA und Großbritannien sehr schwierig.

Gerade weil sich Deutschland so sehr für ein freies Internet einsetzt, ist es unverständlich und paradox, dass unsere politische Führung nicht dafür eintritt, dass Snowden nach Berlin kommt und dort aussagt, und dass sie ihn nicht vor einer Auslieferung in die USA schützt. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen spielen bei dieser Entscheidung natürlich eine zentrale Rolle, insbesondere das Wissen, dass die Beziehungen belastet würden. Doch die USA sollten nicht vergessen, dass sie vielen Menschen politisches Asyl gewährt haben, denen in ihrer Heimat lange Gefängnisstrafen drohen, weil sie ihr Land kritisieren. Auf ein Land loszugehen, das sich für Snowden einsetzt, wäre ein klares Anzeichen dafür, dass die USA mit zweierlei Maß messen würden.

Regierungen sollten Whistleblower schützen, die im öffentlichen Interesse und auch im Widerspruch zum Gesetz Themen der nationalen Sicherheit enthüllen. Doch leider haben die USA beschlossen, Snowden nicht zu schützen, sondern anzuklagen. Dass jemand, der so viel Wichtiges ans Licht gebracht hat, das den Deutschen wie auch vielen anderen Menschen in aller Welt nützt, nicht die Unterstützung der Bundesregierung erhält, ist eine Schande.

Snowdens derzeitiger Status in Russland läuft im August aus. Er hat der Welt einen großen Gefallen getan. Die Bundesregierung sollte das anerkennen, indem sie ihn nach Deutschland einlädt und seinen Asylantrag genehmigt, falls er bleiben möchte. Sie sollte ihn nicht wie einen Verbrecher oder einen Aussätzigen behandeln.

Wenzel Michalski ist Deutschland-Direktor von Human Rights Watch. Er twittert unter @WenzelMichalski.

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