(Brüssel, 21. September 2011) – Die EU-Grenzschutzagentur Frontex setzt Migranten unmenschlicher und erniedrigender Behandlung aus, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. An der griechisch-türkischen Landgrenze aufgegriffene Migranten werden in überfüllte Haftzentren überstellt.
Die EU-Justiz- und Innenminister werden bei einem Treffen am 22. und 23. September 2011 voraussichtlich den neuen Regeln für die Frontex-Einsätze zustimmen. Die Änderungen gehen jedoch nicht weit genug, um Abhilfe für die derzeitige Situation zu schaffen.
Der 62-seitige Bericht „The EU’s Dirty Hands: Frontex Involvement in Ill-Treatment of Migrant Detainees in Greece“ untersucht die Rolle der Grenzschutzbehörde und die Verantwortung, die Frontex innehatte, als Ende vergangenen Jahres Migranten vier Monate lang unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen ausgesetzt waren. Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke (RABIT) hatten 2010 erstmals Migranten aufgegriffen und sie zu Polizeistationen und Auffanglagern in der griechischen Region Evros gebracht. Der RABIT-Einsatz ging in eine dauerhafte Präsenz der Frontex-Einheiten über.
„Frontex trägt eine Mitschuld, wenn sie Migranten wissentlich Bedingungen aussetzt, die eindeutig gegen internationale Menschenrechtsstandards verstoßen“, so Bill Frelick, Leiter des Flüchtlingsprogramms von Human Rights Watch. „Um dieser Situation ein Ende zu setzen, muss die EU die Regeln für Frontex-Einsätze verschärfen und sicherstellen, dass die Grenzschutzagentur zur Verantwortung gezogen wird, wenn sie in Griechenland oder anderen Ländern gegen die Regeln verstößt.“
Im November 2010 stellte Frontex, die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, Griechenland erstmals personelle und materielle Unterstützung zur Überwachung seiner Grenze zur Türkei entlang des Grenzflusses Evros zur Verfügung. Im Zuge der ersten RABIT-Operation entsandte Frontex 175 Grenzschützer aus einem gemeinsamen Pool der beteiligten Mitgliedsstaaten. Frontex bezeichnet die Grenzschützer als „Gastbeamte“.
Der Bericht beruht auf Interviews mit 65 Migranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden in Griechenland, die im November/Dezember 2010 und im Februar 2011 geführt wurden, sowie mit Beamten von Frontex und der griechischen Polizei. Human Rights Watch besuchte während der RABIT-Operation im Dezember 2010 Haftzentren in der Region Evros und stellte dabei fest, dass die griechischen Behörden Migranten, einschließlich schutzbedürftiger Personen wie unbegleitete Kinder, wochen- oder monatelang unter Bedingungen festhielten, die unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleichkamen.
Auf der Polizeistation in Feres waren zum Zeitpunkt des Besuchs von Human Rights Watch beispielsweise 97 Personen inhaftiert, obwohl das Revier laut Aussage der Polizei Platz für nur 30 Personen bietet. Eine 50-jährige Frau aus Georgien, die dort festgehalten wurde, sagte: „Der Schmutz und die Schwierigkeiten, mit denen ich hier zu kämpfen habe, sind unvorstellbar … Es ist unzumutbar, gemeinsam mit den Männern in einer Zelle zu sein. Nachts schlafe ich nicht. Ich sitze einfach nur auf einer Matratze.“
Im Auffanglager Fylakio fand Human Rights Watch unbegleitete Kinder vor, die mit Erwachsenen, mit denen sie nicht verwandt waren, in überfüllten Zellen zusammengepfercht waren. Das Abwasser lief über den Boden, der Geruch war nur schwer zu ertragen. Die griechischen Wächter trugen einen Mundschutz, wenn sie den Korridor zwischen den großen, vergitterten Zellen betraten.
„Auch wenn im Mittelpunkt dieses Berichts die Frage steht, inwiefern es in der Verantwortung von Frontex liegt, sich nicht an Menschenrechtsverletzungen mitschuldig zu machen, entbindet das die griechischen Behörden nicht von ihren Pflichten“, so Frelick. „Die griechische Regierung soll unverzüglich Maßnahmen zur Verbesserung der Haftbedingungen und zur Umsetzung der versprochenen Reformen im Asylverfahren ergreifen.“
Zum Zeitpunkt des RABIT-Einsatzes stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dessen Rechtsprechung für alle EU-Staaten bindend ist, in seinem Urteil im Fall M.S.S. gegen Belgien und Griechenland fest, dass die Bedingungen in griechischen Auffanglagern unmenschlich und erniedrigend sind. Das Gericht befand, dass Belgien gegen seine menschenrechtlichen Verpflichtungen verstieß, weil es einen afghanischen Asylbewerber durch dessen Rücküberstellung nach Griechenland wissentlich diesen Bedingungen ausgesetzt hatte.
„Es ist ein beunruhigender Widerspruch, dass gerade zu dem Zeitpunkt, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Grundsatzurteil gefällt hat, wonach die Rücküberstellung von Migranten nach Griechenland eine Verletzung ihrer Grundrechte darstellt, Frontex als Exekutivorgan der EU und Grenzschützer aus EU-Staaten sie wissentlich dorthin geschickt haben“, so Frelick.
Die Arbeitsweise der EU-Grenzschutzbehörde in Griechenland steht nicht mit den in der Grundrechtecharta der Europäischen Union festgelegten, auch für Frontex bindenden Grundsätzen in Einklang. Der Schutz vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ist eine absolute Pflicht. Deshalb liegt es in der Verantwortung der EU, zusammen mit Griechenland an einer Verbesserung der Haftbedingungen zu arbeiten, bevor es zu einer Kooperation kommt, die zwangsläufig mit einer Inhaftierung von Migranten einhergeht.
Das Engagement von Frontex bei Grenzschutzoperationen in Griechenland soll künftig mit der Prämisse verknüpft sein, Migranten, die aufgegriffen werden, in Einrichtungen mit menschenwürdigen Bedingungen unterzubringen, so Human Rights Watch. Dies kann beispielsweise dadurch erreicht werden, dass die Migranten in Auffanglager in anderen Regionen Griechenlands gebracht werden, in denen die Bedingungen menschenrechtlichen Anforderungen gerecht werden, oder indem Auffanglager in anderen EU-Staaten zur Verfügung gestellt werden, in denen die Bedingungen internationalen und EU-Standards entsprechen.
Die Änderungen der Frontex-Verordnung, die in dieser Woche voraussichtlich angenommen werden, berücksichtigen, dass die Achtung der Menschenrechte bei Frontex-Einsätzen besser überprüft werden muss. Die neue Verordnung sieht einen Grundrechtsbeauftragten für Frontex vor sowie einen Menschenrechtsberater, der zivilgesellschaftliche Interessen vertreten soll.
Diese Maßnahmen sind ein Anfang, reichen aber nicht aus, weil darin kein Verfahren vorgesehen ist, um Frontex im Fall von Verstößen gegen die Menschenrechte oder gegen das EU-Recht zur Rechenschaft zu ziehen. Der Grundrechtsbeauftragte soll ein Mandat erhalten, das ihn befugt, die Europäische Kommission auf Verstöße hinzuweisen, damit entsprechende Ermittlungen und eine strafrechtliche Verfolgung eingeleitet werden können.
„Angesichts der neuen Migrationskrise im Mittelmeerraum und der erweiterten Befugnisse für die Grenzschutzagentur Frontex wird deutlich, dass der Fokus der europäischen Asyl- und Migrationspolitik nicht mehr bei der Durchsetzung dieser Politik liegen darf, sondern der Schutz von Rechten Priorität hat“, so Frelick. „Dabei handelt es sich nicht nur um eine rechtliche Verpflichtung. Vielmehr können und sollen die EU, ihre Organe und Mitgliedsstaaten ihre eigenen Grundsätze respektieren und ihnen gerecht werden.“