(New York, 1. Juni 2011) – Systematische Morde und Folter durch syrische Sicherheitskräfte in Daraa seit Beginn der Proteste am 18. März 2011 können möglicherweise als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet werden, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 57-seitige Bericht „‘We’ve Never Seen Such Horror‘ – Crimes against Humanity in Daraa“ basiert auf mehr als 50 Interviews mit Betroffenen und Zeugen. Der Bericht konzentriert sich auf Menschenrechtsverletzungen im Gouvernement Daraa. In Folge der Protestwelle in weiten Teilen des Landes kam es dort zu einigen der gewalttätigsten Auseinandersetzungen. Wegen einer von der syrischen Regierung verhängten Nachrichtensperre wurden nur wenige Einzelheiten bekannt. Betroffene und Zeugen berichteten von systematischen Morden, Misshandlungen und Folter mit Elektroschockgeräten. Auch Menschen, die medizinische Behandlung benötigen, wurden verhaftet.
„Seit mehr als zwei Monaten morden und foltern syrische Sicherheitskräfte ungestraft ihr eigenes Volk“, so Sarah Leah Whitson, Leiterin der Abteilung Naher Osten von Human Rights Watch. „Das muss aufhören. Wenn die Regierung keine entsprechenden Schritte einleitet, muss der Weltsicherheitsrat dafür sorgen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“
Die syrische Regierung soll die exzessive Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte unverzüglich beenden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen soll Sanktionen erlassen und Syrien nachdrücklich an seine Verantwortung erinnern. Falls die Regierung darauf nicht angemessen reagiert, soll Syrien vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden.
Erste Proteste in Daraa brachen aus, als 15 Kinder verhaftet und gefoltert wurden. Ihnen wurde vorgeworfen, Graffitis gemalt zu haben, mit denen sie den Sturz der Regierung forderten. Seitdem haben die Sicherheitskräfte wiederholt das Feuer auf friedliche Demonstranten eröffnet. Die Sicherheitskräfte haben allein im Gouvernement Daraa mindestens 418 Menschen und mehr als 887 im ganzen Land getötet. Diese Angaben beziehen sich auf die Daten lokaler Aktivisten, die Listen der Ermordeten führen. Genaue Zahlen können derzeit nicht verifiziert werden.
Zeugen aus Daraa sagten übereinstimmend aus, dass Sicherheitskräfte brutal gegen Demonstranten und Zivilisten vorgingen. In den meisten Fällen blieben Warnungen und Versuche aus, die Demonstrationen mit gewaltlosen Mitteln aufzulösen. Angehörige unterschiedlicher Abteilungen der mukhabarat (Sicherheitsdienste) und zahllose Scharfschützen auf Dächern schoßen vorsätzlich auf Demonstranten. Zahlreiche Opfer starben an Kopf-, Nacken- und Brustschüssen. Human Rights Watch dokumentiert einige Fälle, in denen Kommandanten der Sicherheitskräfte bei Einsätzen gegen Demonstranten in Daraa Todesschüsse befohlen haben.
Zu den Vorfällen mit den meisten Todesopfern zählen:
- ein Angriff auf die Moschee al Omari, die als Sammelpunkt für Demonstranten und als provisorisches Krankenhaus für Verwundete diente, und Angriffe auf anschließende Proteste vom 23. Bis 25.März, bei denen mehr als 30 Demonstranten getötet wurden;
- Angriffe auf Demonstranten bei zwei Protesten am 8. April, die mindestens 25 Todesopfer forderten;
- Angriffe auf eine Demonstration und einen Trauerzug in der Stadt Izraa am 22. und 23. April, durch die mindestens 34 Menschen starben; und
- bis zu 200 Morde während der Blockade von Daraa und benachbarten Dörfern seit dem 25. April und während eines Versuchs der Bewohner benachbarter Städte am 29. April, die Belagerung zu beenden.
Neun Zeugen aus den Städten Tafas, Tseel und Sahem al-Golan schildern einen Angriff am 29. April, als Tausende Menschen aus Ortschaften im Umkreis von Daraa die Blockade der Stadt brechen wollten. Zeugen geben an, dass die Sicherheitskräfte die Demonstranten auf dem Weg nach Daraa an einem Kontrollpunkt nahe dem Westeingang der Stadt anhielten. Ein Zeuge aus der Stadt Tseel, der an der Demonstration teilnahm, berichtete:
Wir hielten dort an und warteten auf weitere Demonstranten. Wir hatten Olivenzweige in den Händen und Poster, auf denen stand, dass wir Nahrung und Wasser nach Daraa bringen wollen. Wir hatten Wasserkanister und Lebensmittelpakete dabei. Schließlich standen Tausende Menschen auf der Straße – die Menge verteilte sich auf einer Strecke von sechs Kilometern.
„Dann haben wir uns dem Kontrollpunkt genähert. Wir riefen „friedlich, friedlich“, und als Antwort haben sie das Feuer eröffnet. Sicherheitskräfte waren überall, in den angrenzenden Feldern, auf einem Wassertank hinter dem Kontrollpunkt, auf dem Dach einer nahegelegenen Fabrik und auf den Bäumen. Die Schüsse kamen von allen Seiten. Die Leute fingen an zu rennen, fielen hin, haben versucht, die Verletzten wegzutragen. Neun Menschen aus Tseel wurden verletzt und einer von ihnen ist gestorben.“
Ein Zeuge aus Tafas berichtet:
„Es gab keine Warnung, keine Schüsse in die Luft. Das war ein Hinterhalt. Wir wurden von allen Seiten beschossen, mit automatischen Waffen. In den Feldern am Rand der Straße waren Sicherheitskräfte positioniert, auch auf den Dächern der Gebäude. Sie haben vorsätzlich auf Menschen gezielt. Die meisten Schusswunden waren am Kopf und in der Brust.“
Zwei Männer aus Tafas wurden dort getötet: der 22-jährige Muhammad Aiman Baradan und der 38-jährige Ziad Hreidin. Ziad stand neben mir, als ein Scharfschütze ihn am Kopf traf. Er ist auf der Stelle gestorben. Insgesamt wurden 62 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt, ich habe bei ihrem Transport ins Krankenhaus von Tafas geholfen.
Die syrischen Behörden haben die Demonstranten wiederholt beschuldigt, die Gewalt initiiert und Sicherheitskräfte angegriffen zu haben. Allerdings deuten alle von Human Rights Watch gesammelten Zeugenaussagen darauf hin, dass die Proteste in den meisten Fälle friedlich verliefen.
Human Rights Watch dokumentiert einige Vorfälle, in denen Bewohner von Daraa gewaltsam auf die Ermordung von Demonstranten reagierten, indem sie Autos und Gebäude in Brand setzten und Angehörige der Sicherheitskräfte ermordeten. Human Rights Watch fordert, dass diese Vorfälle untersucht werden, betont jedoch, dass sie in keiner Weise die massive und systematische Gewaltanwendung gegen die Demonstranten rechtfertigen.
Darüber hinaus verweigern die syrischen Behörden verwundeten Demonstranten regelmäßig den Zugang zu medizinischer Versorgung. Wiederholt wurde Krankenwagen der Weg zu Verwundeten versperrt und das Feuer auf medizinisches Personal oder Rettungskräfte eröffnet, die versuchten, Verletzte wegzutragen. Sicherheitskräfte kontrollierten die meisten Krankenhäuser in Daraa und verhafteten die Verwundeten, die eingeliefert wurden. In Folge dessen fürchteten viele Verletzte den Gang ins Krankenhaus und wurden in Behelfskrankenhäusern mit mangelhafter Ausstattung behandelt. In mindestens zwei Fällen starben Menschen, weil ihnen lebensnotwendige medizinische Versorgung verweigert worden war.
Zeugen aus Daraa und benachbarten Städten beschreiben groß angelegte Säuberungsaktionen. Die Sicherheitskräfte haben täglich Hunderte Menschen verhaftet und gezielt Aktivisten und deren Familienangehörige festgenommen. Die Inhaftierten, unter ihnen viele Kinder, wurden unter alarmierenden Bedingungen festgehalten. Alle befragten ehemaligen Inhaftierten berichteten, dass sie und Hunderte andere gefoltert worden waren, auch mit Elektroschocks und durch Schläge mit Stöcken, Drähten und anderen Gegenständen. Einige wurden auf improvisierten Folterbänken aus Holz oder Metall misshandelt. In mindestens einem Fall wurde ein männlicher Häftling mit einem Schlagstock vergewaltigt.
Zwei Zeugen berichteten unabhängig voneinander von einer außergerichtlichen Exekution am 1. Mai in einer provisorischen Haftanstalt auf einem Fußballfeld in Daraa. Einer der Inhaftierten sagte aus, dass Sicherheitskräfte 26 Häftlinge getötet hätten, der andere beschrieb eine Gruppe von „mehr als 20“ Personen. Human Rights Watch kann diese Angaben nicht bestätigen. Jedoch erscheinen sie glaubhaft, da die Zeugen voneinander unabhängig berichteten und andere Teile ihrer Aussagen durch weitere Zeugen gestützt werden.
Am 25. April begannen die Sicherheitskräfte eine groß angelegte Militäroperation in Daraa. Sie errichteten eine Blockade, die mindestens elf Tage bestand und danach auf benachbarte Städte ausgeweitet wurde. Unter massivem Feuerschutz haben die Sicherheitskräfte jeden Teil der Stadt kontrolliert, den Anwohnern verboten, ihre Häuser zu verlassen, und auf diejenigen geschossen, die sich der Anordnung widersetzten. Zeugen sagten aus, dass die Bewohner von Daraa während der Belagerung unter Nahrungsmittel-, Wasser- und Medikamentenknappheit litten. Die Sicherheitskräfte haben Wassertanks zerstört. Der Strom wurde abgeschaltet und alle Kommunikationswege blockiert. Weil es unmöglich war, die steigende Zahl von Toten zu begraben oder in angemessener Weise aufzubewahren, haben die Bewohner von Daraa viele der Toten in mobilen, dieselbetriebenen Gemüsekühltruhen gelagert.
Darüber hinaus haben die syrischen Behörden eine Nachrichtensperre über Daraa verhängt. Unabhängigen Beobachtern wurde der Zugang zur Stadt verweigert. Alle Kommunikationswege wurden abgeschnitten. Die Sicherheitskräfte suchten und konfiszierten Mobiltelefone, auf denen Photo- und Videomaterial von Vorfällen in Daraa gespeichert waren, und verhafteten und folterten Personen, auch ausländische Staatsbürger, die unter dem Verdacht standen, Bilder oder andere Informationen aus der Stadt herausbringen zu wollen. Einige Bezirke sind immer noch ohne Strom und von Kommunikationswegen abgeschnitten.
Human Rights Watch fordert die syrische Regierung auf, unverzüglich die massive Gewaltanwendung gegen Demonstranten und Aktivisten durch die Sicherheitskräfte zu unterbinden, willkürlich Inhaftierte freizulassen und Menschenrechtsgruppen und Journalisten ungehinderten Zugang zu Daraa zu gewähren. Darüber hinaus soll der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zielgerichtete Finanz- und Reisesanktionen gegen diejenigen Amtsträger verhängen, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. Auch soll der Sicherheitsrat die Untersuchung und strafrechtliche Verfolgung der massiven, weit verbreiteten und systematischen Menschenrechtsverletzungen in Syrien einfordern.
„Die syrische Regierung hat alles daran gesetzt, die blutigen Repressionen in Daraa zu vertuschen“, so Whitson. „Aber derart abscheuliche Verbrechen lassen sich nicht unter den Teppich kehren. Früher oder später werden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen.“