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Kosovo: Das Strafrechtssystem lässt die Opfer im Stich

Rechtsstaatlichkeit muss in den Statusverhandlungen eine zentrale Rolle spielen

Das Strafrechtssystem versagt selbst nach sieben Jahren internationaler Verwaltung dabei, den Opfern im Kosovo Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Der zukünftige Status des Kosovo ist derzeit Gegenstand intensiver Verhandlungen unter Vermittlung der internationalen Gemeinschaft.

Der 74-seitige Bericht mit dem Titel: "Not on the Agenda: The Continuing Failure to Address Accountability in Kosovo Post-March 2004" untersucht die strafrechtlichen Folgen der gewalttätigen Ausschreitungen, zu denen es im März 2004 in der Provinz kam. An diesen Unruhen waren über 50.000 Menschen beteiligt, hunderte Angehöriger von Minderheiten wurden verletzt und tausende aus ihren Häusern vertrieben.

"Über die strafrechtliche Verfolgung vergangener Verbrechen wird gegenwärtig nicht verhandelt", sagt Holly Cartner, Direktorin der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. "Aber den Status des Kosovo festzulegen, ohne das Justizsystem zu reformieren, wird die Zukunft der Provinz vergiften."

Die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen, die im Zusammenhang mit den Ausschreitungen vom März 2004 begangen wurden, macht nur mäßige Fortschritte, obwohl ihr im Justizsystem höchste Priorität eingeräumt wurde. Nachdem mehr als zwei Jahre vergangen sind, wurde lediglich gegen 426 Personen im Zusammenhang mit den Gewalttätigkeiten Anklage erhoben, hauptsächlich wegen weniger schwerer Vergehen wie Diebstahl. Nur in etwas mehr als der Hälfte dieser Fälle liegen endgültige Urteile vor.

Die strafrechtliche Reaktion auf die Ausschreitungen vom März 2004 ist ein guter Maßstab, an dem sich der allgemeine Fortschritt beim Aufbau rechtsstaatlicher Verhältnisse in der Provinz ablesen lässt. Nach beinahe sieben Jahren internationaler Verwaltung sollten die Behörden genügend Zeit gehabt haben, sich um die Mängel in den gesetzlichen Rahmenbedingungen, bei der Polizei, den Strafverfolgungsbehörden und den Gerichten zu kümmern. Darüber hinaus versprach die internationale Gemeinschaft nach den Ereignissen vom März 2004 einstimmig, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen würden.

Der Bericht untersucht, warum viele der Täter nicht bestraft wurden. Schlüsselfaktoren sind unter anderem:

• unzureichende Vorbereitung und Ausbildung für die weitreichende Reform des Strafrechtssystems, die drei Wochen nach den Ausschreitungen eingeführt wurde - so erhielten etwa die Staatsanwälte eine zentrale Rolle bei den Ermittlungen, wodurch Verantwortlichkeiten verlagert wurden, auf die die Beteiligten nicht ausreichend vorbereitet waren;

• Schaffung einer speziellen, gesonderten internationalen Polizeioperation, um die Ereignisse vom März 2004 zu untersuchen - sie war unzureichend, vom allgemeinen Ermittlungsprozess isoliert und scheiterte letztendlich;

• ineffektive Polizeiarbeit, mit mangelnder Nachuntersuchung, schlechter Koordination der internationalen und nationalen Polizeikräfte und mangelhafter Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft;

• ungenügender Zeugenschutz;

• mangelhafte Überwachung und ungenügendes Setzen von Prioritäten bezüglich des Strafrechtssystems durch die UN-Verwaltung im Kosovo.

"Niemand sollte so tun, als sei es einfach, rechtsstaatliche Strukturen im Kosovo aufzubauen", sagt Cartner. "Aber es gibt viele grundlegende Schritte, wie zum Beispiel die Ausbildung der Staatsanwälte und die Zusammenarbeit zwischen den Institutionen , die heute weiter fortgeschritten sein könnten."

Die unzureichende strafrechtliche Reaktion auf die Gewalt vom März 2004 legt eines der größten Probleme offen, dem sich der Kosovo momentan gegenübersieht: weit verbreitete Straflosigkeit für Verbrechen, insbesondere wenn ein politischer oder ethnischer Hintergrund vorliegt. Die Bilanz der Strafverfolgung von Kriegsverbrechen und ethnisch motivierten Verbrechen vor dem März 2004 ist ebenfalls mangelhaft.

Dadurch setzt sich der Kreislauf von Straflosigkeit und dem Eindruck bei allen Bevölkerungsgruppen im Kosovo – der Mehrheit ebenso wie der Minderheiten – fort, dass das Strafrechtssystem weder zuverlässig ist noch dem Volk dient. Minderheiten, insbesondere die Serben im Kosovo, haben weniger Vertrauen denn je, sicher in der Region leben zu können.

Der Bericht von Human Rights Watch hebt auch das Fehlen einer effektiven Kommunikationsstrategie hervor, die die betroffenen Bevölkerungsgruppen über die Ergebnisse der Strafverfolgung in Zusammenhang mit der Gewalt vom März 2004 informieren könnte. Auch ist das Strafrechtssystem nicht transparent. Dies erschwert Einzelpersonen den Zugang zu grundlegenden Informationen über das Ergebnis von Strafverfahren und macht es für Gruppen schwieriger, das System insgesamt zu beobachten.

Der Bericht fordert die Hauptakteure im Kosovo auf, darunter die Vereinten Nationen, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die Polizei und die provisorische Regierung, sofort Maßnahmen einzuleiten, um die Mängel im Strafrechtssystem zu beheben. Dies beinhaltet, eine ausreichende Kontrolle der Gerichte zu garantieren, einen Aktionsplan für die Einrichtung einer Polizeiabteilung zu entwickeln, die direkt mit der ermittelnden Staatsanwaltschaft kooperiert, die Zusammenarbeit zwischen der nationalen Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Gerichten zu verbessern sowie einen effektiveren Zeugenschutz zu gewährleisten.

Der Bericht fordert die aus sechs Ländern bestehende Kontaktgruppe und die Europäische Gemeinschaft dringend auf, der strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechen bei den Kosovo-Verhandlungen einen hohen Stellenwert einzuräumen. Dabei soll auch sicher gestellt werden, dass ein funktionierendes Strafrechtssystem von allen Beteiligten als wesentlicher Bestandteil akzeptiert wird, um die Statusverhandlungen erfolgreich beenden zu können. Darüber hinaus sollen die notwendigen Mittel bereit gestellt werden, um ein effektives System zur Umsiedlung und zum Schutz von Zeugen zu schaffen.

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