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Palästinenser tragen Brot durch stark von Bomben zerstörte Straβen nach Israels Luftangriffe gegen Gaza-Stadt am 10. Oktober 2023.” © 2023 Mahmud Hams/AFP via Getty Images

Sari Bashi, Programm-Direktorin von Human Rights Watch, im Gespräch mit Isaac Chotiner, The New Yorker.

Am Freitag hat Israel mehr als eine Million Palästinenser*innen, die im nördlichen Gazastreifen leben, dazu aufgerufen, ihre Häuser zu evakuieren. Gleichzeitig setzte Israel seine Bombardierung fort, um die Hamas zu vernichten, die Terrorgruppe, die am vergangenen Wochenende über 1.300 Israelis brutal ermordet hat. Die Vereinten Nationen haben erklärt, dass eine Umsiedlung so vieler Zivilist*innen aus einem derart dicht besiedelten Gebiet „unmöglich“ ist; bislang sind bereits über 2.400 Palästinenser*innen getötet worden. Um die Situation in Gaza besser zu verstehen, habe ich mit Sari Bashi, der Programmdirektorin von Human Rights Watch, telefoniert. Sie ist auch Mitbegründerin der Organisation Gisha, die sich mit Menschenrechtsfragen im Gazastreifen befasst. Sie hält sich derzeit im Westjordanland auf. Während unseres Gesprächs, das wir etwas gekürzt und für eine bessere Verständlichkeit überarbeitet haben, sprachen wir über ihre Bedenken hinsichtlich der israelischen Militäraktion, die Herausforderungen bei der Evakuierung des Gazastreifens und darüber, wie Menschenrechtsverteidiger*innen mit verschiedenen Arten von Gräueltaten zu kämpfen haben.

Dies ist nicht der erste israelische Einmarsch in den Gazastreifen, seit die Hamas 2007 die Kontrolle über das Gebiet übernommen hat. Welche Menschenrechtsstandards hat Israel bei früheren Einmärschen respektiert und welche nicht?

Bei früheren Angriffen hat das israelische Militär unverhältnismäßige und in einigen Fällen wahllose Angriffe auf Zivilist*innen verübt. Das Kriegsrecht verlangt von den beteiligten Truppen, dass sie es vermeiden, Zivilist*innen vorsätzlich anzugreifen. Auch sollen Angriffe vermieden werden, bei denen nicht zwischen Zivilbevölkerung und Kombattanten unterschieden werden kann. Insbesondere im Gazastreifen, einem dicht besiedelten städtischen Gebiet, ist es vorhersehbar, dass bei einem massiven Einsatz von Explosivwaffen Zivilist*innen sterben, auch dass Kinder sterben. Und genau dies ist in den letzten Tagen geschehen, ebenso wie bei den meisten Angriffen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben.

Die israelische Regierung behauptet, dass sie die Menschen vorher aufgerufen hat, sich aus dem Gebiet zu entfernen, und dass sie nicht direkt auf Zivilist*innen zielt. Stattdessen heißt es, dass sie auf Hamas-Terroristen abzielt und versucht, Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Stimmen Sie dem zu und was haben Sie hierzu in den letzten Jahrzehnten beobachtet?

Ich bin da anderer Meinung. Ich denke, dass die israelische Armee in vielen Fällen offen auf Zivilist*innen zielt, nur dass sie diese nicht als solche anerkennt. Es gab einen Angriff auf eine Polizeistation, in der Polizeianwärter ihren Abschluss machten. Hunderte von Menschen wurden getötet. Das war im Jahr 2008. Die Tatsache, dass diese Menschen für die von der Hamas geführte Regierung arbeiteten, macht sie nicht zu Kombattanten. In anderen Fällen griff die israelische Armee auch politische Führer der Hamas an, was nach internationalem Recht nicht zulässig ist. Ich denke jedoch, dass die meisten der schrecklichen Schäden durch wahllose und unverhältnismäßige Angriffe auf zivile Gebiete entstanden sind.

Es gab eine Militäroperation, bei der die israelische Regierung mit Stolz behauptete, sie habe hunderttausend Haushalte in Gaza vorab benachrichtigt. Das ist interessant, denn das ist etwa die Hälfte aller Haushalte, die es in Gaza gibt. Wenn man also den Menschen mitteilt, dass man ihr Gebiet bombardieren wird, es aber keinen sicheren Ort gibt, an dem sie Schutz finden können, dann ist das keine wirksame Warnung. Und selbst wenn Zivilist*innen gewarnt werden, darf man sie nicht ins Visier nehmen, wenn sie nicht fliehen können oder wollen. Und was die Unverhältnismäßigkeit der Angriffe angeht, so haben wir eine Reihe von Angriffen erlebt, die als Kriegsverbrechen einzustufen sind, weil die Armee so dicht besiedelte Städte und Gebiete bombardiert hat, dass der Tod von Zivilist*innen und Kindern zu erwarten war. Das ist ein Muster, das wir leider immer wieder beobachten.

Um es klar zu sagen: Die Kämpfer in Gaza - einschließlich der Hamas und des Islamischen Dschihad - begehen eindeutig Kriegsverbrechen, weil sie wahllos Raketen auf israelische Städte abfeuern. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass es sich dabei um Kriegsverbrechen handelt, da sie direkt auf Zivilist*innen abzielen. Die israelische Regierung bemüht sich zwar um mehr Verschleierung, aber ich kann nicht sagen, dass sie sich selbst an das Kriegsrecht hält. Die wirklich schrecklichen Fälle von Toten und Verletzten und die Zerstörung von Häusern, Schulen und Kliniken in Gaza sind ein Hinweis darauf, dass Israel sich tatsächlich nicht an die Kriegsgesetze hält.

Sie sind seit fast zwei Jahrzehnten in Gaza tätig - wie hat sich die humanitäre Situation dort verändert bzw. verschlechtert? Offensichtlich gab es während dieser Zeit eine Blockade.

Der Gazastreifen wurde nach dem Krieg von 1948 abgetrennt, was dazu führte, dass Hunderttausende von Geflüchteten in einem sehr dicht besiedelten Gebiet lebten. Im Gazastreifen leben 2,2 Millionen Menschen, siebzig Prozent von ihnen sind Geflüchtete, und fast die Hälfte von ihnen sind Kinder. In den letzten sechzehn Jahren hat die israelische Regierung die Grenzübergänge zum und aus dem Gazastreifen geschlossen, den Warenverkehr eingeschränkt und die Einreise nur unter „außergewöhnlichen humanitären Umständen“ erlaubt.

Die Wirtschaft im Gaza-Streifen ist also abgestürzt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei knapp 50 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist niedriger als 1994. Die Menschen in Gaza können nicht ausreisen, um zu studieren oder zu arbeiten. Sie können niemanden einreisen lassen, um dort zu arbeiten oder andere Möglichkeiten nutzen, und achtzig Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Situation hat den Horizont vor allem der jungen Menschen drastisch eingeschränkt. Es handelt sich um eine sehr junge Bevölkerung, für die es schwierig ist, ins Ausland zu reisen. Die meisten von ihnen haben den Gazastreifen noch nie verlassen. Sie können keine Verwandten besuchen, in einigen Fällen nicht einmal unmittelbare Familienangehörige im Westjordanland oder in Israel. Sie dürfen auch nicht an palästinensischen Universitäten im Westjordanland studieren. Diese Situation ist eine der Ursachen für die derzeitige Gewalt.

Bei früheren Angriffen hat Israel erklärt, es wolle in den Gazastreifen eindringen, um die Hamas zu zerstören oder sie zu schwächen. Diese Operation scheint viel größer zu sein. Welche konkreten Bedenken haben Sie, und kann man diese Operation mit früheren Aktionen in Gaza vergleichen?

Die vergangene Woche war beispiellos. Die Angriffe, welche die Hamas und andere bewaffnete Gruppen im Gazastreifen am Samstag auf israelische Zivilist*innen verübt haben, sind einmalig in der Geschichte Israels. Wir sprechen von Kämpfern, die Kinder entführten, die ältere Menschen und Babys entführten, Familien aus ihren Häusern trieben und diese niederbrannten; Kämpfer, die ein Massaker auf einem Musikfestival verübten, bei dem Hunderte von israelischen Zivilist*innen getötet wurden. So etwas gab es noch nie. Die militärische Reaktion Israels auf die Angriffe ist ebenso beispiellos.

Die israelische Regierung hat die Versorgung der 2,2 Millionen Einwohner*innen des Gazastreifens mit Lebensmitteln, Strom, Treibstoff und Wasser blockiert. [Am Sonntag teilte das Weiße Haus mit, dass Israel die Wasserversorgung im südlichen Gazastreifen wieder aufgenommen hat.] Die Regierung gab an, dass sie die Menschen im Norden - die Hälfte der Bevölkerung - aufgefordert habe, sich in den Süden zu begeben. Das sind eine Million Menschen. Dies geschah unter Umständen, unter denen es keinen sicheren Ort gab, zu dem die Menschen sich begeben konnten. Zudem können viele Menschen nicht evakuiert werden konnten, etwa ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen oder Menschen, die im Krankenhaus lagen.

Aber all dies ist kein Präzedenzfall. In der Vergangenheit hat die israelische Regierung zugesichert, humanitäre Lieferungen zuzulassen; jetzt hat sie offen gesagt, dass sie eine kollektive Bestrafung gegen die Menschen in Gaza vornimmt und dass sie die Zivilbevölkerung von der Versorgung abschneiden wird, um die Hamas und den Islamischen Dschihad zu bestrafen.

Sie haben den Aufruf zur Evakuierung erwähnt. Unabhängig von den Besonderheiten dieses Konflikts stellt sich die Frage, wie man auf eine humane Weise mit der Zivilbevölkerung in Kriegsgebieten umgehen sollte.

Das Kriegsrecht schreibt vor, dass Kriegsparteien vor Angriffen, welche die Zivilbevölkerung treffen könnten, wirksam warnen müssen, sofern die Umstände dies zulassen. Damit eine Warnung wirksam ist, muss sie den Zeitpunkt der Warnung und die Möglichkeiten der Zivilist*innen, das Gebiet zu verlassen, berücksichtigen. Wenn man ihnen nicht genügend Zeit gibt, wird die Warnung als nicht wirksam angesehen. Zivilist*innen, die das betroffene Gebiet nicht verlassen, entweder weil sie es nicht können oder weil sie nicht wollen, werden damit nicht zu legitimen Zielen. Sie sind nach wie vor durch das humanitäre Völkerrecht voll geschützt. Die israelische Armee muss also auch nach einer Warnung alle erdenklichen Vorkehrungen treffen, um Zivilist*innen und ihr Eigentum in der so genannten Evakuierungszone zu schützen.

Meine Sorge ist, dass das israelische Militär sagt: „Es ist die Schuld der Hamas, wenn diese Leute nicht evakuiert werden“, was mich befürchten lässt, dass sie sich somit berechtigt sehen, auch die Zivilist*innen in den nicht evakuierten Gebieten zu treffen. [Die Hamas hat die Palästinenser*innen aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen.] In der Evakuierungszone befindet sich zudem das größte Krankenhaus des Gazastreifens, in dem allein in den letzten Tagen mehr als 6.000 Verletzte behandelt wurden. Ich meine, was erwarten sie von den Menschen? Erwarten sie, dass die Frau, die auf der Intensivstation liegt, evakuiert wird? Es gibt viele Menschen, die nicht evakuiert werden können, und es gibt viele Menschen, die nicht evakuiert werden wollen.

Für viele der Geflüchteten im Gazastreifen, vor allem für ältere Menschen, die sich noch an 1948 erinnern können, fühlt sich dies wie eine Wiederholung dessen an, was die Palästinenser*innen die Nakba nannten, als sie aufgefordert wurden, zu gehen oder zu fliehen, und man sie nie zurückkehren ließ. Und die Tatsache, dass das israelische Militär auch Ägypten aufgefordert hat, seine Grenze zu öffnen, und die Zivilbevölkerung in Gaza zur Flucht nach Ägypten aufgerufen hat, verstärkt diese Ängste noch.

Was sagt Israel noch darüber, wohin die Menschen gehen können?

Die Menschen, die ihre Häuser verlassen haben, sind in den Süden geflohen. Die israelische Regierung hat am nördlichen Ende des Gazastreifens eine Linie gezogen und gesagt: Alles oberhalb dieser Linie, einschließlich Gaza-Stadt, einschließlich der Flüchtlingslager, die voller Menschen sind, einschließlich des Hauptkrankenhauses, alles oberhalb dieser Linie müsst ihr verlassen. Viele Menschen haben Angst und sind zu Verwandten und in Häuser im südlichen Teil des Gazastreifens geflohen. Viele Menschen können aber nicht fliehen. Ich hoffe sehr, dass die israelische Armee versteht, dass die Menschen der Aufforderung zur Evakuierung nur sehr schwer und in einigen Fällen gar nicht nachkommen können. Diese Warnung vorab entbindet Israel nicht von der Verantwortung, alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um Zivilist*innen nicht zu schaden.

Der israelische Staatspräsident Isaac Herzog antwortete am Freitag auf eine entsprechende Frage: „Es stimmt nicht, dass die Zivilisten nichts wissen und nicht beteiligt sind. Das ist absolut nicht wahr. Sie hätten sich erheben können, sie hätten gegen das böse Regime kämpfen können, das den Gazastreifen durch einen Staatsstreich übernommen hat.“ Inwieweit steht dies im Widerspruch zum Völkerrecht - dem Gedanken, dass Zivilist*innen eine gewisse Verantwortung für die politische Situation tragen, in der sie sich befinden?

Das humanitäre Völkerrecht verbietet es, Menschen für Taten zu bestrafen, die sie nicht begangen haben. In diesem Fall geht es um die Bestrafung von Zivilist*innen für die Aktionen der Hamas. Wenn der Präsident das sagt, ist das besonders beunruhigend, weil fast die Hälfte der Menschen im Gazastreifen Kinder sind, die nun für die Taten erwachsener Kämpfer bestraft werden. Das internationale Recht ist da sehr eindeutig. Kollektivstrafen sind unrechtmäßig. Es ist erlaubt, Kombattanten zu bestrafen. Man darf die Zivilbevölkerung nicht bestrafen, indem man ihr grundlegende Güter vorenthält, und es ist ausdrücklich verboten, Hunger als Kriegswaffe einzusetzen. Israel ist auch verpflichtet, den Menschen in Gaza, die humanitäre Hilfe benötigen, diese zukommen zu lassen. Das israelische Militär hat also die Pflicht, proaktiv dafür zu sorgen, dass die Zivilbevölkerung und der Gazastreifen angemessen versorgt werden, und jegliche humanitäre Hilfe zu erleichtern. Stattdessen blockiert es absichtlich diese humanitäre Hilfe, auch die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser.

Israel hat gesagt, dass die Hamas Zivilist*innen als Schutzschilde benutzt. Ist das ein Kriegsverbrechen?

Ja, wir haben ernsthafte Bedenken, dass die Hamas und andere Kombattanten keine angemessenen Maßnahmen zum Schutz von Zivilist*innen ergreifen. Wenn sie also Waffen in zivilen Gebieten lagern, wenn sie ihre Kampfhandlungen in dicht besiedelten zivilen Gebieten konzentrieren, setzen sie Zivilist*innen einer Gefahr aus, und das ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Das gibt der israelischen Regierung jedoch nicht das Recht, ihre eigene Verpflichtung zu missachten, unverhältnismäßigen oder wahllosen Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden.

Sie sagten zu Beginn unseres Telefonats, Sie sind derzeit im Westjordanland. Welche Bedenken haben Sie in Bezug auf das Westjordanland in der nächsten Zeit angesichts der verstärkten Bombardierung des Gazastreifens?

Schon vor dieser Woche gab es eine Eskalation der Gewalt im Westjordanland, in erster Linie durch israelische Soldaten und Siedler*innen, die Palästinenser*innen angriffen, und durch einige bewaffnete Palästinenser*innen, die Israelis, sowohl Soldaten als auch Zivilist*innen, angriffen. Ein Teil der Besorgnis besteht darin, dass die Regierung Netanjahu nicht nur keine Bereitschaft gezeigt hat, die Gewalt durch die israelischen Siedler*innen einzudämmen, sondern sogar Gewaltakte israelischer Siedler*innen gegen Palästinenser*innen unterstützt hat. Das alles wird unter den derzeitigen Umständen zu einem Pulverfass. In der vergangenen Woche kam es zu einem Anstieg der Gewalt, einige Menschen wurden erschossen, es gab weitere Anschlagsversuche. Ich befürchte, dass sich die Situation im Gazastreifen weiter verschlimmern wird, und die israelische Regierung ist an einer Entspannung nicht interessiert. Viele Menschen sind hier also besorgt.

Sind Sie der Meinung, dass das Verhalten Israels im Gazastreifen nicht der Norm entspricht, wie sich demokratische Länder wie die Vereinigten Staaten im Krieg verhalten? Und mit Norm will ich nicht sagen, dass es eine akzeptable Norm ist. Aber haben Sie das Gefühl, dass Israel tatsächlich außerhalb dieser Norm liegt?

Es gibt einige demokratische Länder, die schreckliche Kriegsverbrechen begehen, und es gibt einige Länder, die politisch sehr repressiv sind, die aber nicht gegen Kriegsgesetze verstoßen. Die einzige Norm, die ich anerkenne, ist die Norm, die alle Länder der Welt unterschrieben haben, nämlich das humanitäre Völkerrecht. Die Art und Weise, wie etwas zu einer verbindlichen Anforderung im Rahmen des Kriegsrechts wird, besteht darin, dass fast alle Länder der Welt übereinstimmen, dass etwas eine verbindliche Anforderung ist. Fast alle Länder der Welt sind sich also einig, dass es nicht erlaubt ist, Zivilist*innen anzugreifen, und durch diese Praxis, keine Zivilist*innen anzugreifen, wurde sie zu einer Regel.

Ich würde sagen, dass die israelische Regierung leider Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Apartheid und Verfolgung begeht, die zu den Hauptursachen der aktuellen Gewalt gehören. Und diese zugrundeliegende Unterdrückung ist ebenfalls eine der Ursachen dieser Gewalt. Damit möchte ich jedoch keine Form der Gewalt irgendwie rechtfertigen.

In den Vereinigten Staaten wurde viel darüber geredet, dass die Hamas aufgrund der Brutalität des Massakers vom letzten Wochenende auf einer anderen Stufe der Barbarei steht als Israel, und es wurde im gesamten amerikanischen politischen Spektrum das Gefühl geäußert, dass Israel derartige Taten nicht begeht. Gleichzeitig hat Israel im Rahmen seiner Reaktion wahrscheinlich schon mehr Menschen, mehr Zivilist*innen und mehr Kinder getötet als die Hamas am vergangenen Wochenende. Mich würde interessieren, wie Sie mit diesen beiden Gedanken umgehen: Dass die vorsätzliche Folterung oder Tötung von Zivilist*innen und Kindern eine beispiellos schreckliche Sache ist, aber Israel gleichzeitig auch ein illegales Verhalten an den Tag legt, das dazu führen wird, dass noch mehr Menschen getötet werden.

Die völkerrechtlichen Verpflichtungen sind nicht reziprok. Wenn die andere Seite Kriegsverbrechen begeht, bedeutet das nicht, dass man selbst auch Kriegsverbrechen begehen kann. Wir machen keine Vergleiche zwischen verschiedenen Arten von Kriegsverbrechen. Die Hamas tötet vorsätzlich eine große Zahl an Zivilist*innen, sie nimmt Zivilist*innen als Geiseln und droht sogar mit deren Hinrichtung - das sind Kriegsverbrechen. Das rechtfertigt aber nicht, dass die israelische Regierung ihrerseits Kriegsverbrechen begeht. Das bereitet mir große Sorge.

Lassen Sie es mich so sagen: Unsere Aufgabe bei Human Rights Watch ist es, einen sehr engen Raum offen zu halten, in dem die universellen Prinzipien der Menschlichkeit und der Menschenwürde gewahrt werden, egal um wen es geht. Und ich bin besorgt darüber, dass die Vereinigten Staaten die schrecklichen Taten der Hamas vom Samstag zwar angemessen verurteilen, dann aber vergessen, dass dieselben Prinzipien des Schutzes von Zivilist*innen auch für die israelische Militäroperation in Gaza gelten.

Ich denke, Sie haben in diesem Gespräch eine interessante Gratwanderung unternommen, denn es scheint, dass Sie den Menschen auch vergangene Taten ins Bewusstsein zurückholen wollen. Sie haben über die Nakba gesprochen und darüber, dass die Menschen fliehen und Angst davor haben, dass sich die Geschichte wiederholt, und darüber, was am letzten Wochenende passiert ist. Sie haben erwähnt, dass Israel eine gewisse Verantwortung für die langfristige Situation im Westjordanland und im Gazastreifen trägt. Gleichzeitig sagen Sie aber auch, dass dies aus der Perspektive der Menschenrechte in gewisser Weise irrelevant ist und dass die Menschen die Verantwortung haben, ihren Menschenrechtsverpflichtungen nachzukommen, unabhängig davon, was in der Vergangenheit geschehen ist.

Ganz genau. Und natürlich verstehe ich, dass die Menschen angesichts der schrecklichen Taten vom Samstag im Süden Israels wütend sind. Sie sind wütend, weil Kinder zur Zielscheibe wurden. Sie sind wütend, weil ältere Menschen entführt wurden. Sie sind wütend, weil Zivilist*innen zu Schaden gekommen sind und grundlegende Prinzipien des menschlichen Anstands mit Füßen getreten wurden. Die Reaktion sollte dann aber nicht darin bestehen, die Grundprinzipien des menschlichen Anstands und den Schutz der Zivilist*innen auf der anderen Seite ebenfalls zu missachten. Es sollte eigentlich unproblematisch sein, das auszusprechen, das ist es aber nicht. Und ich denke, ich möchte die Menschen ermutigen, darüber nachzudenken, ob das Argument „Die sind schlimmer als wir“ besonders konstruktiv oder moralisch fundiert ist.

Oder vielleicht ist es, selbst wenn es moralisch vernünftig ist, gerade jetzt nicht konstruktiv, weil wir alle immer noch dengleichen universellen Ideen in unserem Verhalten folgen müssen.

Und zu diesen universellen Ideen gehören sehr strenge Normen der Nicht-Reziprozität. Man darf keine Zivilist*innen angreifen, nur weil die andere Partei Zivilist*innen angreift. Man hat eine Verpflichtung der Zivilbevölkerung gegenüber. Es kein Pakt zwischen Kämpfern, sondern ein Pakt für die Menschlichkeit.

 

 
 

 

 

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