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Osman Kavala © 2017 Private

Das drakonische Urteil gegen den Mäzen Osman Kavala zeigt: Die Türkei tritt Menschenrechte mit Füßen – und hofft damit durchzukommen, weil Europa vom Ukrainekrieg abgelenkt ist. Es ist Zeit für eine härtere Gangart.

Das drakonische Urteil gegen den Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala von letzter Woche, gilt als erschreckender Beweis für den autokratischen Weg, den die Türkei unter der Präsidentschaft Erdoğans eingeschlagen hat: Kavala droht lebenslange Haft ohne Bewährung; vier weitere Angeklagte könnten 18 Jahre Haft bekommen; der Fall steht im Kontext der Massenproteste im Istanbuler Gezi-Park vor zehn Jahren.

Deutlich wird erneut: Wilde Verschwörungstheorien und die Bereitschaft, Menschen in Schauprozessen zu Sündenböcken zu machen, sind in der Türkei zum probaten Mittel geworden, um jeden in Schach zu halten, der Erdoğans Autorität infrage stellen könnte.

Darüber hinaus hat der Fall auch internationale Auswirkungen: Er zeigt, dass die Türkei das Vertrauen ihrer europäischen und US-amerikanischen Verbündeten auf Spiel setzt. Immer wieder testet Ankara die Grenzen dessen aus, was es sich erlauben kann, indem es Menschenrechte mit Füßen tritt und ein Höchstmaß an rechtlicher Unberechenbarkeit schafft.

Unberechenbarkeit Ankaras

Die Drohgebärden und der Trotz, den die Türkei auch hier an den Tag gelegt hat, sind Teil einer Strategie: Ankara entscheidet sich für Unberechenbarkeit bei international relevanten Themen, um im Gegenzug Zugeständnisse herauszuschlagen.

Der Gezi-Prozess, der im Zentrum dieses Falles steht, basiert auf einer willkürlichen Umdeutung: Völlig spontane und ungeplante Proteste gegen die Regierung wurden auf perverse und unverfrorene Weise als Vorhaben eines Mannes dargestellt, die Regierung zu stürzen.

Als Geschäftsmann hat Osman Kavala die Unternehmensgruppe seines Vaters geerbt, bekannt ist er aber vor allem für seine zivilgesellschaftliche Arbeit durch seinen Verein Anadolu Kültür (Anatolische Kultur), der die Künste als Medium für bürgerliches Engagement und gesellschaftlichen Dialog fördert. Das ist wohl kaum politischer Aktivismus und hat absolut nichts mit Straßenprotesten zu tun.

Sanktionsverfahren des Europarats

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zweimal entschieden, dass Kavala aus der Haft entlassen werden sollte und dass es keine Beweise für die Anschuldigungen gegen ihn und die Mitangeklagten gibt. Vor allem aber kam der Europäische Gerichtshof zu dem Schluss, dass seine Inhaftierung politisch motiviert ist.

Die Weigerung Ankaras, Kavala freizulassen und das Verfahren einzustellen, veranlasste den Europarat im Februar 2022, ein Sanktionsverfahren gegen die Türkei einzuleiten. Dieses »Vertragsverletzungsverfahren« ist schwerwiegend und selten, bisher wurde es nur einmal gegen Aserbaidschan angewendet. Nichtsdestotrotz wurden Kavala und die anderen nur zwei Monate später verurteilt, und diese Urteile sind nun rechtskräftig.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die verbindlichen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte missachtet. Das langsame Fortschreiten des Vertragsverletzungsverfahrens bringt es allerdings mit sich, dass tatsächliche Konsequenzen für das trotzige Verhalten der Türkei noch ausstehen. Denkbar sind hier etwa der Verlust des Stimmrechts in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und andere Sanktionen, bis hin zu einem Ausschluss aus dem Block.

Die breit angelegte Strategie der Türkei, ihrerseits sogar Zugeständnisse zu erzwingen, ist offensichtlich. Nach Russlands Einmarsch in der Ukraine und dem beschleunigten NATO-Beitrittsprozess für Schweden und Finnland bremste Erdoğan. Er bestand darauf, dass Schweden nur Mitglied werden könne, wenn das Land gegen bestimmte Kurden und Anhänger des in den USA lebenden Klerikers Fethullah Gülen vorgehe, die die Türkei als Terroristen betrachtet.

Auf dem NATO-Gipfel in Vilnius im Juli stellte Erdoğan sich dann ins Rampenlicht, um anzudeuten, dass die Ratifizierung des schwedischen Beitrittsgesuches durch sein Land unmittelbar bevorstehe – um dann den Prozess wieder zu verzögern: Schweden erfülle die Bedingungen doch noch nicht. Die Türkei geht bei all dem davon aus, die Europäer würden den Konflikt nicht gern weitertreiben, nachdem Russland in der Ukraine einmarschiert ist.

Dabei erlebt die Türkei gleichzeitig eine sich verschärfende Wirtschaftskrise. Sie hat es nicht geschafft, die Hyperinflation einzudämmen, und braucht, da sind sich die meisten Analysten einig, dringend amerikanische und europäische Direktinvestitionen. Erdoğan war Anfang September in New York auf der Jahrestagung der Vereinten Nationen und versuchte gemeinsam mit Finanzminister Mehmet Şimşek, Banken und Finanzunternehmen zu umwerben.

Wirtschaftskrise in der Türkei

Wie aber können Bemühungen um langfristige Investitionen erfolgreich sein, wenn Investoren – auf der Suche nach Berechenbarkeit und Stabilität – erleben, dass türkische Gerichte die Rechtsstaatlichkeit ignorieren? Dass sie auf Geheiß des Präsidenten offensichtlich unbegründete Entscheidungen treffen, um Menschen wie Osman Kavala ins Gefängnis zu bringen?

Diese Menschenrechtskrise hat schwerwiegende Folgen für die Bürgerinnen und Bürger in der Türkei, sie birgt aber auch die Gefahr eines Übergreifens auf andere Bereiche, und die Aushöhlung internationaler Rechtsstaatlichkeitsstandards. Deutschland und die anderen Länder der EU müssen sich entschließen, Fälle, wie den von Kavala und seinen Mitangeklagten in den Mittelpunkt zu stellen, wenn sie auf höchster Ebene mit der Türkei zu tun haben. Die Urteile müssen aufgehoben werden. Es ist längst überfällig, dass die Türkei echte Konsequenzen für ihre Rechtsbrüche zu spüren bekommt.

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