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Yves Jean-Bart, der damalige Präsident des haitianischen Fußballverbands, kommt mit einer Gesichtsmaske zu einer Gerichtsanhörung im haitianischen Croix-des-Bouquets, um sich zu den Vorwürfen zu äußern, er habe Sportlerinnen im nationalen Trainingszentrum des Landes missbraucht. Seine lebenslange Sperre wurde am 14. Februar 2023 vom Schiedsgericht für Sport aufgehoben. 21. Mai 2020. © 2020 AP Photo/Dieu Nalio Chery

(New York) - Der internationale Sportgerichtshof (CAS) hat die lebenslange Sperre der FIFA und andere Sanktionen gegen Yves Jean-Bart, den ehemaligen Präsidenten des haitianischen Fußballverbands (FHF), zu Unrecht aufgehoben, erklärten Human Rights Watch und The Army of Survivors heute.

Der Weltfußballverband FIFA hatte Jean-Bart und eine Reihe seiner Vertreter und Mitarbeiter erstmals im Mai 2020 suspendiert. Im November 2020 wurde Jean-Bart auf Lebenszeit gesperrt, nachdem Ermittlungen, unter anderem durch die Spielergewerkschaft FIFPro, die Fälle von mindestens 34 mutmaßliche Opfern, darunter auch Kinder im nationalen Fußballtrainingszentrum, durch 10 mutmaßliche Missbrauchstäter, darunter Jean-Bart, dokumentiert hatten. Die FIFA sollte gegen das CAS-Urteil Berufung einlegen und dringend neue Maßnahmen ergreifen, um Zeug*innen bei sexuellem Missbrauch in Haiti und weltweit zu schützen.

„In Haiti haben die FIFA und der Fußballsport Yves Jean-Bart enorme Macht verliehen, auch um Sportlerinnen bereits im Kindesalter zu missbrauchen und seine Verbrechen mittels Morddrohungen gegenüber Betroffenen und Familienmitgliedern zu vertuschen“, sagte Minky Worden, Direktorin für globale Initiativen bei Human Rights Watch. „In seiner Anhörung hat der CAS es versäumt, einen grundlegenden Zeugenschutz zu etablieren, obwohl bekannt war, dass viele Sportler*innen und Verbandsmitarbeiter*innen Morddrohungen erhalten hatten.“

Der internationale Sportgerichtshof (CAS) mit Sitz in Lausanne ist ein internationales Gremium zur Beilegung von Streitigkeiten im Sport durch Schiedsverfahren. Er hat sich als unzureichender Rechtsmechanismus erwiesen, insbesondere für Sportlerinnen. Das Mandat des Schiedsgerichts sieht keine Berücksichtigung der Menschenrechte vor, die Richter*innen verfolgen keinen traumainformierten Ansatz und haben keine entsprechende Ausbildung. Zudem trifft der Gerichtshof seine Entscheidungen auf der Grundlage der Regeln der Sportverbände, die in vielen Fällen die Menschenrechte außer Acht lässt.

Die Entscheidung zeigt, dass die FIFA systematisch dabei versagt hat, Strukturen zu schaffen, die eine sichere Meldung von Missbrauch ermöglichen und Zeug*innen, Whistleblower, Betroffene und Familienmitglieder, die Beweise liefern, schützen. Die FIFA hat die Verantwortung und die Sorgfaltspflicht, Athlet*innen und Opfer von Missbrauch zu schützen. Sie stützt sich dabei auf ihre Menschenrechtspolitik und das „FIFA Guardians“-Programm, das Fußballverantwortliche dazu anhält, „auf Bedenken bezüglich eines Kindes zu reagieren“ und „Richtlinien für die Identifizierung, Verhinderung und Minderung von Risiken für Kinder im Fußball“ festlegt.

Jean-Bart leitete Haitis nationalen Fußballverband und das „FIFA GOAL-Trainingszentrum“, das Centre Technique National in Croix-des-Bouquets, auch bekannt als „The Ranch“, wo vielversprechende Jungathlet*innen ab 12 Jahren trainierten. In den letzten drei Jahren haben sich Dutzende von Whistblowern, Zeug*innen und Betroffene an die FIFA, die britische Zeitung Guardian, Human Rights Watch, die FIFPro (die globale Gewerkschaft für Fußballer*innen) und die haitianischen Behörden gewandt, um die schweren Vorwürfe sexueller Übergriffe gegen Jean-Bart untersuchen zu lassen.

Es sind erschütternde Aussagen über Jean-Bart aufgetaucht, der junge Spielerinnen zum Sex mit ihm gezwungen hat, über die Beschlagnahmung von Pässen (ein Zeichen für Menschenhandel) und über bewaffnete Männer, von denen man annimmt, dass sie mit Jean-Bart in Verbindung stehen, die gedroht haben, jeden Menschen zu töten, der zu diesen Übergriffen aussagt.

Human Rights Watch und FIFPro befragten Dutzende von Zeug*innen und Betroffene, die aussagten, dass der Verbandspräsident junge Spielerinnen sexuell belästigte und zum Sex mit ihm zwang. Diese Nationalspieler*innen, Schiedsrichter*innen, Mitarbeiter*innen und Hinweisgeber*innen beschrieben einen Arbeitsplatz, der, wie eine Zeugin sagte, „geprägt von sexuellem Missbrauch und Ausbeutung war. Teenagerinnen wurden schwanger und bekamen Kinder vom Präsidenten. Alle Spieler, Funktionäre und Mitarbeiter des Zentrums wussten, was vor sich ging - und taten nichts, um uns zu schützen.“ Ein Sportler beschrieb das Arbeitsumfeld im haitianischen Verband als „Hölle auf Erden“.

Im November 2020 befand die FIFA-Ethikkommission Jean-Bart für schuldig, „seine Position missbraucht und Spielerinnen, darunter auch Minderjährige, sexuell belästigt und missbraucht zu haben“, und nannte seine Übergriffe „unentschuldbar und eine Schande“.

Die haitianischen Strafverfolgungsbehörden untersuchten die Beschwerden über sexuellen Missbrauch im Jahr 2020, doch Haiti befindet sich in einer tiefen politischen, humanitären und sicherheitspolitischen Krise, und das Justizsystem hat enorme Funktionsschwierigkeiten. Umso wichtiger ist es, dass Gremien wie der CAS und die FIFA dafür sorgen, dass Jean-Bart nicht in eine Position zurückkehrt, von der aus er weiterhin großen Schaden anrichten kann, ohne dass es eine Möglichkeit der Kontrolle oder Rechenschaftspflicht gibt.

„Seit Spielerinnen begonnen haben, sexuellen Missbrauch in Haitis nationalem Fußballverband zu melden, war jeder Schritt auf dem Weg dorthin für die Betroffenen unsicher“, sagte Julie Ann Rivers-Cochran, Geschäftsführerin von The Army of Survivors. „Die Wiedereinsetzung von Yves Jean-Bart bringt ihn nicht nur zurück in eine Machtposition, sondern schafft auch eine beängstigende Situation für die aktuell Betroffenen und alle haitianischen Fußballerinnen. Die FIFA und der CAS haben eine Fürsorgepflicht gegenüber betroffenen Spielern und Hinweisgebern. Sie müssen dafür sorgen, dass Missbrauchsfälle sicher gemeldet werden können, und sie müssen in Haiti und den vielen anderen nationalen Verbänden, in denen sexueller Missbrauch stattfindet, einen traumainformierten Ansatz anwenden. Sie können nicht behaupten, dass sie einen sicheren Ort für Sportler geschaffen haben, wenn die Wiedereinsetzung von Jean-Bart nur dazu führt, dass diejenigen, die Anzeige erstattet haben, weiter zum Schweigen gebracht und ihre Erlebnisse heruntergespielt werden.“

Eine dokumentierte Bedrohung eines Zeugen erfolgte am 4. und 5. April 2022, unmittelbar nach der CAS-Anhörung, als der Zeuge haitianisch-kreolische Textnachrichten erhielt:

Vergiss‘ nicht, dass du Familie in Haiti hast.... Du hast dich auf etwas eingelassen, das für dich und deine Familie gefährlich wird. Du bist in eine große Sache verwickelt. Du warst bei der FIFA.... Ich will ehrlich zu dir sein, wir haben deinen Sarg schon vorbereitet, denn ich werde dir persönlich den Schädel einschlagen. Du glaubst, die Geschichte würde so enden. Er wird nicht seinen Job verlieren und nichts tun. Ich weiß, wo ich dich finde, denk‘ an meine Worte.

In den Texten hieß es auch: „Ich habe gesehen, wie du und [Name eines anderen Zeugen geschwärzt] vor Dadou standen“, offenbar um zu zeigen, dass die Person, die die Drohung aussprach, bei der CAS-Anhörung anwesend war. Jean-Bart ist unter seinem Spitznamen „Dadou“ bekannt.

Von der ersten Beschwerde bis zu Jean-Barts Suspendierung und der Berufung vor dem CAS dokumentierten Human Rights Watch, der Guardian, die Deutsche Welle wiederholt, wie  Betroffene, Zeug*innen und Familienmitgliedern Todesdrohungen erhielten:

  • Betroffene des sexuellen Missbrauchs hatten sich Anfang 2020 erstmals an die FIFA gewandt, woraufhin der oberste Berater von FIFA-Präsident Gianni Infantino, Véron Mosengo-Omba, den haitianischen Verband kontaktierte, um dem Team von Jean-Bart die Details der Beschwerde mitzuteilen. Nach diesem Hinweis wurden Mitarbeiter*innen der FHF dabei beobachtet, wie sie Unterlagen beim Verband vernichteten. Spieler*innen, die hinter der Beschwerde vermutet wurden, erhielten Drohungen.
  • Im Mai 2020 veröffentlichte eine führende haitianische Menschenrechtsgruppe, das Nationale Netzwerk für die Verteidigung der Menschenrechte (Réseau National de Défense des Droits Humains, RNDDH), einen Bericht, in dem sexueller Missbrauch im haitianischen Fußballverband, die Beschlagnahmung von Spielerpässen und die Bedrohung von Zeug*innen dokumentiert wurden. Nach Angaben der Gruppe gingen die Pässe später an Jean-Bart. Journalist*innen und Quellen berichteten RNDDH, dass „zahlreiche“ Betroffene aufgrund von Drohungen nicht aussagen konnten.
  • Im Mai 2020 berichtete der Guardian, dass Missbrauchsopfer nach eigenen Angaben gewarnt wurden, nicht über den Missbrauch im Verband zu sprechen, und zitierte ein Opfer: „Ein Gangster hat uns angerufen. Wenn wir aussagen, wissen sie, wo sie unsere Onkel, Tanten und Cousins finden.“


Die globale Fußballergewerkschaft FIFPro erklärte: „Der Weg der haitianischen Spielerinnen und der Whistleblower war unglaublich prekär und schwierig. Diese jüngste Entwicklung wirft weitere Fragen über die Fähigkeit des Fußballs auf, wirksame Abhilfe für schwere Menschenrechtsverletzungen zu schaffen.“

In der CAS-Pressemitteilung heißt es, die Informationen von FIFPro und Human Rights Watch seien nicht „aussagekräftig genug“. Human Rights Watch wurde nicht gebeten, dem CAS Beweise vorzulegen, hat aber in den letzten drei Jahren immer wieder auf die Versäumnisse der FIFA hingewiesen, Kinder und andere Betroffene sowie Zeug*innen im haitianischen Fußballverband vor psychischen und physischen Schäden zu schützen.

Human Rights Watch und The Army of Survivors erklärten, dass das gesamte FIFA-Meldesystem und der CAS-Berufungsprozess nicht den von den Sportverbänden selbst geforderten Grundsätzen der Diversität und der Traumabewältigung entsprachen, was zu weiteren Traumata führte und eine Gefahr für die Betroffenen bedeutete. Ein auf die Opfer ausgerichteter Ansatz bedeutet, dass eine Politik der Schadensbegrenzung verfolgt wird, die gewährleistet, dass emotionale, physische und digitale Schutzmaßnahmen vorhanden sind. Für Betroffene, Zeug*innen und ihre Familienangehörigen gab es keine solchen Systeme.

Bei der CAS-Anhörung wurden Stimmen nicht unkenntlich gemacht und Betroffene sowie potenzielle Zeug*innen wurden aufgefordert, ohne einen wirksamen Schutz ihrer Identität auszusagen. Verständlicherweise waren viele damit nicht einverstanden. Mindestens ein Zeuge in den Haiti-Fällen musste darauf bestehen, dass die FIFA seine Aussage vernichtet, weil sie sich weigerte, identifizierende Informationen zu schwärzen. Alle Mitglieder des dreiköpfigen CAS-Richtergremiums waren Männer. Die fehlende Diversität in den Führungsgremien ist eine der Hauptursachen für Straflosigkeit, insbesondere in Fällen, bei denen es um sexuellen Missbrauch von Mädchen geht.

„Wie kann von Betroffenen von sexuellem Missbrauch erwartet werden, dass sie diesen bei der FIFA melden, wenn eine solche Justiz-Farce das Ergebnis ist“, sagte Worden. „Mit der Frauen-WM, die in diesem Jahr stattfindet, wirft die FIFA ein Schlaglicht auf ihre schlechte Führung und ihre Unfähigkeit, sexuellem Missbrauch im Fußball ein Ende zu setzen.“

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