(Berlin, 12. Januar 2023) - Der russische Einmarsch in die Ukraine markiert den Beginn einer neuen, umfassenden Kampagne zur Unterdrückung regierungskritischer Äußerungen in der Öffentlichkeit in Russland, so Human Rights Watch heute in seinem World Report 2023.
Die russischen Behörden verabschiedeten eine ganze Reihe neuer Gesetze zur Einführung der Kriegszensur. Diese Gesetze waren die Grundlage für lange Gefängnisstrafen für „Vergehen“, wie etwa die Bezeichnung des bewaffneten Konflikts in der Ukraine als „Krieg“, die Kritik an der Invasion oder am Verhalten der russischen Streitkräfte und die Berichterstattung über Kriegsverbrechen des russischen Militärs oder über ukrainische Zivilopfer.
„Vor dem Hintergrund des Krieges haben die russischen Behörden ihre unerbittlichen Angriffe auf abweichende Meinungen und zivilgesellschaftliche Aktivist*innen massiv verstärkt“, sagte Rachel Denber, stellvertretende Direktorin für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Der Kreml zielt eindeutig darauf ab, jede öffentliche Opposition gegen den Krieg, jede Kritik an der Regierung oder jeden Ausdruck von sozialem Nonkonformismus im Keim zu ersticken.“
In dem 712-seitigen World Report 2023, der 33. Ausgabe, beschreibt Human Rights Watch die Lage der Menschenrechte in fast 100 Ländern. In ihrem einleitenden Essay erklärt Interim-Exekutivdirektorin Tirana Hassan, dass es in einer Welt, in der sich die Machtverhältnisse verschoben haben, nicht mehr möglich ist, sich bei der Verteidigung der Menschenrechte auf eine kleine Gruppe von Regierungen größtenteils aus dem Globalen Norden zu verlassen. Die weltweiten Aktionen rund um die Ukraine erinnern uns an das außerordentliche Potenzial, das entsteht, wenn Regierungen ihre Menschenrechtsverpflichtungen auf globaler Ebene wahrnehmen. Es liegt in der Verantwortung der einzelnen Länder, ob groß oder klein, ihre Politik an den Menschenrechten auszurichten und sich gemeinsam für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte einzusetzen.
Russland wurde vom UN-Menschenrechtsrat suspendiert, aus mehreren anderen internationalen Gremien ausgeschlossen und trat aus dem Europarat aus. In Russland schafften die Behörden das Selbstbild einer „belagerten Festung“; sie setzten verstärkt auf eine Rhetorik, die einen böswilligen ausländischen Einfluss unterstellt und verabschiedeten Gesetze und Maßnahmen, die an das Verbot ausländischer Kontakte in der Sowjetära erinnern.
Diese neuen Vorschriften erweitern den Geltungsbereich der bereits bestehenden, verheerenden Gesetzgebung. So können Einzelpersonen oder Gruppen nun noch schneller und einfacher als „ausländische Agenten” eingestuft und diffamiert werden. Zudem wurden strafrechtliche Bestimmungen für eine „vertrauliche Zusammenarbeit“ mit internationalen und ausländischen Organisationen eingeführt, die fast den Strafen für Hochverrat gleichkommen. Die Behörden verfügen nun über noch umfassendere Befugnisse, Aktivist*innen hinter Gitter zu bringen.
Der Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Murza wurde als erste Person wegen Hochverrats angeklagt, nur weil er den Kreml und den Einmarsch Russlands in der Ukraine kritisiert hatte. Kara-Murza befindet sich seit April 2022 in Haft.
Die Strafverfolgungsbehörden reagierten auf die landesweiten, friedlichen Proteste gegen den Krieg mit Gewalt, Massenverhaftungen sowie mit strafrechtlichen Ermittlungen und Verfahren. Die Behörden leiteten Hunderte von Strafverfahren unter dem Vorwurf der Verbreitung von „Fake News“ oder der „Diskreditierung“ der russischen Streitkräfte ein. Tausende Menschen wurden aufgrund dieser Anschuldigungen zu Haft- oder Geldstrafen verurteilt. Aleksey Gorinov, ein Mitglied des Moskauer Gemeinderats, wurde zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, und der Oppositionspolitiker Ilya Yashin und die Aktivistin Alexandra Skochilenko befinden sich seit Juni bzw. seit April wegen der Verbreitung von „Fake News“ in Haft.
Unabhängige russische und ausländische Medien, die bereits kurz nach dem russischen Einmarsch begonnen hatten, Russland zu verlassen, verstärkten ihre Abwanderung nach der Verabschiedung der Gesetze, da sie um die Sicherheit der Journalist*innen besorgt waren. Die russischen Behörden setzten die Zensur von Online-Kritik fort, indem sie die Befugnis der Regierung zur Sperrung von Online-Inhalten missbräuchlich einsetzten.
Die russischen Behörden weiteten auch die Liste der als „unerwünscht“ eingestuften Organisationen weiter aus und verurteilten erstmals Aktivist*innen wegen angeblicher Verbindungen zu solchen Organisationen zu Haftstrafen. Im Mai verurteilte ein Gericht Michail Iosilewitsch zu 20 Monaten Haft, und im Juli wurde Andrej Piwowarow, der ehemalige Geschäftsführer der Bürgerbewegung Offenes Russland, zu vier Jahren Haft verurteilt.
Die russischen Behörden schlugen außerdem neue Gesetze vor, die eine weitere Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung vorsehen, und verschärften ihre homophobe und migrationsfeindliche Rhetorik.
Im April widerriefen die russischen Behörden die Registrierung von 15 ausländischen Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen und zwangen sie, ihre Büros in Russland zu schließen. Unter den betroffenen Organisationen waren auch Human Rights Watch und Amnesty International.
Die Behörden missbrauchten die zu weit gefassten russischen Gesetze zur Terrorismus- und Extremismusbekämpfung, um gegen die politische Opposition, Andersdenkende und religiöse Minderheiten vorzugehen. Gegen den inhaftierten Oppositionsführer Alexej Nawalny und mehrere seiner Helfer*innen und Unterstützer*innen leiteten die Behörden fingierte Strafverfahren wegen „Extremismus“ ein. Lilia Chanysheva, die ehemalige Leiterin von Nawalnys Team in Ufa, befindet sich seit November 2021 in Untersuchungshaft.
Im März 2022 setzten die Behörden Meta, die Muttergesellschaft von Facebook, Instagram und WhatsApp, als „extremistisch“ auf die schwarze Liste. Die Behörden verfolgten auch weiterhin Personen, die beschuldigt wurden, religiösen Organisationen anzugehören, die als „terroristisch“ oder „extremistisch“ eingestuft wurden, obwohl weder die Gruppen noch die Beschuldigten Gewalt befürwortet hatten oder mit Gewalttaten in Verbindung gebracht werden konnten.
Die tschetschenischen Behörden gingen im eigenen Land brutal gegen Andersdenkende vor, während der tschetschenische Staatschef Ramsan Kadyrow Russland offen dazu aufforderte, Menschenrechtsverletzungen zu begehen, die als Kriegsverbrechen gelten würden.
Russland gehörte weiterhin zu den 10 größten Treibhausgasemittenten der Welt und trug damit zur globalen Klimakrise bei. Im Jahr 2022 wurden verschiedene Regionen Russlands erneut von massiven Waldbränden heimgesucht. Eine Gruppe von Umweltaktivist*innen reichte die erste Klimaklage gegen die Regierung ein und forderte eine radikale Reduzierung der russischen Treibhausgasemissionen.