(New York) - Die chinesische Regierung geht massiv gegen das globale System zur Verteidigung der Menschenrechte vor, so Kenneth Roth, Executive Director von Human Rights Watch, heute bei der Veröffentlichung des World Report 2020. Jahrzehnte des Fortschritts, der es Menschen auf der ganzen Welt ermöglicht hat, ihre Meinung frei zu äußern, ohne Angst vor willkürlicher Verhaftung und Folter zu leben und von vielen weiteren Menschenrechten zu profitieren, sind in Gefahr.
In China selbst hat die Regierung - mit dem Ziel der totalen sozialen Kontrolle - einen weitreichenden Überwachungsstaat geschaffen. Nun nutzt sie zunehmend ihre wirtschaftliche und diplomatische Schlagkraft, um sich gegen die weltweiten Bemühungen im Ausland zu wehren, sie für ihre Repressionen zur Rechenschaft zu ziehen. Um das internationale Menschenrechtssystem als effektive Kontrolle gegen Repressionen zu bewahren, sollten sich die Regierungen zusammenschließen, um den Angriffen Pekings die Stirn zu bieten.
„Schon lange unterdrückt Peking Regimekritiker im eigenen Land“, sagte Roth. „Jetzt versucht die chinesische Regierung, diese Zensur auf den Rest der Welt auszuweiten. Um die Zukunft aller zu schützen, müssen die Regierungen gemeinsam handeln, um sich gegen den Angriff Pekings auf das internationale Menschenrechtssystem zu wehren.“
Im 652-seitigen World Report 2020, der dieses Jahr zum 30. Mal erscheint, untersucht Human Rights Watch die Menschenrechtslage in fast 100 Ländern. Roth verweist auch auf viele andere Gefahren für die Menschenrechte weltweit, wie in Syrien und im Jemen. Dort missachten syrische sowie russische Truppen und die von Saudi-Arabien geführte Koalition internationale Regeln, die die Zivilbevölkerung schützen sollen: Zivilisten werden attackiert und Krankenhäuser bombardiert.
Dieses unwirtliche Klima für die Menschenrechte kommt der chinesischen Regierung sehr gelegen. An der Spitze von Regierungen, auf die man sich früher zumindest zeitweise bei der Verteidigung der Menschenrechte verlassen konnte, stehen nun immer öfter Staatschefs wie US-Präsident Donald Trump, die dazu nicht mehr bereit sind. Und autokratische Populisten, die durch die Dämonisierung von Minderheiten an die Macht kommen und die sich diese Macht erhalten, indem sie sich unabhängiger Journalisten, Richter und Aktivisten entledigen, wenden sich gegen die gleichen internationalen Menschenrechtsstandards, die auch die chinesische Regierung untergräbt.
Viele Menschen in China, wie überall in der Welt, wollen frei und in Würde leben, sagte Roth. Die Regierung von Präsident Xi Jinping ist jedoch verantwortlich für die brutalste und tiefgreifendste Unterdrückung, die China seit Jahrzehnten erlebt hat.
Die Behörden haben zivilgesellschaftliche Gruppen zerschlagen, unabhängige Journalisten zum Schweigen gebracht und die Online-Kommunikation stark eingeschränkt. Sie greifen immer stärker die ohnehin schon begrenzten Freiheiten Hongkongs gemäß dem Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ ein. Und in Xinjiang haben die Behörden ein grauenvolles Überwachungssystem aufgebaut, um Millionen von Uiguren und anderen turksprachigen Muslimen zu kontrollieren, wobei 1 Million Menschen willkürlich zur politischen Zwangsindoktrinierung inhaftiert wurden.
Peking hat neue Technologien in den Mittelpunkt der Unterdrückung im Land gestellt und greift dadurch massiv in die Privatsphäre der Menschen ein. DNA-Proben werden unter Zwang gesammelt und große Datenanalysen sowie künstliche Intelligenz eingesetzt, um die Überwachungsmöglichkeiten zu verfeinern. Ziel ist es, eine Gesellschaft frei von Dissens zu schaffen.
Um einen globalen Rückschlag für die erdrückende Repression im eigenen Land zu vermeiden, geht die chinesische Regierung immer stärker gegen die internationalen Institutionen zum Schutz der Menschenrechte vor. China schüchtert andere Regierungen ein - zum Beispiel, indem es wiederholt anderen Staaten bei den Vereinten Nationen droht. Dadurch will sie ihr eigenes Image schützen und von der Diskussion über Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land ablenken.
Die chinesische Führung umwirbt andere Regierung und wird auch von ihnen umworben. Dies gilt auch für Unternehmen und akademische Institutionen, die sich angeblich für die Menschenrechte einsetzen, aber denen der Zugang zu Chinas Wohlstand wichtiger ist. Sie wissen, dass öffentlicher Widerstand gegen die Repression Pekings den Zugang zum chinesischen Markt aufs Spiel setzen würde, der 16 Prozent der Weltwirtschaft ausmacht. Dies bekam auch der US-Basketballverband nach einem Tweet eines Teammanagers zu spüren.
Die chinesischen Behörden sahen sich nur mit wenigen Konsequenzen von Staaten konfrontiert, die sich selbst als Verteidiger der Menschenrechte sehen. Die Europäische Union, vom Brexit abgelenkt, von nationalistischen Mitgliedstaaten behindert und in der Frage der Migration gespalten, tat sich schwer damit, eine starke gemeinsame Stimme zu finden, obwohl einzelne europäische Regierungen sich bisweilen sehr deutlich geäußert haben. Trump umarmte Xi, obwohl die US-Regierung Sanktionen wegen Menschenrechtsverletzungen gegen das Xinjiang Public Security Bureau und acht chinesische Technologieunternehmen verhängt hat.
Wenn die Welt gegen den Frontalangriff Pekings verteidigt werden soll, muss eine beispiellose Antwort von denjenigen kommen, für welche die Menschen und die Menschenrechte wichtig sind. Durch gemeinsames Handeln können die Regierungen Pekings Strategie des Teilens und Herrschens zerschlagen, sagte Roth.
Wenn sich beispielsweise die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) gegen die Unterdrückung der Muslime in Xinjiang aussprechen würde, wie sie es für die in Myanmar verfolgten Rohingya-Muslime getan hat, würde Peking unter spürbaren Druck geraten.
Regierungen und internationale Finanzinstitutionen sollten überzeugende und rechtskonforme Alternativen zu Chinas „No-Strings“-Darlehen und Entwicklungshilfe anbieten. Unternehmen und Universitäten sollten Verhaltenskodizes für den Umgang mit China erarbeiten und fördern - strenge gemeinsame Standards würden es Peking erschweren, Vergeltungsmaßnahmen gegen diejenigen zu ergreifen, die sich für die Menschenrechte einsetzen. Regierungschefs, die sich für die Menschenrechte einsetzen, sollten eine Diskussion zu Xinjiang im UN-Sicherheitsrat einfordern, damit chinesische Beamte verstehen, dass sie nicht die ersehnte Anerkennung erlangen können, wenn sie gleichzeitig Menschen verfolgen.
„Wenn wir nicht in eine Ära zurückkehren wollen, in der Menschen nur Bauern auf einem Schachbrett sind, die nach den Launen ihrer Herrscher manipuliert oder vom Feld genommen werden, dann müssen wir gegen Pekings Attacken vorgehen“, sagte Roth. „Jahrzehnte des Fortschritts bei den Menschenrechten und unsere Zukunft stehen auf dem Spiel.”