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(Washington, DC) – Die extreme Medikamenten- und Lebensmittelknappheit in Venezuela sowie die Ausbreitung von Krankheiten über die Landesgrenzen hinweg stellen eine komplexe humanitäre Notlage dar, die eine umfassende Reaktion des UN-Generalsekretärs erfordert, so Forscher der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health und von Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die venezolanischen Behörden unter der Präsidentschaft von Nicolás Maduro sind nicht in die Lage, die Krise einzudämmen. Darüber hinaus haben sie die Krise sogar noch verschärft, indem Informationen über das Ausmaß und die Dringlichkeit der Probleme unterdrückt werden.

Der 71-seitige Bericht „Venezuela’s Humanitarian Emergency: Large-Scale UN Response Needed to Address Health and Food Crises“ dokumentiert eine steigende Anzahl von Todesfällen bei Müttern und Säuglingen sowie die unkontrollierte Ausbreitung von Krankheiten wie Masern und Diphterie, die durch entsprechende Impfungen vermeidbar wären. Auch dokumentiert der Bericht einen starken Anstieg von Infektionskrankheiten wie Malaria und Tuberkulose in Venezuela. Die verfügbaren Daten zeigen zudem, dass der Zugang zu Nahrung nicht gesichert ist, Kinder an Unterernährung leiden sowie viele unterernährte Kinder in Krankenhäuser eingeliefert werden.

„Wie sehr sie sich auch bemühen, die venezolanischen Behörden können die Realität vor Ort nicht verbergen“, so Dr. Shannon Doocy, außerordentliche Professorin für Internationales Gesundheitswesen an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health. Doocy führte Forschungsarbeiten an der Grenze zu Venezuela durch. „Das Gesundheitssystem Venezuelas ist völlig kollabiert. Dies und die weit verbreitete Lebensmittelknappheit lassen die Bevölkerung immer stärker leiden und bringen stetig mehr Menschen im Land in Gefahr. Die Vereinten Nationen müssen hier eine Führungsrolle übernehmen, um diese schwere Krise zu beenden und Leben zu retten.”

Ende März 2019 gab das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bekannt, dass es seine Aktivitäten in Venezuela ausbaut, um rund 650.000 Menschen zu helfen. Ein UN-Bericht, der etwa zur gleichen Zeit an die Öffentlichkeit gelangte, schätzt, dass 7 Millionen Menschen in Venezuela Unterstützung benötigen.

UN-Generalsekretär António Guterres sollte die Bemühungen leiten, einen umfassenden humanitären Reaktionsplan für die Situation innerhalb und außerhalb des Landes zu entwickeln, so die Autoren des Berichts.

  • Guterres sollte offiziell erklären, dass Venezuela vor einer „komplexen humanitären Notlage“ steht. Hierbei handelt es sich um einen Begriff der UN. Eine solche Erklärung würde dazu beitragen, ausreichend Ressourcen zu mobilisieren, um den dringenden Bedürfnissen der Bevölkerung Venezuelas gerecht zu werden;
  • Der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe, der gleichzeitig Leiter des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) ist, soll die Krise in Venezuela als oberste Priorität behandeln, die eine umfassende Mobilisierung von humanitären Hilfsmaßnahmen und -ressourcen erfordert;
  • Die venezolanischen Behörden sollen den Mitarbeitern der Vereinten Nationen uneingeschränkten Zugang zu offiziellen Daten über Krankheiten, Epidemien, Ernährung und Ernährungssicherheit gewähren, damit sie eine unabhängige und umfassende Bewertung der humanitären Lage im Land durchführen können.

Experten von Human Rights Watch, vom Center for Humanitarian Health und dem Center for Public Health and Human Rights an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health haben für den Bericht mit mehr als 150 Personen gesprochen. Hierzu gehören Mitarbeiter im Gesundheitswesen, Venezolaner, die vor kurzem für eine medizinische Behandlung nach Kolumbien oder Brasilien gekommen waren, Vertreter internationaler und nichtstaatlicher humanitärer Organisationen, UN-Beamte sowie brasilianische und kolumbianische Regierungsbeamte. Forscher analysierten zudem Daten über die Situation innerhalb Venezuelas aus offiziellen Quellen, von Krankenhäusern, internationalen und nationalen Organisationen sowie von Nichtregierungsorganisationen.

Internationale Gesundheitsbehörden wie die Pan American Health Organization/World Health Organization berichten Folgendes:

  • Zwischen 2008 und 2015 wurde nur ein einziger Fall von Masern festgestellt (2012). Seit Juni 2017 wurden mehr als 9.300 Fälle der Krankheit gemeldet. Mehr als 6.200 dieser Fälle wurden bestätigt.
  • Zwischen 2006 und 2015 hatte es in Venezuela keinen einzigen Fall von Diphtherie gegeben. Seit Juli 2016 jedoch wurden mehr als 2.500 Verdachtsfälle gemeldet, 1.500 hiervon wurden bestätigt.
  • Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet, dass bestätigte Malariafälle in Venezuela in den letzten Jahren stetig zugenommen haben - von weniger als 36.000 im Jahr 2009 auf mehr als 414.000 im Jahr 2017.
  • Die Zahl der gemeldeten Tuberkulosefälle in Venezuela stieg von 6.000 im Jahr 2014 auf 7.800 im Jahr 2016. Vorläufige Berichte zeigen, dass diese Zahl 2017 auf mehr als 13.000 gestiegen ist. Die TB-Inzidenzrate ist seit 2014 kontinuierlich gestiegen und erreichte 2017 42 pro 100.000. Das ist die höchste Rate in Venezuela seit 40 Jahren.
  • Im Jahr 2018 erhielten fast neun von zehn Venezolanern, die mit HIV leben und offiziell erfasst waren, keine Behandlung mit antiretroviralen Arzneistoffen. Die tatsächliche Zahl der Menschen, die eine solche Behandlung benötigen, ist nicht bekannt.
Die jüngsten offiziellen Statistiken des venezolanischen Gesundheitsministeriums zeigen, dass die Müttersterblichkeit im Jahr 2016 um 65 Prozent gegenüber 2015 gestiegen ist, die Kindersterblichkeit um 30 Prozent. Zwar stieg die Kindersterblichkeit in der gesamten Region, Venezuela ist jedoch das einzige Land in Südamerika, in dem sie wieder das Niveau der 90er Jahre erreicht hat.

Hunger, Unterernährung und extreme Lebensmittelknappheit sind in ganz Venezuela weit verbreitet. Im Jahr 2018 teilte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) mit, dass zwischen 2015 und 2017 fast 12 Prozent der Venezolaner - 3,7 Millionen Menschen - unterernährt waren. Zwischen 2008 und 2013 waren es noch 5 Prozent. Inoffizielle Umfragen ergaben, dass die Ernährungsunsicherheit die Mehrzahl der venezolanischen Haushalte betrifft und dass alarmierend viele Kinder unter fünf Jahren von einer moderaten oder schweren akuten Unterernährung betroffen sind.  

Mehr als 3,4 Millionen Venezolaner haben in den letzten Jahren das Land verlassen. Diese Massenflucht belastet die Gesundheitssysteme der benachbarten Aufnahmeländer. Die in Kolumbien und Brasilien gesammelten Daten zeigen einen starken Anstieg der Zahl der Venezolaner, die sich im Ausland medizinisch versorgen lassen. Ärzte berichteten, dass die Betroffenen in der Regel keine oder nur eine unzureichende Behandlung in Venezuela erhalten hatten.

„Die Führung der Vereinten Nationen muss Alarm schlagen und einen umfassenden Hilfsplan für Venezuela auf den Weg bringen. Dieser muss neutral, unabhängig und unparteiisch sein“, sagte Dr. Paul Spiegel, Direktor des Johns Hopkins Center for Humanitarian Health und Professor am Department of International Health der Bloomberg School. „Technisch gesehen befindet sich Venezuela in einer komplexen humanitären Notlage. Sollte der UN-Generalsekretär dies nicht offiziell anerkennen, wird es die umfassende Beteiligung der UNO, die ein wirksames Vorgehen erfordert, höchstwahrscheinlich nicht geben.“

Zwar erreichen seit 2018 mehr internationale Hilfen das Land. Humanitäre Helfer von internationalen und Nichtregierungsorganisationen in Venezuela versichern jedoch, dass diese Hilfen den dringenden Bedarf der Bevölkerung nicht decken. In vielen Fällen wird die Arbeit dieser Organisationen durch die Behörden behindert.

Die venezolanischen Behörden haben das Recht, bestimmte Hilfsangebote abzulehnen. Doch dann müssen sie umso mehr auf Alternativen hinarbeiten, die den dringenden Bedürfnissen des Landes in vollem Umfang gerecht werden. Die dahingehenden Bemühungen der venezolanischen Behörden unter Präsident Maduro sind gescheitert, so Human Rights Watch und Experten der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health.

„Die venezolanischen Behörden beschränken und unterdrücken öffentlich Informationen über die Krise. Diejenigen, die Daten sammeln oder über diese sprechen, werden belästigt oder Opfer von Vergeltungsakten. Gleichzeitig tun die Behörden viel zu wenig, um die Krise zu lindern“, so José Miguel Vivanco, Direktor der Lateinamerika-Abteilung von Human Rights Watch. „Diese Behörden sind mit ihrer Leugnung und Behinderung verantwortlich für den unnötigen Verlust von Menschenleben in Venezuela.“

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