(Athen) – Unbegleitete Kinder werden auf der griechischen Insel Lesbos fälschlicherweise als volljährig registriert und mit erwachsenen Migranten und Asylsuchenden untergebracht. Dadurch drohen ihnen Menschenrechtsverletzungen und sie haben keinen Zugang zu der besonderen Unterstützung, die sie benötigen, so Human Rights Watch.
„Dass unbegleitete Migrantenkinder auf Lesbos fälschlicherweise als Erwachsene identifiziert werden, führt zu ernsten Problemen. So werden sie mit Erwachsenen zusammengepfercht, mit denen sie nicht verwandt sind, und sie erhalten nicht die Fürsorge, die sie brauchen“, so Eva Cossé, Griechenland-Expertin bei Human Rights Watch. „Die griechischen Behörden müssen die Verantwortung dafür übernehmen, unbegleitete Kinder richtig zu identifizieren und ihnen den Schutz und die Fürsorge zukommen zu lassen, die jedes Kind braucht.“
Nach griechischem Recht und Völkerrecht steht unbegleiteten Kindern besondere Fürsorge und Schutz zu. Aber die fehlerhaften Verfahren auf der Insel, bei denen das Alter festgestellt wird, führen in der Praxis dazu, dass Kinder bei der Registrierung für Erwachsene gehalten werden. Und dies findet statt, obwohl die griechischen Behörden gegenüber Human Rights Watch versicherten, dass sie ein gründliches, interdisziplinäres Verfahren anwenden. Zudem behaupteten manche Kinder, schon volljährig zu sein, weil sie glauben, dann nicht inhaftiert zu werden, oder weil Erwachsene ihnen diesen schlechten Ratschlag geben. Wenn sie erkennen, dass sie einen Fehler gemacht haben, versuchen viele, die Behörden davon zu überzeugen, ihren Status zu korrigieren. Währenddessen vergehen oft Monate und die Kinder werden meist weiter als Erwachsene behandelt oder werden tatsächlich volljährig, was auch als „aging out“ bezeichnet wird.
Darüber hinaus verzeichnen Beamte, die neu ankommende Migranten registrieren, manchmal willkürlich ein höheres Alter als die Kinder selbst angeben. Außerdem müssen unbegleitete Kinder sich zur Altersfeststellung oft einer oberflächlichen Zahnuntersuchung in einem Krankenhaus vor Ort unterziehen, nach der die Behörden darauf beharren, dass das Kind tatsächlich erwachsen sei und es entsprechend registrieren. Dies geschieht trotz eines Ministerbeschlusses aus dem Jahr 2013, der eine interdisziplinäre Altersfeststellung anordnete, bei der medizinische Untersuchungen nur als letzte Option vorgesehen sind, und trotz der Versicherung des griechischen Aufnahme- und Identifikationsdienstes, dass der Grundsatz des Kindeswohls immer Vorrang habe.
Im Unterschied dazu stellten es Mitarbeiter des Aufnahmedienstes selten in Frage, wenn unbegleitete Kinder behaupteten, volljährig zu sein, obwohl sie deutlich jünger aussehen. In der Praxis versorgten die Behörden Kinder nicht mit angemessenen Informationen über ihre Rechte während des Aufnahme- und Identifikationsprozesses auf den Inseln. Außerdem unternahmen sie nichts, um zu prüfen, ob eine Person, die behauptet, erwachsen zu sein, tatsächlich ein Kind ist. Das erhöhte auch die Gefahr, dass minderjährige Opfer von Menschenhandel nicht identifiziert und vor weiterem Missbrauch geschützt werden.
Registrierte unbegleitete Kinder sollen sicher untergebracht werden, aber in Griechenland sind die Plätze dafür notorisch knapp. Während sie auf einen Platz in einem Heim warten, inhaftierten die Behörden unbegleitete Kinder oft auf Polizeistationen, in Hafteinrichtungen für Migranten und in von der Europäischen Union verwalteten Asyl-Zentren. Bis Juni 2017 standen 1.149 unbegleitete Kinder auf der Warteliste für einen Heimplatz, von ihnen befanden sich 296 in solchen Hafteinrichtungen.
Nachdem in den Jahren 2015 und 2016 mehr als 1 Million Personen auf den griechischen Inseln angekommen sind, hat sich das Problem verschärft. Grenzschließungen in Ländern nördlich von Griechenland führen de facto dazu, dass Asylsuchende und Migranten dort festsitzen. Zudem hat der hochproblematische Deal der EU mit der Türkei vom März 2016 zur Folge, dass die griechischen Behörden Asylsuchende auf den Inseln festsetzen, um sie in die Türkei zurückzuschieben.
Nichtregierungsorganisationen auf Lesbos berichteten, dass sie mindestens 60 Personen identifiziert haben, die als Erwachsene registriert wurden und beteuern, minderjährig zu sein.
Kinder, die als Erwachsene registriert werden, müssen für sich selbst sorgen und ihnen drohen Ausbeutung, Menschenhandel und anderer Missbrauch. Sie leben an offiziellen und informellen Orten mit erwachsenen, alleinstehenden Männern zusammen, zu denen sie keine familiäre Beziehung haben, leben unter unmenschlichen Bedingungen in Einrichtungen, die überfüllt und unhygienisch sind und in denen es häufig zu Gewalt kommt. Sie können nicht zur Schule gehen und haben keinen Zugang zu anderen Bildungseinrichtungen. Sie haben wenig oder keinen Zugang zu Fürsorge, Schutz oder spezialisierten Diensten und sind von Unterkünften für unbegleitete Kinder ausgeschlossen.
Haben die griechischen Behörden ein unbegleitetes Kind erst einmal als volljährig registriert, ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, diesen Status zu ändern. Selbst dann, wenn Nichtregierungsorganisationen Kinder ausfindig machen, die fälschlicherweise als Erwachsene registriert wurden, kann es Monate dauern, bis das aufwändige bürokratische Verfahren durchlaufen ist, in dem ihr tatsächliches Alter festgestellt und sie als Kinder registriert werden. Das Verfahren, als Kind anerkannt zu werden, dauerte in einigen der untersuchten Fällen so lange, dass die Betroffenen am Ende bereits 18. Jahre alt waren. Das unterminierte ihre Möglichkeiten zur Familienzusammenführung in andere EU-Staaten oder ihren Zugang zu spezialisierten Unterkünften und anderen Diensten für Kinder.
Aussagen dieser Kinder darüber, wie es ihnen geht, deuten darauf hin, dass ihre Lebenssituation in Griechenland ihnen psychischen Schaden zufügt und bestehende Beeinträchtigungen ihrer psychischen Gesundheit verschlimmert. Alle der befragten Kinder schilderten, dass sie psychische Belastungen erleben, darunter Symptome wie Angst, Depression, Kopfschmerzen, Schlaf- und Appetitlosigkeit. Zwei Kinder sagten, dass sie sich selbst verletzten.
Die griechischen Behörden sollen dringend die Qualität ihrer Verfahren zur Altersfeststellung verbessern und diese an internationale Best Practice-Verfahren angleichen. Darüber hinaus sollen sie Maßnahmen einführen, um Kinder zu identifizieren, Personen, deren Alter strittig ist, im Zweifel als Kinder registrieren, und gewährleisten, dass unbegleitete Kinder in ordentlichen Einrichtungen untergebracht werden, in denen sie Fürsorge, Bildung, Beratung, juristische Hilfe, einen Vormund und andere grundlegende Dienste erhalten. Diejenigen, die älter als 18 Jahre alt sind, sollten in gesonderten Unterkünften für junge Erwachsene untergebracht werden und ebenfalls Zugang zu angemessenen Diensten erhalten, insbesondere zu psychosozialer Unterstützung und anderer psychologischer Gesundheitsversorgung.
Die Europäische Kommission und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen sollen ihre Anwesenheit auf den Inseln nutzen, um sicher zu stellen, dass die griechischen Altersfeststellungsmethoden und -verfahren den Schutzbestimmungen des griechischen und des EU-Rechts entsprechen und dass Personen im Zweifel als Kinder registriert werden, wenn die Ergebnisse nicht eindeutig sind. Auch soll der Notfall-Umverteilungsmechanismus der EU dringend auf unbegleitete Kinder auf den griechischen Inseln ausgeweitet werden, unabhängig von deren Staatsangehörigkeit, und die EU-Mitgliedstaaten sollen die Umverteilung unbegleiteter Kinder beschleunigen.
„Verletzliche Kinder in Griechenland, die weit entfernt von ihren Familien gefährliche Reisen überstanden haben, sollten nicht monatelang darum kämpfen müssen, als Kinder anerkannt zu werden“, so Cossé. „Griechenland muss besser darin werden, diese Kinder zu identifizieren, damit sie die Fürsorge bekommen, die sie brauchen und verdienen.“