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(Beirut) – Seit der Online-Aktivismus in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat, versuchen die Regierungen der Golfstaaten, friedliche Kritiker zum Schweigen zu bringen, so Human Rights Watch auf einer heute veröffentlichten, interaktiven Website. Die Regierungen reagieren auf Kritik im Internet mit Überwachungsmaßnahmen, Festnahmen und anderen willkürlichen Strafen.

Die interaktive Website greift die 140-Zeichen-Begrenzung bei Twitter auf und stellt 140 bekannten Aktivisten für soziale und politische Rechte und Oppositionelle vor, die aus Bahrain, Kuwait, Oman, Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten stammen. Die Website zeigt, wie diese Menschen dagegen kämpfen, dass die Regierung sie zum Schweigen bringen will. Alle 140 Personen haben erlebt, dass die Regierung dagegen vorgeht, dass sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben. Viele wurden verhaftet, standen vor Gericht und wurden zu Geld- oder Gefängnisstrafen verurteilt. Unter den vorgestellten Aktivisten sind Nabeel Rajab und Zainab al-Khawaja aus Bahrain, Waleed Abu al-Khair und Mohammed Fahad al-Qahtani aus Saudi-Arabien, und Ahmed Mansoor und Mohammed al-Roken aus den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Portraits of online activists in Gulf states.  © 2016 Human Rights Watch

„Die Golfstaaten greifen systematisch und mit guter finanzieller Ausstattung die Meinungsfreiheit an, um die potenziell transformative Macht der sozialen Medien und des Internets zu unterminieren“, so Sarah Leah Whitson, Leiterin der Abteilung Naher Osten bei Human Rights Watch. „Statt friedliche Kritiker ins Gefängnis zu werfen, sollten die Regierungen gesellschaftliche Debatten fördern und die dringend notwendigen Reformen angehen, für die sich viele der Aktivisten seit Jahren stark machen.“

In den vergangenen Jahren sind soziale Internetdienste wie Facebook, Twitter, WhatsApp und YouTube in den sechs Ländern des Golf-Kooperationsrates (Gulf Cooperation Council, GCC) immer beliebter geworden, die Zahl der Nutzer ist rapide angestiegen. Zum GCC gehören Bahrain, Kuwait, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Dem Arabischen Bericht über Soziale Medien der Mohammed bin Rashid School of Government zufolge wurden in GCC-Ländern im ersten Quartal des Jahres 2014 17,2 Millionen neue Facebook-Accounts und 3,5 Millionen Twitter-Accounts angelegt. Ende des Jahres 2015 nutzten allein in Saudi-Arabien 2,4 Millionen Menschen aktiv Twitter, womit das Land mehr als 40 Prozent aller Twitter-Nutzer im Nahen Osten stellt. Das rasche Anwachsen der Nutzerzahlen ist eng verbunden mit einer Zunahme des Engagements für die Menschenrechte, von oppositionellen politischen Aktivitäten und von Versuchen der Regierung, beides einzudämmen.

Hunderte Oppositionelle, darunter politische Aktivisten, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, Anwälte und Blogger, wurden überall in der Region inhaftiert, viele nach unfairen Prozessen. Auch Vorwürfe, in der Untersuchungshaft werde gefoltert, wurden laut. Die von den GCC-Regierungen initiierten Säuberungskampagnen gegen Aktivisten und politische Gegner umfassen Drohungen, Einschüchterungen, Ermittlungen, Strafverfahren, Haft, Folter und den Entzug der Staatsbürgerschaft.

Die meisten der vorgestellten Aktivisten nutzten soziale Netzwerke und Internetforen, um Kampagnen zu initiieren, sich zu vernetzen, und für ihre Ideale zu werben. Und alle haben ihre Regierungen implizit oder explizit kritisiert. Zum Beispiel beteiligten sich Zehntausende saudi-arabische Staatsbürger an Online-Kampagnen wie dem Aufruf, Samar Badawi freizulassen. Die Frau wurde im Jahr 2010 wegen „Ungehorsam gegenüber der Eltern“ zu einer Haftstrafe verurteilt. Eine andere, bekannte Internetkampagne ruft saudi-arabische Frauen dazu auf, sich dem staatlichen Verbot zu widersetzen und Auto zu fahren.

Soziale Netzwerke waren wesentlich für die Planung und Organisation von Demonstrationen in einigen GCC-Ländern während der arabischen Aufstände im Jahr 2011. In Bahrain wurden über soziale Netzwerke fast vier Wochen lang große, pro-demokratische Demonstrationen organisiert. Diese endeten abrupt im März 2011, als staatliche Sicherheitskräfte mit Unterstützung von Truppen aus Saudi-Arabien und den VAE mit unverhältnismäßiger und zum Teil tödlicher Gewalt die Protestbewegung zerschlugen. Von Februar 2011 bis ins Jahr 2012 hinein gingen Tausende Omaner überall im Land auf die Straße, um für Reformen zu demonstrieren.

Zusätzlich zu direkten Unterdrückungsmaßnahmen haben die GCC-Regierungen Überwachungstechnik gekauft und wenden sie an, um die Internetaktivitäten ihrer Bürger zu verfolgen und zu beobachten. Durchgesickerte Unternehmensdokumente und Berichte von unabhängigen Sicherheitsexperten deckten auf, dass westliche und israelische Unternehmen Intrusion-Software an GCC-Regierungen verkauft haben, die die Privatsphäre von Bürgern verletzen kann. Die Forschungsgruppe Citizen Lab mit Sitz in Toronto hat Beweise dafür gefunden, dass die Regierungen von Saudi-Arabien, Oman und den VAE Intrusion-Software nutzen. Bahrain, Oman, Katar, Saudi-Arabien und die VAE haben vermutlich noch andere Überwachungssoftware gekauft.

Mit Intrusion-Software können Regierungen auf Emails, Textnachrichten, Anruflisten, Kontakte, Dateien und potenziell auch Passwörter zugreifen. Sie ermöglicht es den Behörden, die Kamera eines Telefons oder Laptops einzuschalten und unbemerkt Fotos, Video- und Tonaufnahmen zu machen.

Im Mai 2016 berichtete Citizen Lab von einer Serie von Spionagesoftware-Angriffen, die ein sehr erfahrener Anwender gegen Journalisten, Aktivisten und Oppositionelle aus den VAE durchgeführt hat. Zwar ist die Identität des Angreifers unbekannt, aber Indizien deuten auf Verbindungen zur Regierung hin. Im August berichtete Citizen Lab, dass Mansoor, einer der auf der Website vorgestellten Aktivisten aus den VAE, verdächtige Nachrichten auf seinem iPhone erhalten hat, in denen ihm Informationen über Gefangene versprochen wurden, die in Gefängnissen in den VAE gefoltert wurden, wenn er auf einen Link klickt. Citizen Lab stellte daraufhin fest, dass er mit diesem Klick aufwändige Spionage-Software auf seinem Telefon installiert hätte. Damit hätten Außenstehende sein Telefon und dessen Kamera kontrollieren sowie seine Chat-Programme und seine Bewegungen überwachen können.

Seit dem Beginn der Arabischen Aufstände im Jahr 2011 haben alle GCC-Staaten bestehende Gesetze ausgeweitet und neue, gefährliche Gesetze eingeführt, um die Meinungsfreiheit weiter einzuschränken und Äußerungen zu bestrafen, die sie für „kriminell“ halten, insbesondere im Internet und in sozialen Netzwerken.

Zusätzlich zu neuen, strafrechtlichen Vorschriften haben die GCC-Regierungen auch restriktive neue Gesetze und Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung, Cyber-Kriminalität, friedlichen Versammlung und Staatsbürgerschaft eingeführt. Diese zielen darauf ab, friedliche Meinungsäußerungen einzuschränken und von ihnen abzuschrecken. Außerdem dienen sie dazu, Oppositionelle und Aktivisten zu bestrafen, die nicht nur ihre eigenen Regierung kritisieren, sondern auch die in anderen GCC-Staaten und deren Politik. Die verschiedenen, seit dem Jahr 2011 verabschiedeten Gesetze frieren die Meinungsfreiheit ein. Zum Teil werden Regierungskritiker als „Terroristen“ gebrandmarkt. Manche Behörden sind dazu befugt, friedlichen Demonstranten und Oppositionellen die Staatsbürgerschaft zu entziehen.

Dass die Golfstaaten Oppositionelle und Aktivisten unterdrücken, die ausschließlich friedlich ihre Meinung äußern, verletzt internationale Menschenrechtsstandards. Artikel 32 der Arabischen Charta der Menschenrechte, die alle Golfstaaten außer Oman ratifiziert haben, garantiert „das Recht auf Information und die Meinungs- und Redefreiheit, sowie das Recht, Informationen und Ideen mit Hilfe sämtlicher Medien, unabhängig von geographischen Grenzen, zu suchen, zu erhalten und weiterzugeben“.

„Die Golfstaaten schüchtern Aktivisten ein, überwachen sie, inhaftieren sie und bringen sie zum Schweigen. Das ist ein Teil ihres umfassenden Angriffs auf friedliche Kritik. Aber sie täuschen sich, wenn sie denken, dass sie ihre Bürger bis in alle Ewigkeit davon abhalten können, soziale und andere Medien zu nutzen, um sich für Reformen einzusetzen“, sagt Whitson.

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