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Als Kind erzählte mir meine Mutter oft davon, wie mein Großvater seine Heimatstadt Danzig, das heutige Gdansk in Polen, im Alter von elf Jahren verließ und alleine an Bord eines Schiffes nach England reiste. Mein Großvater ist Jude und diese Reise rettete sein Leben. Ich erfuhr von seiner Geschichte in den 1990er Jahren – in einer Zeit, die ich als sicher empfand. Das ist lange her, dachte ich. So etwas kann nie wieder passieren.

Aber wo stehen wir jetzt, im Jahr 2015? Die vergangenen Tage und Wochen haben uns deutlich vor Augen geführt, dass Antisemitismus keinesfalls eine schmerzhafte Erinnerung an die Vergangenheit ist, sondern europäische Realität. Im Januar wurden vier jüdische Männer in einem koscheren Supermarkt in Paris getötet, zwei Tage nach dem brutalen Anschlag auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo, bei dem zwölf Menschen starben. In der vergangenen Woche griff ein Mann eine Synagoge in Kopenhagen an und ermordete einen jüdischen Mann, der das Gebäude während einer Bar Mitzvah-Feier beschützte. Wenige Stunden zuvor hatte der gleiche Täter ein Kulturzentrum angegriffen, in dem gerade eine Diskussionsveranstaltung über Blasphemie und Meinungsfreiheit stattfand. Dort tötete er einen Mann und verletzte drei Polizisten. Derzeit laufen die Ermittlungen noch, allerdings ähneln diese Vorfälle frappierend denen in Paris.

Erst am vergangenen Wochenende wurden Hunderte jüdische Gräber auf einem Friedhof in der Nähe von Straßburg in Frankreich geschändet. Der britische Community Security Trust dokumentiert in seinem Jahresbericht 2014 die höchste Zahl antisemitischer Vorfälle, die er jemals verzeichnet hat. Die Londoner Metropolitan Police berichtet von einem Anstieg antisemitisch motivierter Straftaten um 120% im Jahr 2014. Dazu kommt, dass die Dunkelziffer bei Hasskriminalität besonders hoch ist. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass die realen Zahlen wesentlich höher sind.

Und es geht noch weiter. Im Mai 2014 erschoss ein Mann vier Menschen in einem jüdischen Museum in Brüssel. Im Jahr 2012 wurden ein Mann und drei Kinder in einer jüdischen Schule in Toulouse erschossen. Eine Umfrage der EU-Agentur für Grundrechtezu Erfahrungen mit und Wahrnehmungen von Antisemitismus im Jahr 2013 ergab, dass drei Viertel der TeilnehmerInnen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Lettland, Schweden und Ungarn den Eindruck hatten, dass Antisemitismus in ihren Heimatländern in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat. Fast die Hälfte von ihnen befürchtete, an öffentlichen Orten beleidigt oder belästigt zu werden, weil sie jüdisch sind, und ein Drittel der Befragten äußerte Angst vor gewaltsamen Angriffen.

Jüdinnen und Juden erleben in Europa seit Jahrhunderten Gewalt, Anfeindungen und Diskriminierung. Die jüngsten Angriffe erinnern daran, dass der Kontinent sich seit dem Zweiten Weltkrieg zwar weiterentwickelt hat, aber dass noch immer ein langer Weg vor ihm liegt.

Es ist richtig, dass die Sicherheitsvorkehrungen im Umfeld von jüdischen Schulen und Synagogen in Frankreich, Großbritannien und Dänemark erhöht wurden. Ebenso sollten andere Länder angemessene, auch strafrechtliche Maßnahmen ergreifen, um antisemitischen Bedrohungen zu begegnen. Führende Politiker in vielen europäischen Ländern haben sich deutlich gegen die Angriffe und die Zunahme des Antisemitismus positioniert. Aber neben solidarischen Worten und verschärften Sicherheitsmaßnahmen müssen sich die europäische Politik und Gesellschaften darüber hinaus der Frage stellen, warum 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz Menschen erschossen werden, weil sie jüdisch sind, und, warum feindliche Gefühle gegen Jüdinnen und Juden noch immer so weit verbreitet sind. Die Wurzeln und Auslöser der Gewalt sind vielleicht nicht in jedem Land die gleichen, aber zweifellos gibt es rote Fäden.

Sowohl die furchtbaren Angriffe der vergangenen Monate, als auch die tägliche Diskriminierung von jüdischen Menschen werden durch Vorurteile und stereotype Bilder befeuert. In manchen Fällen können Dialog und offene Diskussionen helfen. Aber auch die Faktoren, die manche Menschen motivieren, gewalttätig zu werden, sind komplex. Manche Angreifer wurden möglicherweise ausgenutzt und dazu gezwungen, während andere vielleicht eher Frustration angetrieben hat als tiefsitzender Hass. Diese Hintergründe müssen ebenfalls identifiziert und thematisiert werden. Jüdische Gemeinschaften und prominente Persönlichkeiten können diesen Prozess unterstützen.

Die europäischen Regierungen und Bürger müssen sich mit dem zunehmenden Antisemitismus auseinandersetzen. Nur so können wir in 70 Jahren sagen, dass wir die Vergangenheit nicht vergessen, sondern aus ihr gelernt haben.

Izza Leghtas ist Westeuropa Expertin bei Human Rights Watch.

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