Am 17. Januar erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin vor einer Gruppe freiwilliger Helfer in Sotschi: „Schwuler Sex ist kein Verbrechen in Russland. Schwule können also gelassen und locker sein, aber sie sollen bitteschön die Kinder in Frieden lassen.“ Diese leichtfertige Äußerung machte Schlagzeilen. Die beiläufige Unterstellung Homosexuelle seien potenzielle Pädophile ist ebenso falsch wie gefährlich. Gerade für Heranwachsende, die mit Fragen ihrer sexuellen Identität beschäftigt sind, kann Putins Aussage schmerzhafte und schädliche Auswirkungen haben. Nach Putins Willen sollen sie aufwachsen, ohne Zugang zu relevanten Informationen zu haben.
Unter dem Vorwand, Kinder vor den unmittelbaren Gefahren einer positiven Aufklärung über Homosexualität zu schützen, führte Russland im vergangenen Jahr ein „Anti-Propaganda-Gesetz“ ein, welches Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender (LGBT) ins Visier nimmt. Das Gesetz erklärt positive Informationen über Homosexualität zu schädlicher Propaganda, die es - ähnlich wie die Befürwortung von Drogenkonsum oder Selbstmord - zu unterbinden gilt. Dies ist ohne jeden Zweifel eine schwere Verletzung der Meinungsfreiheit, der Privatsphäre, des Gleichbehandlungsgrundsatzes und des Diskriminierungsverbots.
Doch was ist mit den Kindern, um die Putin offenbar so besorgt ist? Liegt es in ihrem Interesse, sie vor positiven und zutreffenden Informationen über Homosexualität abzuschirmen? Schränkt dies ihre Rechte ein oder verletzt sie gar?
Im Großbritannien ließ die Regierung von Margaret Thatcher es in den 1980er Jahren gesetzlich verbieten, Homosexualität im Schulunterricht zu behandeln. Das UN-Komitee für die Rechte des Kindes - ein 18-köpfiges unabhängiges Expertengremium, das die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention kontrolliert - untersuchte das umstrittene Gesetz im Jahr 2002 und empfahl Großbritannien, das Gesetz abzuschaffen. Das Land müsse „jungen Homosexuellen und Transsexuellen angemessene Informationen und Unterstützung bereitstellen“. Die Regierung folgte der Empfehlung und strich das Gesetz bereits 2003.
Auch Russland hat die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet. Doch die Duma und die Regierung haben offenbar beschlossen, ein Recht, welche die Konvention allen russischen Kindern zusichert, zu ignorieren: Das Recht Informationen und Ideen aller Art zu suchen, zu erhalten und weiterzugeben. Insbesondere haben Kinder ein Recht auf Informationen, die ihrer geistigen Gesundheit zuträglich sind, und zu einer diskriminierungsfreien gesundheitlichen und sexuellen Aufklärung. Dazu gehören aber zweifellos auch Informationen über Homosexualität, die für die Entwicklung der sexuellen Identität und - in den Worten der UN-Experten - „für einen positiven und verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Sexualität" notwendig sind.
Russland ist auch Mitglied des Europarats. Dessen „Venedigkommission“, ein beratendes Gremium für verfassungsrechtliche Fragen, verwarf am 18. Juni 2013 Russlands Argumentation, wonach Kinder von der Regelung profitierten. Ebenso wiesen sie die Behauptung zurück, das „Anti-Propaganda-Gesetz“ bewege sich innerhalb des Ermessensspielraums der Regierung, wenn es um den Schutz der Moral und der allgemeinen Gesundheit gehe. Das Gesetz sei zur Verwirklichung dieser Ziele in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. „Es kann nicht als im Interesse Minderjähriger liegend betrachtet werden, dass sie von relevanter und angemessener Information über Sexualität, einschließlich Homosexualität, abgeschirmt werden“, so das Fazit der Kommission.
Das „Propagandagesetz“ verletzt also auch die Rechte des Kindes auf Meinungsfreiheit, Privatsphäre, Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung sowie auf Zugang zu wichtigen Informationen zu Gesundheit und Sexualität - gleichgültig wie Putin versucht, es zu rechtfertigen
Wenn es dem Präsidenten und den russischen Behörden wirklich um das beste Interesse ihrer Kinder geht, sollten sie aufhören, dieses zur Rechtfertigung ihrer diskriminierenden Agenda zu missbrauchen. Russland sollte die Kinderrechte ernst nehmen und Kinder mit Respekt behandeln, anstatt sie von relevanten und angemessenen Informationen über Homosexualität abzuschirmen. Und Präsident Putin sollte aufhören, Homosexuelle mit Pädophilen gleichzusetzen.
Boris Dittrich ist Direktor der Lobbyarbeit in der LGBT-Abteilung von Human Rights Watch