(New York) – Bewaffnete Oppositionsgruppen in Syrien haben bei einer am 4. August 2013 gestarteten Militäroffensive im Verwaltungsbezirk Latakia mindestens 190 Zivilisten getötet und über 200 als Geiseln genommen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Mindestens 67 Opfer wurden bei der Operation, die in der Nähe von regierungstreuen alewitischen Dörfern stattfand, hingerichtet oder völkerrechtswidrig getötet.
Der 105-seitige Bericht „‘You can still see their blood’: Executions, Indiscriminate Shootings, and Hostage Taking by Opposition Forces in Latakia Countrysidey“ dokumentiert, dass am 4. August, dem ersten Tag der Offensive, Zivilisten getötet wurden. Die beiden daran beteiligten Oppositionsgruppen, der Islamische Staat im Irak und al-Sham sowie Jaisch al-Muhadschireen wal-Ansar, halten immer noch Geiseln fest, die meisten davon Frauen und Kinder. Die Erkenntnisse von Human Rights Watch deuten klar darauf hin, dass die Tötungen, Geiselnahmen und anderen Menschenrechtsverletzungen als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen sind.
„Die Verbrechen waren nicht die Taten außer Kontrolle geratener Einzeltäter“, so Joe Stork, stellvertretender Nahost-Direktor bei Human Rights Watch. „Diese Operation war eine koordinierte und geplante Attacke gegen die Zivilbevölkerung dieser alewitischen Dörfer.“
Um den Opfern die Möglichkeit zu geben, Gerechtigkeit einzufordern, soll der UN-Sicherheitsrat Syrien unverzüglich an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) überweisen. Human Rights Watch hat auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Truppen der syrischen Regierung dokumentiert.
Für den Bericht führte Human Rights Watch Recherchen vor Ort durch und befragte mehr als 35 Personen, darunter Bewohner, die den Angriff überlebten, Rettungskräfte sowie Kämpfer und Aktivisten beider Konfliktparteien.
Den Erkenntnissen von Human Rights Watch zufolge beteiligten sich mindestens 20 verschiedene bewaffnete Oppositionsgruppen an der bis zum 18. August dauernden Operation, die sie als „Kampagne der Ankömmlinge Aischas, der Mutter der Gläubigen“, als „Barouda-Offensive“ oder als „Operation zur Befreiung der Küste“ bezeichneten. Es ist unklar, ob am 4. August, dem Tag, an dem der Großteil der Verbrechen verübt wurde, alle oder ein Großteil der Gruppierungen in den Dörfern anwesend waren.
Englischsprachiges Video zum Bericht:
Fünf Gruppen, die bei der Finanzierung, Organisation und Durchführung der Angriffe eine Schlüsselrolle spielten, waren jedoch eindeutig von Beginn, also ab dem 4. August, an der Operation beteiligt: Ahrar al-Sham, der Islamische Staat im Irak und al-Sham, Jabhat al-Nusra, Jaisch al-Muhadschireen wal-Ansar und Suquor al-Izz. Human Rights Watch kam durch verschiedene Interviews, durch die Recherchen vor Ort und die Auswertung von Erklärungen und Videos der Opposition zu dem Schluss, dass diese fünf bewaffneten Gruppen für konkrete Vorfälle verantwortlich sind, die Kriegsverbrechen darstellen.
Durch Ermittlungen vor Ort, Augenzeugenbefragungen, die Sichtung von Video- und Fotomaterial und eine Prüfung von Krankenhausakten konnte Human Rights Watch belegen, dass mindestens 67 der 190 identifizierten zivilen Opfer von oppositionellen Kräften völkerrechtswidrig getötet wurden. Für die übrigen Opfer sind weitere Recherchen zur Feststellung der genauen Todesumstände nötig und zur Klärung, ob sie völkerrechtswidrig getötet wurden.
Die hohe Zahl ziviler Opfer, die Art der Verletzungen – etwa mehrfache Schuss- oder Stichverletzungen – und die Tatsache, dass 43 Frauen, Kinder und alte Personen unter den Opfern waren, deuten zusammengenommen darauf hin, dass die Oppositionskämpfer den Großteil der verbleibenden Opfer entweder gezielt oder duch wahlloses Vorgehen töteten.
Das Ausmaß und die Muster der schweren Menschenrechtsverletzungen durch die Oppositionsgruppen legen nahe, dass sie systematisch und vorsätzlich gegen die Zivilbevölkerung verübt wurden. Das Beweismaterial deutet klar darauf hin, dass es sich bei den Tötungen, Geiselnahmen und anderen Vergehen, welche die Oppositionstruppen am 4. August und danach verübten, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelte.
Die Führungsebene und die örtlichen Befehlshaber von Ahrar al-Sham, dem Islamischen Staat im Irak und al-Sham, Jabhat al-Nusra, Jaisch al-Muhadachireen wal-Ansar und Suquor al-Izz, die die Operation leiteten, tragen unter Umständen persönliche strafrechtliche Verantwortung für die Tötungen, Geiselnahmen und anderen Vergehen. Sowohl für Kriegsverbrechen als auch für Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt das Prinzip der „Befehlsverantwortung“, wonach militärische Befehlshaber und andere Personen in Führungspositionen strafrechtlich für Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden können, die durch Truppen verübt wurden, welche ihrer direkten Kontrolle bzw. ihrem direkten Kommando unterstanden.
Die gilt insbesondere für Situationen, in denen Befehlshaber wissen oder verpflichtet wären zu wissen, dass durch ihre Untergebenen Straftaten verübt werden, und sie diese Verbrechen dennoch nicht verhindern bzw. die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft ziehen. Darüber hinaus sollen auch die Kämpfer aus diesen und anderen Gruppen, die Menschenrechtsverletzungen direkt anordneten oder selbst verübten, strafrechtlich verfolgt werden.
Human Rights Watch hat auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch syrische Regierungstruppen oder regierungstreue Kämpfer dokumentiert, darunter systematische Folter sowie außergerichtliche und Massenhinrichtungen nach Bodenoperationen, etwa in Daraya (Vorort von Damaskus) und in den Provinzen Tartous, Homs und Idlib. Die Vergehen der Oppositionstruppen rechtfertigen unter keinen Umständen jene der syrischen Regierung.
Human Rights Watch fordert den UN-Sicherheitsrat auf, ein Waffenembargo gegen alle an dem Konflikt beteiligten Gruppen zu verhängen, gegen die glaubwürdige Beweise für weitverbreitete und systematische Menschenrechtsverletzungen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen. Ferner soll der UN-Sicherheitsrat sich dafür stark machen, Gerechtigkeit für die Opfer einzufordern, indem er die Lage in Syrien an den IStGH überweist.
„Die Opfer der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien warten schon zu lange auf ein klares Signal des Sicherheitsrats, dass die Verantwortlichen für diese abscheulichen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden“, so Stork. „Die Einschaltung des IStGH ist absolut überfällig.“