(Tunis, 20. Oktober 2011) – Viele der Parteien, die am 23. Oktober 2011 in Tunesien zur Wahl der verfassungsgebenden Versammlung antreten, fordern den Schutz grundlegender Freiheitsrechte. Sie widersprechen sich jedoch darin, wann diese Rechte eingeschränkt werden dürfen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Hintergrundpapier. Das Papier soll es den Wählern ermöglichen, ihre Entscheidung auf der Grundlage zu treffen, wie sich die Parteien zu den Menschenrechten positionieren.
Das Hintergrundpapier stützt sich auf die Antworten von 15 politischen, darunter auch führenden Parteien auf einen Fragebogen, der im August an die meisten eingetragenen Parteien verschickt wurde und diese über ihre Haltung zu Menschenrechtsthemen befragt. Das Papier fasst die schriftlich und mündlich gegebenen Antworten zusammen und untersucht zudem öffentliche Stellungnahmen der Parteien zu Menschenrechtsfragen.
„Die Wahl zu Tunesiens verfassungsgebender Versammlung ist eine Richtungsentscheidung für die Zukunft des Landes“, so Sarah Leah Whitson, Leiterin der Abteilung Naher Osten und Nordafrika von Human Rights Watch. „Für die Wähler ist es wichtig zu wissen, wo die Parteien stehen, und den Politikern, denen sie ihre Stimme geben, deutlich zu machen, was sie von ihrer neuen Verfassung und Regierung erwarten.“
Die Übergangsregierung hat mehr als 100 politische Parteien zugelassen, die beim Aufbau ihrer Strukturen und der Äußerung ihrer Positionen bemerkenswerte Freiräume genießen. Dennoch kennen die meisten Tunesier deren Positionen und Programme nicht, weil die wenigen älteren Parteien unter Präsident Zine el-Abidine Ben Ali nur eingeschränkt arbeiten konnten und die neueren Parteien sich erst im Januar gegründet haben.
Die Antworten auf den Fragebogen zeigen, dass die meisten Parteien in der neuen Verfassung öffentliche Freiheiten wie die Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit schützen wollen. Bei bestimmten Einzelfragen wurden jedoch Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Grenzen der freien Meinungsäußerung erkennbar, etwa wenn das Recht auf Privatsphäre oder der Schutz von Minderheiten berührt sind oder eine „Diffamierung von Religionen“ vorliegt.
Die verfassungsgebende Versammlung steht vor der gewaltigen Herausforderung, eine Verfassung zu entwerfen, die das tunesische Regierungssystem, seine Institutionen und deren Machtbefugnisse neu definiert, und grundlegende Prinzipien festzulegen, an denen sich die Politik orientieren soll. Die neue Verfassung wird voraussichtlich Artikel beinhalten, die ausdrücklich bestimmte Menschenrechte schützen, und andere, die den Stellenwert der Menschenrechte im tunesischen Recht und Gesetzesvollzug indirekt beeinflussen.
Die Versammlung soll zudem eine Übergangsregierung bestimmen und deren Arbeit solange kontrollieren, bis Neuwahlen die Bildung einer Regierung ermöglicht haben.
Human Rights Watch ruft die verfassungsgebende Versammlung auf, in der neuen Verfassung einen wirksamen Schutz der international anerkannten Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Nicht-Diskriminierung, zu garantieren. Die Versammlung soll zudem sicherstellen, dass die Bürger vor staatlichen Institutionen, Personen, die im Auftrag des Staats handeln, und vor anderen Bürgern geschützt werden und dieser Schutz vor Gericht einklagbar ist. Die in der Verfassung verankerten Rechte sollen zudem bei Gesetzesreformen und bei der Harmonisierung nationaler Gesetze mit internationalen Menschenrechtsnormen angewendet werden. Zudem sollen sie es den tunesischen Gerichten ermöglichen, Menschenrechtsgarantien unmittelbar anzuwenden, und dafür sorgen, dass das tunesische Recht internationalen Menschenrechtsstandards entspricht.