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Taliban-Kämpfer patrouillieren in Kabul, Afghanistan am 19. August 2021.   © 2021 AP Photo/Rahmat Gul, File

(New York) - Taliban-Kräfte in Afghanistan haben seit der Übernahme des Landes am 15. August 2021 trotz einer verkündeten Amnestie allein in vier Provinzen mehr als 100 ehemalige Polizei- und Geheimdienstbeamte standrechtlich hingerichtet oder gewaltsam verschwinden lassen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 25-seitige Bericht „‘No Forgiveness for People Like You,’ Executions and Enforced Disappearances in Afghanistan under the Taliban” dokumentiert die Tötungen oder das Verschwinden von 47 ehemaligen Angehörigen der afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) - Militär, Polizei, Geheimdienst und Miliz - die sich zwischen dem 15. August und dem 31. Oktober den Taliban ergeben hatten oder von ihnen aufgegriffen wurden. Human Rights Watch sammelte verlässliche Informationen zu mehr als 100 Tötungen allein in den Provinzen Ghazni, Helmand, Kandahar und Kunduz.

„Die von der Taliban-Führung versprochene Amnestie hat lokale Kommandeure nicht davon abgehalten, ehemalige Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte kurzerhand hinzurichten oder verschwinden zu lassen”, sagte Patricia Gossman, stellvertretende Asien-Direktorin bei Human Rights Watch. „Es liegt nun an den Taliban, weitere Tötungen zu verhindern, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und die Familien der Opfer zu entschädigen.”

Human Rights Watch hat in den vier Provinzen 40 Personen persönlich und weitere 27 telefonisch befragt, darunter Zeug*innen, Verwandte und Freund*innen der Opfer, ehemalige Regierungsbeamte, Journalist*innen, Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens und Taliban-Mitglieder. Ein Taliban-Befehlshaber sagte, dass den Verantwortlichen für Gräueltaten „nicht vergeben werden kann”.

Die Taliban-Führung hat die sich ergebenden Sicherheitskräfte angewiesen, sich registrieren zu lassen. Daraufhin erhielten sie ein Schreiben, das angeblich ihre Sicherheit garantieren sollte. Die Taliban-Kräfte haben dies jedoch genutzt, um Menschen zu inhaftieren und innerhalb weniger Tage nach ihrer Registrierung standrechtlich hinzurichten oder gewaltsam verschwinden zu lassen. Die Leichen wurden dann von Angehörigen oder anderen Mitgliedern der Gemeinschaft gefunden.  

Die Taliban hatten zudem Zugang zu den von der ehemaligen Regierung hinterlassenen Personalunterlagen und nutzten diese, um Personen zu identifizieren, die verhaftet und hingerichtet werden sollten. Ein Beispiel: Ende September suchten Taliban-Kräfte in der Stadt Kandahar das Haus von Baz Muhammad auf, der beim National Directorate of Security (NDS), dem früheren staatlichen Geheimdienst, beschäftigt war, und verhafteten ihn. Angehörige fanden später seine Leiche.

Die Taliban haben auch menschenrechtsverletzende Durchsuchungsaktionen wie nächtliche Razzien durchgeführt, um verdächtige ehemalige Beamte festzunehmen und manchmal gewaltsam verschwinden zu lassen.

„Die nächtlichen Razzien der Taliban sind erschreckend”, sagte ein Aktivist der Zivilgesellschaft aus der Provinz Helmand. „Sie werden unter dem Vorwand durchgeführt, ehemalige Sicherheitskräfte zu entwaffnen, die ihre Waffen noch nicht abgegeben haben. Diejenigen, die 'verschwinden', sind [Opfer] von nächtlichen Razzien. Die Familien können nicht darüber berichten oder es bestätigen. Die Familien können nicht einmal fragen, wohin [die Person gebracht wurde].”

Bei den Durchsuchungen bedrohen und misshandeln die Taliban oft Familienmitglieder, um sie dazu zu bringen, den Aufenthaltsort der Untergetauchten zu verraten. Einige der dann aufgegriffenen Personen wurden exekutiert oder in Gewahrsam genommen, ohne dass Informationen zu ihrer Festnahme oder ihrem Aufenthaltsort preisgegeben wurden.

Der Geheimdienst der Taliban in Helmand hat Abdul Raziq, einen ehemaligen Militäroffizier aus der Provinz, festgenommen, nachdem er sich Ende August ergeben hatte. Seitdem ist es seiner Familie nicht gelungen, herauszufinden, wo er festgehalten wird oder ob er überhaupt noch lebt.

Die Hinrichtungen und das Verschwindenlassen von Personen haben ehemalige Regierungsbeamte und andere in Angst versetzt, die bislang gehofft hatten, dass die Machtübernahme durch die Taliban den Racheaakten ein Ende setzen würden, die den bewaffneten Konflikt so lange geprägt hatten.

Insbesondere in der Provinz Nangarhar haben die Taliban auch Personen ins Visier genommen, die sie beschuldigen, den Islamischen Staat in der Provinz Khorasan (ISKP, eine Tochterorganisation des IS) zu unterstützen. Wie die Vereinten Nationen berichten, stützen sich die Operationen der Taliban gegen den ISKP „in hohem Maße auf außergerichtliche Festnahmen und Tötungen”. Viele der Getöteten wurden wegen ihrer salafistischen Ansichten oder ihrer Stammeszugehörigkeit ins Visier genommen.

Am 21. September kündigten die Taliban die Einsetzung einer Kommission an, die Berichte über Menschenrechtsverletzungen, Korruption, Diebstahl und andere Straftaten untersuchen soll. Die Kommission hat keine Ermittlungen zu den gemeldeten Tötungen angekündigt, berichtete jedoch über die Verhaftung mehrerer Taliban-Mitglieder wegen Diebstahls und die Entlassung anderer wegen Korruption. In einer Antwort auf die Recherchen von Human Rights Watch vom 21. November erklärten die Taliban, sie hätten die Verantwortlichen für die Übergriffe entlassen, legten aber keine Informationen vor, die ihre Behauptung stützten.

„Die unbelegten Behauptungen der Taliban, sie würden handeln, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, scheinen bisher nichts weiter als ein PR-Gag zu sein”, sagte Gossman. „Der Mangel an Rechenschaftspflicht macht deutlich, dass die Vereinten Nationen die Menschenrechtssituation in Afghanistan weiterhin genau beobachten muss. Es braucht solide Mechanismen zur Überwachung, Untersuchung und öffentlichen Berichterstattung.”

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