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Ägypten: „Schusswechsel“ verschleiern offensichtliche außergerichtliche Hinrichtungen

Internationale Partner sollten Waffenlieferungen stoppen und Sanktionen verhängen

Ein maskierter ägyptischer Polizist beobachtet den Tahrir-Platz in Kairo, Ägypten. © 2016 AP Photo/Amr Nabil

(Beirut) - Die ägyptische Polizei und die Nationale Sicherheitsbehörde haben in den letzten Jahren offenbar Dutzende von mutmaßlichen „Terroristen“ im ganzen Land durch unrechtmäßige, außergerichtliche Hinrichtungen getötet und diese als „Schusswechsel“ bezeichnet, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 101-seitige Bericht „‘Security Forces Dealt with Them‘: Suspicious Killings and Extrajudicial Executions by Egyptian Security Forces“ kommt zu dem Schluss, dass die angeblich bewaffneten Kämpfer, die bei den vermeintlichen Schusswechseln getötet wurden, zum Zeitpunkt ihrer Tötung keine unmittelbare Gefahr für die Sicherheitskräfte oder andere Personen darstellten und sich in vielen Fällen bereits in Gewahrsam befanden. Ägyptens internationale Partner sollten Waffenlieferungen nach Ägypten stoppen und Sanktionen gegen die Sicherheitsbehörden und -beamten verhängen, welche die Hauptverantwortung für die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen tragen.

„Ägyptische Sicherheitskräfte haben jahrelang außergerichtliche Hinrichtungen durchgeführt und behauptet, die Männer seien bei Schusswechseln getötet worden“, sagte Joe Stork, stellvertretender Direktor für den Nahen Osten bei Human Rights Watch. „Es ist längst überfällig, dass Länder, die Ägypten Waffen und Sicherheitshilfen zur Verfügung stellen, diese Hilfen einstellen und sich von den entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen Ägyptens distanzieren.“

Human Rights Watch fand heraus, dass das Innenministerium den Tod von mindestens 755 Menschen bei 143 angeblichen Schusswechseln zwischen Januar 2015 und Dezember 2020 bekannt gab, wobei nur ein Verdächtiger festgenommen wurde. In den Erklärungen des Ministeriums wurden nur 141 der Getöteten identifiziert. Die Erklärungen enthielten kaum Details und viele Passagen wurden kopiert und an mehreren Stellen eingefügt.

In fast allen Stellungnahmen wurde behauptet, die mutmaßlichen Militanten hätten das Feuer eröffnet und die Sicherheitskräfte gezwungen, zurückzuschießen. Die Behörden behaupteten, dass alle Getöteten wegen „Terrorismus“ gesucht wurden und dass die meisten der Muslimbruderschaft angehörten. Die Gruppe ist seit dem Militärputsch vom Juli 2013 unter der Führung des heutigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi den härtesten Repressionen im Rahmen der landesweiten Unterdrückung von Regierungskritiker*innen ausgesetzt.

Human Rights Watch untersuchte die Fälle von 14 Personen, die zu den 75 Männern gehörten, welche bei neun dieser Vorfälle auf dem ägyptischen Festland getötet wurden (Human Rights Watch hatte zuvor mehrere außergerichtliche Hinrichtungen im Nord-Sinai dokumentiert). Bei den neun Vorfällen wurden keine Verdächtigen verhaftet und es gab keine Opfer unter den Sicherheitskräften. Human Rights Watch befragte 13 Verwandte und Bekannte der Männer sowie mehrere ägyptische Menschenrechtsanwält*innen und -aktivist*innen und eine Journalistin, die außergerichtliche Hinrichtungen dokumentiert hat.

Familien und Bekannte der 14 Männer sagten, die Opfer seien verhaftet worden, höchstwahrscheinlich von der Nationalen Sicherheitsbehörde, und befanden sich in Gewahrsam, als sie getötet wurden. Acht der Familien gaben an, dass sie selbst bzw. Freunde oder Bekannte Zeugen der Verhaftung gewesen waren. Dreizehn gaben an, dass ihre Angehörigen Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen wurden und dass sie sich vor ihrer Tötung offiziell nach ihrem Verbleib erkundigt hätten. Mitglieder von acht Familien gaben an, an den Körpern ihrer getöteten Verwandten Spuren von Misshandlungen gesehen zu haben, darunter Verbrennungen, Schnittwunden, gebrochene Knochen oder fehlende Zähne.

Wo immer möglich, prüfte Human Rights Watch Kopien offizieller Dokumente wie Sterbeurkunden und Telegramme, welche die Familien an die Behörden geschickt hatten.

In der Regel erfuhren die Familien vom Tod des jeweiligen Angehörigen aus den Medien. Alle bis auf eine gaben an, dass sie sich aktiv um Informationen zum Tod und zum Verbleib des Leichnams bemühen mussten. Die Familie eines Mannes konnte seine Leiche erst nach zwei Monaten abholen. Die Familien von zwei weiteren im Dezember 2018 getöteten Personen konnten die Leichen ihrer Angehörigen bis heute nicht abholen.

Alle Familien gaben an, dass Beamte des Nationalen Sicherheitsdienstes sie eingeschüchtert und schikaniert hätten, als sie versuchten, den jeweiligen Leichnam zu finden. Sieben sagten, dass die Sicherheitskräfte sie gezwungen hätten, ihre Angehörigen ohne jegliche Bestattungs- oder Trauerfeier zu begraben.

Nur eine Familie gab an, dass ihr getöteter Angehöriger wahrscheinlich an bewaffneten Aktivitäten beteiligt gewesen sei. Die anderen sagten, ihre Verwandten seien nicht gewalttätig und in einigen Fällen auch nicht an politischen Aktivitäten beteiligt gewesen.

Human Rights Watch hat unabhängige forensische Analysen in Auftrag gegeben und geprüft, für inoffizielle Fotos und Videos, die Leichen von fünf der Getöteten zeigen, sowie für Dutzende Fotos, die das Innenministerium bei zwei der angeblichen Schusswechsel veröffentlicht hat. In drei Fällen stimmt die Analyse nicht mit der offiziellen Darstellung des Schusswechsels überein. Die Fotos zeigen, dass die Hände der drei Leichen offenbar unmittelbar vor ihrem Tod auf dem Rücken gefesselt oder mit Handschellen fixiert waren.

In einem Fall hatte eine regierungsnahe Zeitung über die Verhaftung eines 19-jährigen Studenten und sein anschließendes Verhör berichtet, das über eine Woche dauerte, bevor das Innenministerium behauptete, Beamte hätten ihn bei einem „Schusswechsel“ getötet.

Human Rights Watch schickte im April und Mai 2021 zwei Briefe an die Behörden mit detaillierten Fragen zu den angeblichen Schusswechseln, erhielt aber keine Antwort.

In fast allen Erklärungen des Innenministeriums zu den „Schusswechseln“ wurde erwähnt, dass „die Oberste Staatsanwaltschaft [SSSP] den Vorfall untersucht“, ohne dass dies näher erläutert wurde. Das deutet auf eine menschenrechtsverletzende Staatsanwaltschaft hin, welche die oft unbegründeten Anschuldigungen der Sicherheitsbehörden weitgehend unterstützt.

Human Rights Watch fand keine Belege dafür, dass die Behörden ernsthafte oder aussagekräftige Ermittlungen zu einem der Vorfälle eingeleitet haben, und es wurden keine Familienangehörigen vorgeladen, um auszusagen. Generalstaatsanwältin Hamada al-Sawy sollte die SSSP von der Beaufsichtigung von Ermittlungen zum Verhalten und den Übergriffen der Sicherheitskräfte abziehen, so Human Rights Watch.

Es ist nicht möglich, endgültige Schlussfolgerungen über die Hunderte von Tötungen bei den zahlreichen anderen angeblichen Schusswechseln zu ziehen, da das Innenministerium selten auch nur die grundlegendsten Informationen wie die Namen der Getöteten preisgibt. Die aus den dokumentierten Vorfällen gezogenen Schlussfolgerungen zeigen jedoch ein klares Muster rechtswidriger Tötungen und lassen ernsthafte Zweifel an fast allen gemeldeten „Schusswechseln“ aufkommen, so Human Rights Watch.

Solche Tötungen nehmen zu, seit Präsident al-Sisi im Juni 2015 erklärte, dass reguläre Gerichte und Gesetze nicht ausreichen, um gegen gewalttätige Gruppen vorzugehen. Er forderte eine „rasche Justiz“. Seine Erklärung folgte auf die Ermordung des damaligen Generalstaatsanwalts Hisham Barakat durch bewaffnete Kämpfer, welche die Regierung mit der Muslimbruderschaft in Verbindung brachte.

Das Recht auf Leben ist ein inhärentes Menschenrecht, das auch in Zeiten eines bewaffneten Konflikts oder eines Ausnahmezustands nicht beeinträchtigt werden darf. Kurzfristige, außergerichtliche oder willkürliche Hinrichtungen sind nach internationalem Recht eindeutig verboten, u.a. gemäß des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker, zu deren Vertragsstaaten Ägypten gehört.

Im UN-Handbuch zur effektiven Prävention und Untersuchung außergerichtlicher, willkürlicher und summarischer Hinrichtungen heißt es, dass die Pflicht zur Untersuchung nicht nur in einem eindeutigen Fall eines unrechtmäßigen Todes „ausgelöst“ wird, sondern auch dann, wenn es „begründete Vorwürfe eines möglicherweise unrechtmäßigen Todes“ gibt, auch ohne eine formelle Beschwerde. Die Familienangehörigen sollten zudem das Recht haben, umfassend über die Todesumstände und -ursache informiert zu werden und sie sollten in die Ermittlungen einbezogen werden.

In Anbetracht des Ausmaßes der in diesem und früheren Berichten dokumentierten Menschenrechtsverletzungen durch das ägyptische Innenministerium und das ägyptische Militär, unter anderem auf dem Nordsinai, sollten die USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich und Deutschland sowie Ägyptens weitere internationale Partner gezielte Sanktionen verhängen. Dazu zählen etwa das Einfrieren von Vermögenswerten von ägyptischen Beamten und Einrichtungen, welche die Hauptverantwortung für die anhaltenden schweren Menschenrechtsverletzungen tragen, sowie Sanktionen gegen diejenigen, die für die anhaltende Straffreiheit im Zusammenhang mit diesen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.

Diese Länder sollten auch jegliche Sicherheits- und Militärhilfe sowie Waffenlieferungen an die ägyptische Regierung einstellen und deren Wiederaufnahme davon abhängig machen, dass schwere Menschenrechtsverletzungen beendet werden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem sollten sie, soweit möglich, gegen ägyptische Beamte, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, nach den Grundsätzen der universellen Gerichtsbarkeit ermitteln.

Der UN-Menschenrechtsrat sollte einen unabhängigen internationalen Mechanismus einrichten, um die Menschenrechtslage in Ägypten zu überwachen und darüber Bericht zu erstatten sowie schwere Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, darunter das Verschwindenlassen von Personen, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen.

„Die ägyptischen Sicherheitsbehörden begehen routinemäßig schwere Menschenrechtsverletzungen. Diese werden verheimlicht und bleiben ungestraft“, sagte Stork. „Die Einrichtung eines unabhängigen UN-Mechanismus, der die Menschenrechtssituation in Ägypten überwacht und darüber berichtet, ist von größter Bedeutung, um den eklatanten Menschenrechtsverletzungen durch die Behörden Einhalt zu gebieten.“

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