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Liberia: Erster Kriegsverbrecherprozess in der Schweiz

Die Schweiz muss bei schweren internationalen Verbrechen noch aktiver werden

Die Schweizer Nationalflagge weht über dem Eingang des Bundesstrafgerichts in Bellinzona. 5. März 2020. © REUTERS/Arnd Wiegmann

(Genf) – Der Prozess gegen einen ehemaligen liberianischen Rebellenführer, der in der Schweiz wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in Liberias erstem Bürgerkrieg verhaftet wurde, ist ein wichtiger Schritt in Richtung Gerechtigkeit für Opfer und Überlebende, so Human Rights Watch.

Am 3. Dezember 2020 wird ein Strafgericht in der Schweizer Stadt Bellinzona den Prozess gegen Alieu Kosiah einberufen, einem ehemaligen Kommandanten der liberianischen Rebellenmiliz ULIMO (United Liberation Movement of Liberia for Democracy). Kosiah ist die erste Person, die wegen Kriegsverbrechen vor ein nichtmilitärisches Schweizer Gericht gestellt wird und der erste Liberianer, gegen den wegen mutmaßlicher Verbrechen während des ersten liberianischen Bürgerkriegs von 1989 bis 1996 Anklage erhoben wurde.

„Der Prozess gegen den Rebellenführer Alieu Kosiah wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen, die vor Jahrzehnten, während des ersten Bürgerkriegs in Liberia, begangen wurden, ist eine eindrückliche Botschaft an andere potenzielle Kriegsverbrecher. Die Justiz mag langsam sein, aber sie vergisst nie“, so Balkees Jarrah, stellvertretende Direktorin für internationale Justiz bei Human Rights Watch. „Die Schweizer Behörden sollten ihre Bemühungen verstärken, um weitere Gräueltaten durch andere Verdächtige in der Schweiz zu verfolgen, wenn glaubwürdige Beweise vorliegen.“

Die Behörden verhafteten Kosiah am 10. November 2014 in der Schweiz, wo er seit 1999 lebte, wegen seiner mutmaßlichen Rolle bei Kriegsverbrechen, die zwischen 1993 und 1995 in Lofa County im Nordwesten Liberias begangen wurden. Zuvor hatten sieben liberianische Überlebende Strafanzeige gegen ihn gestellt. Als sogenannte „Privatkläger“ sind sie nun offiziell Parteien im Verfahren. Vier von ihnen werden von zwei Anwälten der Schweizer Nichtregierungsorganisation Civitas Maxima vertreten, darunter der Direktor dieser NGO, Alain Werner. Die Organisation arbeitet seit 2012 mit dem Global Justice and Research Project in Liberia zusammen, um die während der Bürgerkriege begangenen Verbrechen zu dokumentieren.

Nach einer fast fünfjährigen Untersuchung reichte die Schweizer Bundesanwaltschaft im März 2019 Klage gegen Kosiah ein. Sie wirft ihm verschiedene Verbrechen vor, darunter die Anordnung des Mordes und der Misshandlung von Zivilisten, Vergewaltigung und Plünderung.

Der Prozess gegen Kosiah in der Schweiz ist möglich, weil das Land den Grundsatz der universellen Gerichtsbarkeit bei bestimmten, nach dem Völkerrecht schweren Verbrechen in seinen Gesetzen verankert hat und die Untersuchung und Verfolgung dieser Verbrechen unabhängig davon möglich ist, wo sie begangen wurden und welche Nationalität die Verdächtigen oder Betroffenen haben. Die nach dem Weltrechtsprinzip, also der universellen Zuständigkeit, verhandelten Fälle gewinnen international immer mehr an Bedeutung, wenn es darum geht, die Verantwortlichen für Gräueltaten zur Rechenschaft zu ziehen und Gerechtigkeit für die Überlebenden herzustellen, die sich sonst an niemanden wenden können. Das Weltrechtsprinzip dient außerdem dazu, von künftigen Verbrechen abzuschrecken und trägt dazu bei, dass Länder nicht zu sicheren Häfen für Menschenrechtsverletzer werden, erklärt Human Rights Watch.

Seit seiner Verhaftung befindet sich Kosiah in der Schweiz in Untersuchungshaft. Der Prozessauftakt war ursprünglich für April vorgesehen, wurde aber vertagt, weil die Privatkläger und sieben Zeugen aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht aus Liberia anreisen konnten. Wie das Bundesstrafgericht der Schweiz erklärte, blieben Bemühungen erfolglos, sie per Video von Monrovia, der Hauptstadt Liberias, aus zu vernehmen.

Angesichts der Covid-19-Pandemie ist die Gewährleistung der Sicherheit von Zeugen, Betroffenen und Justizpersonal eine große Herausforderung, so Human Rights Watch. Das Gericht in Bellinzona wird in der ersten Phase des Prozesses, die am 11. Dezember enden soll, den Angeklagten anhören. Der Prozess wird Anfang 2021 mit der mündlichen Verhandlung fortgesetzt. Ein genauer Termin steht noch nicht fest. Das Gericht sagte, es bemühe sich weiterhin darum, einigen Teilnehmern die Teilnahme am Verfahren per Videolink zu ermöglichen.

Das Gericht in Bellinzona sollte alles versuchen, um der Öffentlichkeit und den von den Verbrechen der ULIMO betroffenen Gemeinden Zugang zu Informationen über den Prozess zu verschaffen. Werden die betroffenen Gemeinschaften nicht ausreichend eingebunden, kann sich das direkt auf den Erfolg der Bemühungen auswirken, die Verantwortlichen für schwere internationale Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, erklärte Human Rights Watch.

Während der bewaffneten Konflikte von 1989–1996 und 1999–2003 kam es in Liberia zu unzähligen Verstößen gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht, wie Massentötungen, Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt, Hinrichtungen im Schnellverfahren, Verstümmelungen und Folter sowie den Einsatz von Kindersoldaten.

Liberia hat niemanden für die schweren Verbrechen, die während dieser beiden bewaffneten Konflikte begangen wurden, strafrechtlich verfolgt. Die Justizbehörden der Vereinigten Staaten, Belgiens, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs haben in den letzten Jahren Verfahren gegen Verantwortliche der in Liberia begangenen Verbrechen aufgenommen, die oft durch das Engagement der Zivilgesellschaft angestoßen wurden.

Diese Fälle allein reichen jedoch nicht aus. Sie machen deutlich, dass die Justiz deutlich mehr tun muss, um die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen in Liberia vor Gericht zu bringen, so Human Rights Watch. Die in den Jahren 2006 und 2009 eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission in Liberia empfahl die Einrichtung eines Kriegsverbrechertribunals, besetzt mit internationalen und liberianischen Richtern, den Außerordentlichen Strafgerichtshof für Liberia, um die Verantwortlichen für schwere Verbrechen vor Gericht zu stellen. Trotz verstärkter Forderungen nach der Aufarbeitung dieser Verbrechen wurde die Empfehlung für ein Kriegsverbrechertribunal nie umgesetzt.

„Die Liberianer haben wiederholt Gerechtigkeit für die Verbrechen der Bürgerkriegsära gefordert, aber die liberianische Regierung hat es versäumt, diese Forderung zu erfüllen“, sagte Jarrah. „Der Fall Kosiah und andere Untersuchungen in Europa zeigen, dass Strafverfolgung in Liberia möglich ist und umgesetzt werden sollte“.

Liberianische und internationale Menschenrechtsverteidiger haben den liberianischen Präsidenten George Weah aufgefordert, die Vereinten Nationen um Unterstützung bei der Einrichtung eines Kriegsverbrechergerichts zu bitten. Ihr Videoappell zeigt das Interesse der Liberianer an einem solchen Gericht.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat eine wachsende Zahl von nationalen Gerichten in verschiedenen Ländern Fälle von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Folter, Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen im Ausland verfolgt. Gleichzeitig haben Schweizer Nichtregierungsorganisationen, ehemalige Staatsanwälte, Parlamentarier und andere Personen kritisiert, dass die Justizbehörden in der Schweiz anderen Ländern hinterherhinken, obwohl sie über eine solide Gesetzgebung zur Bekämpfung schwerer Verbrechen verfügen.

Kritisiert wurden unzureichende Kapazitäten, mangelnder politischer Wille und unnötige Verzögerungen. Zudem gab es den Vorwurf der politischen Einmischung. Die für die Staatsanwaltschaft zuständige Aufsichtsbehörde, hat zu einer Reihe dieser Fragen in Beantwortung von Fragen der Parlamentarier Stellung genommen.

In ihrem jährlichen Tätigkeitsbericht für 2019 berichtete die Generalstaatsanwaltschaft von 13 laufende völkerstrafrechtliche Ermittlungen. Neben Kosiah sind drei weitere Personen bekannt, gegen die ermittelt wird: Khaled Nezzar, ehemaliger algerischer Verteidigungsminister; Rifaat al-Assad, Onkel des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad und ehemaliger Kommandeur der syrischen Verteidigungsbrigaden; und Ousman Sonko, ehemaliger Innenminister Gambias.

Berichte von Human Rights Watch aus verschiedenen Ländern zeigen, dass die faire und effektive Ausübung der universellen Gerichtsbarkeit erreichbar ist – mit der richtigen Kombination aus geeigneten Gesetzen, angemessenen Ressourcen, institutionellem Engagement, wie etwa speziellen Einheiten zur Strafverfolgung von Kriegsverbrechen, und politischem Willen. Angesichts der Sensibilität und der diplomatischen Spannungen, die häufig auftreten wenn hochrangige ausländische Beamte Gegenstand von Ermittlungen sind, ist insbesondere politischer Wille erforderlich, um Fälle von Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen.

„Der in Gesetzen verankerte Grundsatz der universellen Gerichtsbarkeit ist ein zentrales Instrument gegen Straffreiheit bei abscheulichen Verbrechen, besonders wenn keine anderen Wege zur Gerechtigkeit offen stehen“, sagte Jarrah. „Der Beginn des Kosiah-Prozesses verschafft den Betroffenen von Verbrechen in Liberia ein Stück Gerechtigkeit, indem die Verantwortlichen in einem glaubwürdigen Prozess zur Rechenschaft gezogen werden.“

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