(New York, 14. April 2020) – Regierungen weltweit sollten dringend Maßnahmen ergreifen, um die Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern und die Menschen zu unterstützen, die am stärksten betroffen sind. Dies muss jedoch im Einklang mit den Menschenrechten erfolgen, so Human Rights Watch heute. Ziel der neuen 40-Fragen-Checkliste von Human Rights Watch zur Covid-19-Krise ist es, Regierungen bei der Reaktion auf die Herausforderungen der Pandemie zu unterstützen.
Die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus, das erstmals im Dezember 2019 in Wuhan, China, identifiziert wurde, hat die Gesundheit, die Freiheit und die Lebensgrundlage der Menschen massiv beeinträchtigt und eine weltweite Menschenrechtskrise ausgelöst. Die neue Checkliste bietet einen Rahmen dafür, wie den negativen Auswirkungen von Ausgangssperren und anderen Maßnahmen „sozialer Distanzierung“ sowie den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie für die Menschen in größter Not begegnet werden kann.
„Covid-19 stellt eine überwältigende Herausforderung für die öffentliche Gesundheit dar, bietet aber auch die Gelegenheit, seit langem bestehende Menschenrechtsprobleme anzusprechen“, sagte Akshaya Kumar, Leiterin der Abteilung Crisis Advocacy bei Human Rights Watch. „Die Politik zur Bewältigung der Krise sollte anerkennen, dass unsere Gemeinschaften nur so stark sind wie die Schwächsten unter uns.“
Human Rights Watch has identified 40 questions to guide a rights-respecting response to the COVID-19 crisis that addresses the needs of groups most at risk, including people living in poverty, ethnic and religious minorities, women, people with disabilities, older people, LGBT people, migrants, refugees, and children.
READ THEM HEREDie Checkliste, die auf Forschungsergebnissen von Human Rights Watch auf der ganzen Welt basiert, skizziert eine Reaktion, die bewusst viele verschiedene Sektoren und die Bedürfnisse der am stärksten gefährdeten Gruppen berücksichtigt, darunter in Armut lebende Menschen, ethnische und religiöse Minderheiten, Frauen, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, LGBT Personen, Migranten, Flüchtlinge und Kinder.
Bis zum 13. April 2020 haben 210 Länder und Territorien Fälle des Virus verzeichnet, wobei es weltweit insgesamt 2 Millionen bestätigte Fälle gibt. Rund 119.000 Menschen sind bislang an der Krankheit gestorben.
Die Regierungen reagierten auf die Krise unter anderem mit weitreichenden Einschränkungen von Grundrechten wie der Bewegungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Die internationalen Menschenrechtsstandards erlauben, dass bei ernsthaften Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit und bei öffentlichen Notlagen, die das Wohlergehen einer Nation bedrohen, Einschränkungen einiger Rechte gerechtfertigt sein können. Diese Einschränkungen müssen jedoch eine rechtliche Grundlage haben, absolut notwendig sein und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Sie dürfen weder willkürlich noch diskriminierend angewendet werden. Zudem müssen sie von begrenzter Dauer sein, die Menschenwürde achten, regelmäßig überprüft werden und zur Erreichung des Ziels angemessen sein.
Um die Verbreitung des Virus wirksam zu verhindern, müssen die Regierungen die Öffentlichkeit fortwährend auf dem Laufenden halten und Probleme in den Bereichen Tests, Behandlung und Versorgung angehen. Während einige Regierungen die Existenz einer Krise leugnen, haben andere den Zugang zu Informationen und medizinischer Versorgung verbessert.
Nach Kritik an den Maßnahmen zur Bewältigung der Covid-19-Krise hob Äthiopien ein generelles Telefon- und Internetverbot in der westlichen Region Oromia auf und beendete damit eine dreimonatige Sperre, so dass die betroffenen Gemeinden wieder Zugang zu lebensrettenden Informationen haben. In Portugal hat die Regierung angekündigt, Menschen mit laufenden Aufenthalts- und Asylanträgen bis zum 30. Juni wie Personen mit ständigem Wohnsitz zu behandeln und ihnen im Rahmen des nationalen Systems gleichen Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen. In Pakistan verpflichtete sich ein Regierungsbeamter öffentlich dazu, Transgender-Menschen zu helfen, um ihnen den Zugang zu medizinischer Versorgung zu erleichtern.
Ein Krisenmanagement, das die Menschenrechte respektiert, muss sich mit den wirtschaftlichen Folgen von Covid-19 befassen und die notwendigen Maßnahmen im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsstandards ergreifen. Viele der als Reaktion auf Covid-19 verabschiedeten Wirtschaftsprogramme vernachlässigen die Beschäftigten im informellen Sektor. Einige Länder haben jedoch wichtige Schritte unternommen, um Lebensmittel, Wasser und Wohnraum für gefährdete Bevölkerungsgruppen bereitzustellen.
In Südafrika hat die nationale Regierung an die Kommunen appelliert, die Wasserversorgung nicht zu unterbrechen, sollten Menschen ihre Rechnungen hierfür nicht bezahlen können. Die Regierung bringt Wasser mit Tankwagen in informelle Siedlungen und andere bedürftige Gemeinden. Argentinien, Australien, Irland und viele andere Regierungen haben erkannt, wie wichtig Wohnraum bei der Umsetzung der Maßnahmen ist und haben angekündigt, Zwangsräumungen auszusetzen.
Während einige Regierungen mit ihren Maßnahmen Menschenrechte verletzten, haben andere versucht, eine verhältnismäßige und ausgewogene Antwort auf die Krise zu formulieren. Aufgrund von Bewegungseinschränkungen haben etwa die Gesundheitsbehörden in England und Schottland erlaubt, Tabletten zur medikamentösen Abtreibung zu Hause einzunehmen.
Während einige Regierungen zugelassen haben, dass Sicherheitskräfte bei der Durchsetzung der Quarantäne und der Ausgangssperren Menschenrechte verletzen, sind andere entsprechend gegen die Verantwortlichen vorgegangen. In Uganda zwang die Polizei Frauen, sich auszuziehen, weil sie angeblich die Ausgangssperre missachtet hatten. In Südafrika wurden Kinder verletzt, als die mit der Durchsetzung der Ausgangssperre beauftragte Polizei einen Mann vor seinem Haus erschoss. In beiden Fällen sicherten die Behörden zu, die verantwortlichen Beamten strafrechtlich zu verfolgen und zur Rechenschaft zu ziehen.
Soziale Distanzierung gilt weiterhin als Schlüsselmaßnahme gegen die rasche Ausbreitung von Covid-19. Doch die Regierungen brauchen eine Politik, die sich mit den negativen Auswirkungen befasst, die Ausgangssperren und Hausarrest mit sich bringen. Dazu gehört die Ausweitung der psychosozialen und psychologischen Unterstützung. Zudem muss sichergestellt werden, dass Kinder trotz der Schulschließungen weiterhin lernen können. Auch müssen zunehmende häusliche Gewalt und Gewalt gegen Kinder bekämpft werden.
Frankreich will bis zu 20.000 Übernachtungen für Opfer häuslicher Gewalt bezahlen und ermutigt die Betroffenen, mithilfe eines Codeworts in der Apotheke unauffällig um Hilfe zu bitten. In Italien, dem Epizentrum des Ausbruchs in Europa, schuf die Regierung ein landesweites psychologisches Hilfsprogramm. Australien kündigte die Einrichtung einer speziellen „Coronavirus-Wohlfühl-Hotline“ an. Wegen zunehmend fremdenfeindlicher Rhetorik haben britische Polizeikräfte Berichten zufolge Ermittlungen in Fällen eingeleitet, bei denen behauptet worden war, Muslime hätten Covid-19 vorsätzlich verbreitet.
Die positiven Beispiele in der Checkliste sind nicht bindend, sie sollen vielmehr Entscheidungen veranschaulichen, die den Regierungen im Kampf gegen die Pandemie offen und zur Verfügung stehen.
„Auch wenn keine Reaktion perfekt war, ergreifen Regierungen auf der ganzen Welt Maßnahmen, welche die öffentliche Gesundheit schützen und die Menschenrechte respektieren“, sagte Kumar. „Doch ohne Hilfe für die am meisten gefährdeten Menschen wird es für die Gesellschaften schwierig sein, sich zu erholen, wenn die Krankheit erst einmal eingedämmt ist“, so Kumar.