(New York) – Syrische Sicherheitskräfte haben während der jüngsten Angriffe auf Städte und Dörfer insgesamt über 100 – und möglicherweise noch viel mehr – Zivilisten sowie verwundete oder gefangen genommene Oppositionskämpfer hingerichtet, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 25-seitige Bericht „In Cold Blood: Summary Executions by Syrian Security Forces and Pro-Government Militias” dokumentiert mehr als ein dutzend Fälle mit mindestens 101 Opfern seit Ende 2011; viele Fälle ereigneten sich im März dieses Jahres. Human Rights Watch dokumentierte die Beteiligung syrischer Truppen und regierungsnaher Shabeeha-Milizen an außergerichtlichen Hinrichtungen in den Regierungsbezirken Idlib und Homs. Regierungstruppen und regierungsnahe Milizen töteten nicht nur Oppositionskämpfer, die sie festgenommen hatten oder die auf andere Weise den Kampf eingestellt hatten und daher keine Gefahr mehr darstellten, sondern auch Zivilisten, die auch keine Gefahr für die Sicherheitskräfte darstellten.
„In einem verzweifelten Versuch, den Aufstand niederzuschlagen, richten die syrischen Truppen kaltblütig Menschen hin, Zivilisten ebenso wie Rebellen“, so Ole Solvang, Experte für Krisenregionen von Human Rights Watch. „Sie vollstrecken die Hinrichtungen am hellichten Tage und in Anwesenheit von Zeugen, offensichtlich unbesorgt über ihre strafrechtliche Verantwortung für diese Verbrechen.“
Human Rights Watch rief den UN-Sicherheitsrat dazu auf, dass eine mögliche UN-Mission, die den von Kofi Annan ausgehandelten 6-Punkte-Plan überwachen soll, in der Lage sein muss, solche Verbrechen zu dokumentieren. Dafür sollen neben Militärbeobachtern auch entsprechend ausgestattete Menschenrechtsbeobachter in das Land geschickt werden, die auf sichere und unabhängige Weise die Opfer von Menschenrechtsverletzungen befragen könnten, während sie diese gleichzeitig vor Vergeltungsanschlägen schützen.
Seit Ende 2011, als die syrischen Truppen ihr militärisches Vorgehen gegen angebliche Rebellenhochburgen verschärften, sind Hunderte Menschen durch Artillerie-Beschuss, Scharfschützen oder fehlende medizinische Hilfe gestorben.
Die genaue Anzahl der Opfer von außergerichtlichen Hinrichtungen lässt sich unmöglich feststellen, da es zurzeit äußerst schwierig ist, verlässliche Informationen aus Syrien zu bekommen. Dennoch hat Human Rights Watch mindestens 12 Fälle von Hinrichtungen in Idlib und Homs dokumentiert. Obwohl zusätzliche Berichte von vielen anderen ähnlichen Vorfällen vorliegen, wurden in dem Bericht nur solche Fälle erwähnt, in denen die Zeugen persönlich interviewt werden konnten.
In den von Human Rights Watch dokumentierten Fällen waren mindestens 85 Opfer syrische Einwohner, die nicht an den Kämpfen teilgenommen hatten, einschließlich Frauen und Kinder. Der Bericht beschreibt detailliert mehrere Fälle von Massenhinrichtungen an Zivilisten, einschließlich der Ermordung von mindestens 13 Männern am 11. März in der Bilal-Moschee in Idlib, der Hinrichtung von mindestens 25 Männern während einer Durchsuchungs- und Verhaftungsaktion am 3. März im Stadtviertel Sultaniya in Homs und der Tötung von mindestens 47 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder am 11. und 12. März in den Stadtteilen Adwiyya, Karm al-Zaytoun und Refa´i in Homs.
In diesen Fällen verhafteten und exekutierten syrische Sicherheitskräfte, allein oder zusammen mit den regierungsnahen Shabeeha-Milizen, Menschen, die fliehen wollten, als die Armee ihre Stadt einnahm; sie erschossen oder erstachen Menschen in ihren Häusern, als die Sicherheitskräfte in eroberte Städte vordrangen; oder sie töteten festgenommene Einwohner während Hausdurchsuchungen.
Louai zum Beispiel, der sich in dem Stadtviertel Baba Amr in Homs aufhielt, nachdem die Armee dort die Macht übernommen hatte, beschrieb die Hinrichtung seines Bruders und vier seiner Nachbarn am 2. März. Louai, der seinen richtigen Namen aus Angst vor Repressalien nicht nennen möchte, berichtete, dass die Armee zuerst das Haus seines Nachbarn stürmte, die vier anwesenden Männer nach draußen zerrte und sie dann mit Messern vor ihren Familien abschlachtete. Die Soldaten kamen dann in Louais Haus und schossen auf ihn und seinen Bruder, als sie ihre Hände hoben, so dass Louai verwundet und sein Bruder getötet wurde.
Human Rights Watch dokumentierte außerdem die Hinrichtungen von mindestens 16 Oppositionskämpfern, die die syrischen Sicherheitskräfte aus nächster Nähe erschossen, nachdem sie gefangen genommen oder verletzt worden waren und somit nicht länger an den Kämpfen teilgenommen hatten. Diese Fälle geben Anlass zu der Sorge, dass die Armee eine offizielle oder inoffizielle Strategie verfolgt, keine lebenden Gefangenen festzuhalten.
Ein Oppositionskämpfer aus Kafr Rouma im Bezirk Idlib beschrieb Human Rights Watch eine Hinrichtung von Kämpfern seiner Einheit Anfang März:
Einer der Kämpfer wurde am rechten Bein von einem Maschinengewehr verletzt. Er lag auf der Straße und wir konnten ihn nicht retten, da die Armee auf uns schoss. Dann näherte sich ein Panzer, ungefähr 15 Soldaten in Militäruniform umringten unseren Kameraden und begannen, ihn zu beleidigen und zu treten. Sie schrien uns an, dass wir aufgeben sollten oder sie würden ihn töten. Dann banden sie ein schwarzes Tuch um seine Augen, legten ihm Handschellen an und einer von ihnen erschoss ihn mit einem Maschinengewehr. Als sie wieder weg waren, beerdigten wir ihn auf dem Friedhof im Dorf.
Internationale Menschenrechtsstandards verbieten standrechtliche und außergerichtliche Hinrichtungen. In bewaffneten Konflikten, in denen das humanitäre Völkerrecht gilt, sind Kämpfer ein legitimes Angriffsziel, wenn sie an Kampfhandlungen teilnehmen. Das gezielte Töten von verletzten, sich ergebenden oder gefangen genommenen Soldaten stellt jedoch ein Kriegsverbrechen dar.
Human Rights Watch hat auch bereits ernsthafte Menschenrechtsverletzungen durch die Rebellen in Syrien dokumentiert und verurteilt. Dies soll untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Gesetzesüberschreitungen rechtfertigen jedoch in keiner Weise Menschenrechtsverletzungen durch Regierungstruppen, einschließlich der Hinrichtung von Oppositionskämpfern.
Human Rights Watch hat den UN-Sicherheitsrat dazu aufgerufen, die Situation in Syrien an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu überweisen, gegen die syrische Regierung ein Waffenembargo auszusprechen und syrische Offizielle sowie die Befehlshaber der Rebellen, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, mit Sanktionen zu belegen. Human Rights Watch appellierte außerdem an alle anderen Länder, sich der wachsenden Forderung nach strafrechtlicher Verfolgung anzuschließen, indem sie eine Überweisung an den IStGH unterstützen. Der Internationale Strafgerichtshof ist das geeignete Forum, um gegen diejenigen zu ermitteln, die die größte Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen in Syrien tragen.
„Die syrischen Sicherheitskräfte werden mit den Hinrichtungen nur aufhören, wenn sie spüren, dass sie unausweichlich zur Rechenschaft gezogen werden“, so Solvang. „Es ist Aufgabe des Sicherheitsrates, dieses Signal zu senden.“