(Jerusalem, 13. Mai 2010) - Israel soll die rechtswidrige Zerstörung ziviler Gebäude während des Gaza-Kriegs 2009 untersuchen. Zudem soll die Blockade des Gazastreifens beendet werden, damit die Bewohner ihre Häuser wieder aufbauen können, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Die 116-seitige Bericht “‘I Lost Everything’: Israel's Unlawful Destruction of Property in the Gaza Conflict” dokumentiert zwölf verschiedene Vorfälle während der israelischen Militäroperation „Gegossenes Blei“, bei denen israelische Truppen zivile Gebäude zerstört haben, etwa Wohnhäuser, Fabrikgebäude, Farmen und Gewächshäuser, die in von ihnen kontrollierten Gebieten lagen, ohne dass dafür eine kriegsrechtliche begründete, militärische Notwendigkeit bestand. Die Untersuchungen von Human Rights Watch, die auf physischen Beweismitteln, Satellitenbildern und mehreren Augenzeugenberichten in jedem einzelnen Fall beruhten, fanden keinen Beleg dafür, dass die Zerstörungen im Zusammenhang mit Kampfhandlungen standen.
Israel gibt an, dass die Streitkräfte zivile Gebäude nur dann zerstören, wenn sie palästinensischen Kämpfern als Rückzugsort oder Gefechtsbasis dienen, dort Waffen gelagert, Tunneleingänge versteckt oder die Gebäude für andere militärischen Zwecken verwendet werden. Israel hat auch behauptet, dass viele Häuser in Gaza durch Sprengfallen der Hamas zerstört wurden. Die von Human Rights Watch in dem vorliegenden Bericht dokumentierten Fälle und gesammelten Beweise stützen diese Aussagen der israelischen Seite nicht.
„Fast 16 Monate nach den Kämpfen in Gaza hat Israel immer noch nicht die Einheiten zur Verantwortung gezogen, die rechtswidrig ganze Straßenzüge in den von ihnen kontrollierten Gebieten zerstört haben“, sagte Sarah Leah Whitson, Direktorin der Abteilung Naher Osten und Nordafrika von Human Rights Watch. „Die israelische Blockade hält die Bewohner des Gazastreifens weiterhin davon ab, zerstörte Häuser wieder aufzubauen. Lange nachdem die eigentlichen Kämpfe vorbei sind, übt Israel damit immer noch Repressalien gegen die palästinensische Zivilbevölkerung aus.“
Human Rights Watch fand in allen der zwölf untersuchten Fälle Beweise dafür, dass die israelischen Streitkräfte die Zerstörungen entweder als Strafmaßnahme oder aus anderen rechtswidrigen Gründen durchführten. Damit wurde das humanitäre Völkerrecht gebrochen, wonach die absichtliche Zerstörung ziviler Gebäude nur dann gerechtfertigt ist, wenn eine militärische Notwendigkeit vorliegt. In sieben Fällen bestätigten Satellitenbilder die Berichte von Augenzeugen, denen zufolge die israelischen Streitkräfte Gebäude und Anlagen erst dann zerstörten, als sie bereits die vollständige Kontrolle über ein Gebiet erlangt hatten beziehungsweise kurz bevor von Israel ein Waffenstillstand verkündet wurde und die Truppen am 18. Januar 2009 aus dem Gazastreifen abgezogen wurden.
Israels umfassende Blockade des Gazastreifens, eine Form von kollektiver Bestrafung der Zivilbevölkerung, wurde im Juni 2007 als Reaktion auf die Machtübernahme der Hamas verhängt. In vielen Gebieten verhindert die Blockade den Wiederaufbau nach dem Krieg, auch in den Gebieten, in denen die Untersuchungen von Human Rights Watch durchgeführt wurden. Israel hat die Einfuhr von Zement zur Reparatur von einzelnen Gebäuden und Anlagen erlaubt. Aber laut einer Aussage von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon Ende März handelt es sich dabei nur um einen „Tropfen auf den heißen Stein“, im Hinblick auf den Mangel an Wohnraum und die eigentlich notwendigen Wiederaufbauarbeiten.
Bereits vor der Operation „Gegossenes Blei" hat die Blockade zu einer drastischen Verschlechterung der Lebensbedingungen im Gazastreifen geführt. Die zuständigen Verantwortlichen wollen die Blockade so lange aufrechterhalten, bis die Hamas Sergeant Gilad Shalit, einen im Jahr 2006 gefangen genommen israelischen Soldaten, wieder freilässt, Gewalt abschwört und andere politische Bedingungen erfüllt. Die andauernde Isolationshaft von Shalit durch die Hamas stellt einen Verstoß gegen das Verbot von grausamer und unmenschlicher Behandlungen dar und erfüllt möglicherweise den Tatbestand der Folter.
Viele Waren werden durch Tunnel, die unter der südlichen Grenzen des Gazastreifens mit Ägypten verlaufen, in den Gazastreifen geschmuggelt. Einige Gebäude wurden zumindest teilweise mit Ziegeln repariert, die aus geschmuggeltem Zement und aus wiederaufbereitetem Betonschutt gefertigt wurden. Doch diese improvisierten Baumaterialien sind nur von schlechter Qualität und nicht für große Bauprojekte geeignet. Keinerlei Wiederaufbau hat es bisher in den Gebieten der von Human Rights Watch dokumentierten Zerstörungen gegeben. Das zeigt, dass die unzureichende Versorgung dazu führt, dass Baumaterialien für viele Menschen unerschwinglich werden. Die Bewohner des Gazastreifens sind zu mehr als drei Vierteln verarmt.
Auch Ägypten hat seine Grenzübergänge nach Gaza geschlossen und ist dadurch mitverantwortlich für die kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung. Nur in wenigen Ausnahmefällen erlaubt Ägypten den Transport von Gütern oder die Ein- und Ausreise von Personen über den Grenzübergang Rafah.
Das Kriegsrecht verbietet Angriffe auf zivile Objekte wie Wohnhäuser und private Fabriken, solange sie nicht militärisch genutzt werden oder feindlichen Kräften einen eindeutigen militärischen Vorteil geben. In dem Bericht werden Vorfälle untersucht, in denen Beweise für eine Verletzung des Kriegsrechts durch „mutwillige Zerstörung“ vorlagen. Dieser Begriff wird für eine umfangreiche Zerstörung ziviler Gebäude verwendet, die nicht durch eine militärische Notwendigkeit gerechtfertigt ist. Ein solches Vorgehen stellt einen schweren Verstoß gegen die 1949 vereinbarte vierte Genfer Konvention dar, die für Gaza rechtsgültig ist. Personen, die eine mutwillige Zerstörung anordnen oder durchführen, sind eines Kriegsverbrechens schuldig und sollen strafrechtlich verfolgt werden.
In dem Bericht behandelt Human Rights Watch ausschließlich Fälle, in denen es zu umfangreichen Zerstörungen gekommen ist und die Beweise die Möglichkeit ausschließen, dass die Zerstörung militärisch gerechtfertigt war oder auf falschen Informationen beruhte.
Human Rights Watch dokumentiert die vollständige Zerstörung von 189 Gebäuden, darunter elf Fabriken, acht Lagerhallen und 170 Wohngebäuden. Mindestens 971 Menschen sind dadurch obdachlos geworden. Dabei umfassen die untersuchten Fälle nur etwa fünf Prozent der Gebäude, die in Gaza insgesamt zerstört wurden. In den Fällen, die in den Vierteln Izbt Abd Rabbo, Zeitoun und Khoza'a stattfanden, zerstörten die israelischen Streitkräften buchstäblich jedes Haus, jede Fabrik und jede Obstanlage innerhalb bestimmter Gebiete. Das spricht für ein systematisches und planmäßiges Vorgehen. Bei den zerstörten Industrieanlagen handelt es sich um Saft- und Keksfabriken, eine Getreidemühle und sieben Betonwerke. Human Rights Watch kann keine Aussagen darüber treffen, ob diese Vorfälle Teil einer größeren Strategie sind, aber Israel soll die Fälle gründlich untersuchen – das heißt auch die Rechtmäßigkeit aller relevanten politischen und militärischen Grundsatzentscheidungen überprüfen – und die Personen, die rechtswidrig gehandelt haben, angemessen bestrafen.
„Die Beweise zeigen, dass israelische Streitkräfte grundlos die Wohnungen und die Lebensgrundlage von Menschen zerstört haben“, sagte Whitson. „Wenn die israelische Regierung diese Fälle nicht untersucht und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft zieht, billigt und unterstützt sie damit das der Zivilbevölkerung angetane Leid.“
Rechtsanwälte der israelischen Streitkräfte (Israel Defense Forces, IDF) berichteten gegenüber Human Rights Watch, dass die IDF über viele der dokumentierten Fälle eigene Nachforschungen anstellt. Allerdings handelt es sich dabei nicht um strafrechtliche Ermittlungen durch die Militärpolizei, sondern um sogenannte operative Nachbesprechungen, bei denen kein Kontakt mit palästinensischen Zeugen aufgenommen wird. (Von den 150 bisher eingeleiteten Untersuchungen zur Operation „Gegossenes Blei“ handelt es sich nur bei 36 um strafrechtliche Ermittlungen, der Rest sind operative Nachbesprechungen. Nur zwei der strafrechtlichen Untersuchungen befassen sich mit Schäden an Gebäuden.)
Die einzige gemeldete Strafe für eine rechtswidrige Zerstörung von Eigentum während der Operation "Gegossenes Blei" war eine nicht näher bestimmte Disziplinarmaßnahme, die von einem Kommandanten im Feld unmittelbar gegen einen Soldaten für die „Entwurzelung von Pflanzen“ verhängt wurde. Die IDF veröffentlicht keine weiteren Informationen über den Vorfall oder die Disziplinarstrafe. Insgesamt hat Israel für Rechtsverletzungen während der Gaza-Operation bislang nur einen Soldaten strafrechtlich verurteilt und gegen vier andere Soldaten und Kommandeure Disziplinarmaßnahmen verhängt.
Auffällig ist, dass Israel bisher keine gründlichen und unparteiischen Untersuchungen angestellt hat, ob strategische Entscheidungen, einschließlich der präoperativen Einsatzplanung, von hochrangigen politischen oder militärischen Verantwortlichen zu Verstößen gegen das Kriegsrecht, wie die rechtswidrige Zerstörung der zivilen Infrastruktur, geführt haben.
Israel hat eine eigene militärische Untersuchung über den von Human Rights Watch dokumentierten Angriff auf eine Getreidemühle veröffentlicht. Die militärische Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass der Angriff in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht erfolgte, auch wenn vorliegende Video- und andere Beweismaterialien diese Einschätzung klar widerlegen (Ende März 2010 hat Israel die Einfuhr von Zement zur Reparatur der Mühle genehmigt). Die IDF hat bisher keine Erklärungen über die anderen von Human Rights Watch dokumentierten und der IDF vorgelegten Fälle abgegeben.
Auch die Behörden der Hamas verfolgen bekanntermaßen nur unzureichend schwere Verletzungen gegen das Kriegsrecht, wie zum Beispiel Raketenangriffe auf besiedelte Gebiete in Israel, die vor, während oder nach der Operation „Gegossenes Blei“ von Mitgliedern der Hamas oder anderen bewaffneten palästinensischen Gruppen verübt wurden. Doch nach dem Kriegsrecht sind Rechtsverstöße einer Konfliktpartei keine Rechtfertigung für rechtswidrige Handlungen durch die Gegenpartei.
Nach dem Kriegsrecht ist nicht jede Zerstörung zivilen Eigentums rechtswidrig. Immer wieder verwenden die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen zivile Gebäude, um israelische Streitkräfte anzugreifen und Waffen zu lagern. Zudem haben sie zivile Gebäude mit Sprengfallen versehen und von ihnen aus Tunnel gegraben.
Des Weiteren kritisiert Human Rights Watch die Hamas und andere palästinensische Gruppen für das Abfeuern von Raketen aus Wohngebieten. In solchen Fällen können Sachschäden durch israelische Gegenangriffe als rechtmäßige „Kollateralschäden“ bezeichnet werden. Bewaffnete palästinensische Gruppen können auch dann verantwortlich für Schäden an zivilem Eigentum sein, wenn sie Waffen oder Sprengstoff in zivilen Gebäuden verstecken und diese bei Angriffen der IDF explodieren und den Schaden vergrößern. Die Zerstörung zivilen Eigentums im unmittelbaren Kampf oder um die Bewegung der eigenen Streitkräfte zu ermöglichen, wenn angrenzende Straßen vermint und unpassierbar sind, kann, je nach Umständen, rechtmäßig sein.
Human Rights Watch hat bei seinen Ermittlungen diese Möglichkeiten mit in Betracht gezogen und sich auf zwölf Fälle konzentriert, in denen es nach der Beweislage keine zu rechtfertigenden Gründe für die Zerstörung zivilen Eigentums gab. Zum Zeitpunkt, als in den untersuchten Fällen zivile Strukturen zerstört wurden, war die IDF nicht in Kämpfe mit palästinensischen Kräften verwickelt. In allen Fällen waren die aktiven kämpferischen Auseinandersetzungen bereits beendet. Und in den meisten Fällen fand die Zerstörung von Eigentum statt, nachdem die israelischen Streitkräfte die palästinensischen Kämpfer in der Region bereits ausgeschaltet oder vertrieben und ihre eigene Stellung gefestigt hatten, beispielsweise durch die Besetzung von Häusern, die Stationierung von Panzern in den Straßen oder auf umliegenden Hügeln sowie durch die laufende Überwachung der Region durch Kontrollflüge von bemannten oder unbemannten Flugzeugen.
Die bloße Möglichkeit einer künftigen militärischen Nutzung durch bewaffnete Gruppen – wie z. B. um Sprengfallen zu installieren, Waffe zu lagern oder Tunnel zu bauen – rechtfertigt nach dem Kriegsrecht nicht die umfassende und zuweilen systematische Zerstörung ganzer Stadtteile sowie von Fabriken und Gewächshäusern, die Nahrungsmittel und andere lebenswichtige Güter für die Zivilbevölkerung bereit stellen.
Öffentliche Äußerungen von einigen israelischen Politikern deuten auf die Bereitschaft hin, die zivile Infrastruktur in Gaza zu zerstören, um Raketenangriffe durch bewaffnete Gruppen zu verhindern. Human Rights Watch dokumentierte zahlreiche Fällen sowohl vor als auch während der Operation „Gegossenes Blei“, in denen bewaffnete palästinensische Gruppen Raketen auf bewohnte Gebiete in Israel abfeuerten und damit das Kriegsrecht verletzten. Während der Kämpfe wurden rund 800.000 Israelis in der Reichweite der Raketen von Hunderten von Angriffen bedroht. Insgesamt wurden drei israelische Zivilisten getötet und mehrere Dutzend schwer verletzt. Personen, die gezielte oder wahllose Raketenangriffe auf Zivilisten angeordnet oder durchgeführt haben, sind eines Kriegsverbrechens schuldig. Allerdings sind, wie gesagt, Verstöße gegen das Kriegsrecht durch eine Konfliktpartei keine Rechtfertigung für Verstöße durch die andere Partei.
Israel kontrolliert den Zugang zum Gazastreifen zu Land, Luft und See mit Ausnahme der 15 km langen Grenze zu Ägypten. Seit Ende des Konflikts hat Israel kleinere Lieferungen von Lebensmitteln, Brennstoffen und anderen Gütern nach Gaza genehmigt. Doch diese reichen bei weitem nicht aus, um die elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung zu decken. Die Einfuhr von Baumaterialien für einzelne Projekte wurde erlaubt, doch weiterhin wird an der Grenze die Lieferung von Zement, Eisenträgern und anderen unverzichtbaren Materialien verhindert. Es gibt verständliche israelische Sicherheitsbedenken, da die Baumaterialien auch zum Bau von Tunneln und militärischen Anlagen verwendet werden können. Doch humanitäre Organisationen kritisieren, dass Israel keinen Mechanismus in Erwägung zieht, mit dem sich die Verwendung der gelieferten Baumaterialien unabhängig überwachen ließe. Israel soll dringend einen solchen Mechanismus entwickeln.
„Die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und andere Staaten sollen Israel und Ägypten umgehend dazu auffordern, die Grenzen des Gazastreifens für Wiederaufbaumaterialien und lebensnotwendige Güter zu öffnen“, so Whitson.