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Kosovo/Albanien: Entführungen und Verschleppungen nach Albanien sollen untersucht werden

Zurückhaltung offizieller Stellen nicht gerechtfertigt

Zusätzliche Informationen stützen die Anschuldigungen, dass nach dem Kosovo-Krieg Menschen entführt und vom Kosovo nach Albanien verschleppt worden sind, so Human Rights Watch. Die Regierungen des Kosovo und Albaniens sollen unabhängige und transparente Untersuchungen einleiten, um das Schicksal der etwa 400 Serben aufzuklären, die seit Kriegsende vermisst werden.

„Schwerwiegende und glaubwürdige Anschuldigungen sind bekannt geworden, dass nach dem Krieg im Kosovo und in Albanien schreckliche Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind“, so Fred Abrahams, Senior Researcher in der Abteilung für Krisengebiete bei Human Rights Watch. Abrahams hat von 1993 bis 2000 Menschenrechtverletzungen untersucht, die im Kosovo und in Albanien begangen wurden. „Die Regierungen in Prishtina und Tirana können ihr Bekenntnis zu Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit unter Beweis stellen, indem sie ordnungsgemäß durchgeführte Untersuchungen einleiten.“

Die Anschuldigungen kamen kürzlich durch ein neues Buch von Carla Del Ponte, der früheren Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ), an die Öffentlichkeit. Human Rights Watch stehen glaubwürdige Informationen und Dokumente zur Verfügung, die einen Großteil der von Del Ponte beschriebenen Menschenrechtsverletzungen in der Zeit nach dem Kosovo-Krieg bestätigen. Das ursprünglich auf Italienisch veröffentlichte Buch trägt den Titel „Die Jagd: Ich und die Kriegsverbrecher“.

Human Rights Watch hat am 4. April 2008 sowohl an den kosovarischen Ministerpräsidenten Hashim Thaci (https://www.hrw.org/english/docs/2008/05/01/serbia18695.htm) als auch an den albanischen Ministerpräsidenten Sali Berisha (https://www.hrw.org/english/docs/2008/05/01/serbia18696.htm) geschrieben und sie aufgrund der Anschuldigungen aufgefordert, Untersuchungen einzuleiten. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Pressemitteilung hat jedoch noch keine der beiden Regierungen dazu Stellung genommen. Leitende Regierungsbeamte beider Länder haben die Anschuldigungen stattdessen öffentlich als unbegründet und beleidigend zurückgewiesen.

Nach Aussage Del Pontes hat der IStGHJ im Jahr 2003 Informationen von „glaubwürdigen Journalisten“ erhalten, dass im Kosovo nach dem 12. Juni 1999, als NATO-Truppen ins Kosovo einmarschierten, zwischen 100 und 300 Menschen entführt und anschließend nach Nordalbanien verschleppt wurden. Diese Informationen stimmen mit den Ergebnissen, die im Rahmen der vom Strafgerichtshof durchgeführten Verfahren erzielt wurden, überein und bekräftigen diese.
Human Rights Watch prüfte diese Informationen und kam zu dem Ergebnis, dass diese stichhaltig und glaubwürdig sind: Sieben ethnische Albaner, die in der Befreiungsarmee des Kosovo Dienst geleistet hatten, sagten in Einzelinterviews aus, dass sie nach Kriegsende an dem Transport entführter Serben und anderer Kriegsgefangener vom Kosovo nach Albanien beteiligt oder Zeugen solchen Missbrauchs gewesen waren.

Aus den von den Journalisten zur Verfügung gestellten Informationen geht hervor, dass die Entführten in Lagerhallen und anderen Gebäuden gefangen gehalten wurden. Die Gebäude befanden sich beispielsweise in Kukës und Tropoja. Einige der Befragten sagten aus, dass manche der jüngeren, gesünderen Häftlinge im Gegensatz zu anderen Gefangenen Nahrung erhielten, von Ärzten untersucht und nicht geschlagen wurden. Diese Entführten, deren genaue Anzahl nicht bekannt ist, wurden angeblich in ein gelbes Haus gebracht, in dem Ärzte ihnen Organe entnahmen. Dieses Haus befand sich in der albanischen Kleinstadt Burrel oder in der Nähe dieser Stadt. Die Organe wurden daraufhin vom in der Nähe der Hauptstadt Tirana gelegenen Flughafen ins Ausland transportiert. Bei der Mehrzahl der mutmaßlichen Opfer handelte es sich um Serben, die seit der Ankunft der UN- und NATO-Truppen im Kosovo als vermisst galten. Es wurden jedoch auch Frauen aus dem Kosovo, aus Albanien, Russland und anderen slawischen Ländern gefangen genommen.

„Die Informationen über den Organhandel geben wichtige Hinweise, sind jedoch alles andere als vollständig“, fügt Abrahams hinzu. „Tatsache ist jedoch, dass nach Kriegsende Hunderte von Menschen - überwiegend Serben - als vermisst gemeldet wurden. Die Regierungen des Kosovo und Albaniens sollen versuchen, das Schicksal dieser Menschen aufzuklären, indem sie professionelle Untersuchungen mit angemessenem Zeugenschutz durchführen.“

Den vom IStGHJ erhaltenen Informationen zufolge sollen die Leichen einiger der Entführten in der Nähe des gelben Hauses und in einem Friedhof etwa 20 Kilometer südlich von Burrel begraben worden sein. Ermittler des Strafgerichtshofs und der UN-Mission im Kosovo (UNMIK) untersuchten das Haus im Februar 2004 in Begleitung eines albanischen Staatsanwalts. Das Haus wurde inzwischen weiß gestrichen, aber auf einem Foto des untersuchten Geländes konnte Human Rights Watch am Sockel des Hauses einen gelben Streifen erkennen.

Laut Del Ponte fanden Ermittler in der Nähe des Hauses medizinische Geräte, die gewöhnlich bei Operationen zum Einsatz kommen. Dazu zählten Spritzen, Verbandsmull, Infusionsbeutel und Ampullen für Muskelentspannungsmittel. Unter Verwendung eines chemischen Sprays konnte das Team an den Wänden und auf dem Fußboden eines Raums größere Blutflecke als Beweismittel sichern. Lediglich ein Rechteck von etwa 60 mal 180 Zentimetern auf dem Boden war nicht davon betroffen.

Human Rights Watch befragte getrennt voneinander zwei Personen, die bei den Untersuchungen des IStGHJ und der UNMIK im Haus bei Burrel anwesend waren. Beide bestätigten die Richtigkeit der im Buch von Del Ponte enthaltenen Informationen.

Darüber hinaus erhielt Human Rights Watch ein Exemplar des offiziellen UNMIK-Berichts über die am 4. und 5. Februar 2004 durchgeführten Ermittlungen, der den Titel „Forensische Untersuchung und Beurteilung in Albanien“ trägt. Dieser Bericht untermauert viele der von Del Ponte aufgestellten Behauptungen. Durch das chemische Spray Luminol konnten gemäß dem Bericht in zwei Zimmern Blutspuren nachgewiesen werden. Unter anderem wurde auf dem Fußboden ein Fleck festgestellt, der einen rechten Winkel aufwies, was „darauf hinweist, dass dieser Bereich möglicherweise von einem rechtwinkligen Gegenstand bedeckt war“. Ermittler fanden in einem in der Nähe des Hauses gelegenen Flussbett einen leeren Infusionsbeutel, Spritzen und leere Ampullen, die als Beweismittel sichergestellt wurden.

Eine Sprecherin des Strafgerichtshofs bestätigte am 16. April, dass Ermittler des IStGHJ und der UNMIK in dieser Angelegenheit zwar Untersuchungen durchgeführt und das Haus in der Nähe von Burrel besucht haben, „die Anschuldigungen jedoch nicht bestätigen konnten und der Zuständigkeitsbereich [des Strafgerichtshofs] keine Grundlage für weitere Ermittlungen bietet“. Die Sprecherin sagte auch, dass die Ermittler „keine stichhaltigen Beweismittel“ fanden, durch die die Anschuldigungen glaubhaft gemacht werden konnten.

„Das Erbringen stichhaltiger Beweise zum Einleiten einer Strafverfolgung und das Erbringen von Beweisen, durch die sich Behauptungen untermauern lassen, sind zweierlei Dinge, und die in der Nähe von Burrel gefundenen Beweise verleihen den Anschuldigungen definitiv mehr Gewicht“, so Abrahams. „Durch das Mandat des Strafgerichtshofs sind zudem lediglich Verbrechen abgedeckt, die während des bewaffneten Konflikts begangen wurden. Dieser Konflikt endete jedoch am 12. Juni 1999. Dass die mutmaßlichen Entführungen und anderen Verbrechen nach diesem Datum begangen wurden, stellte ein weiteres Hindernis für die Einleitung einer Untersuchung dar.“

Letzte Woche wies der albanische Außenminister Lulzim Basha die von Del Ponte aufgestellten Behauptungen als „unmoralisch“ und „beleidigend“ zurück.

„Minister Basha sollte die Anschuldigungen ernster nehmen, weil er aus eigener Erfahrung weiß, dass für die grenzübergreifende Verschleppung glaubhafte Beweise vorliegen“, sagt Abrahams. „Er war nach Kriegsende für den Strafgerichtshof und die Justizabteilung der UNMIK tätig und persönlich an den Untersuchungen von Berichten beteiligt, bei denen es um Gefangenenlager in Nordalbanien ging.“

Human Rights Watch gab bekannt, dass keine eigenen Untersuchungen der in den Berichten aufgeführten Behauptungen durchgeführt wurden, die über die Sichtung des IStGHJ-Materials, des UNMIK-Untersuchungsberichts und der Befragung von zwei Personen, die bei den Untersuchungen in Burrel anwesend waren, hinaus gingen. Human Rights Watch weist jedoch auf die große Anzahl von Menschen hin, die nach dem Kosovo-Krieg verschollen sind, und zwar Albaner, Serben sowie Angehörige anderer Volksgruppen.

Laut dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz gelten noch 1.613 Menschen aus dem Kosovo als vermisst und 350 Menschen sind bereits als tot gemeldet. Ihre Leichen konnten bisher jedoch nicht gefunden und somit auch nicht identifiziert werden. Die ethnische Volkszugehörigkeit wurde jedoch bei der Datenerfassung nicht berücksichtigt. Laut Angaben der „Vereinigung der Familien entführter und vermisster Personen in Kosovo und Metochien“ werden noch 533 aus dem Kosovo stammende Serben vermisst, von denen 430 nach dem 10. Juni 1999 verschwunden sind.

Human Rights Watch fordert die serbische Regierung auf, sich an der Aufklärung des Schicksals der etwa 1.500 vermissten ethnischen Albaner zu beteiligen. 1999 dokumentierte Human Rights Watch die Exhumierung von Leichen ethnischer Albaner an zehn Orten im Kosovo. Hunderte wurden daraufhin in Serbien in Massengräbern bestattet, wobei sich eines dieser Gräber auf einem Stützpunkt befand, der von einer Sondereinheit der Polizei genutzt wurde.

„Die serbische Regierung beschwert sich zu Recht über die mutmaßliche Entführung und Verschleppung von Serben nach Albanien“, meint Abrahams. „Andererseits hat sie sich aber auch nicht hinreichend an der Aufklärung der noch zahlreicheren Fälle von Kosovo-Albanern beteiligt, die nach dem Krieg verschollen sind.“

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