- Anwält*innen, die sich für politisch verfolgte Menschen einsetzen oder Rechtsverletzungen anprangern, sind in Belarus systematischer und weit verbreiteter Repression ausgesetzt.
- Die belarussischen Behörden haben umfassende Kontrolle über den anwaltlichen Berufsstand übernommen und diesen damit seiner Unabhängigkeit beraubt; Anwaltskammern sind zu einem Mittel staatlicher Repression geworden.
- Belarus sollte alle Maßnahmen gegen Anwält*innen, die sich für politisch verfolgte Menschen einsetzen, einstellen und ein reguläres Arbeitsklima schaffen, in dem sie ihre beruflichen Pflichten ausüben können.
(Vilnius, 27. Mai 2024) – Die belarussischen Behörden gehen systematisch gegen Anwält*innen vor, die Menschen in politischen Fällen vertreten oder auf Rechtsverletzungen aufmerksam machen, so Human Rights Watch, die Belarusian Association of Human Rights Lawyers und das Right to Defence Project in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 95-seitige Bericht mit dem Titel „‚I Swear to Fulfill the Duties of Defense Lawyer Honestly and Faithfully‘: Politically Motivated Crackdown on Human Rights Lawyers in Belarus“ (dt. etwa: Ich schwöre, die Pflichten eines Verteidigers ehrlich und treu zu erfüllen: Politisch motiviertes Vorgehen gegen Menschenrechtsanwälte in Belarus) dokumentiert wie die Regierung unter Alexander Lukaschenko den anwaltlichen Berufsstand fast vollständig unter ihre Kontrolle gebracht hat und Menschenrechtsanwält*innen unterdrückt.
„Indem sie systematisch gegen Menschenrechtsanwälte vorgehen, ihre Rechte untergraben und die Rechte ihrer politisch verfolgten Mandanten verletzen, haben die belarussischen Behörden das Justizsystem zu einer Farce gemacht und die Belarussen ihres Rechts auf ein faires Verfahren und auf gleichen Zugang zur Justiz beraubt“, sagte Anastasiia Kruope, Researcherin in der Abteilung Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Belarus sollte der politisch motivierten Verfolgung von Anwälten ein Ende setzen und die Unabhängigkeit der Anwaltschaft wiederherstellen.“
Zwischen September 2023 und April 2024 hat Human Rights Watch 19 belarussische Anwält*innen befragt und Inhalte auf den Webseiten der Anwaltskammern der letzten drei Jahre analysiert. Gemeinsam mit der Belarusian Association of Human Rights Lawyers und dem Right to Defence Project hat Human Rights Watch außerdem auf Grundlage von öffentlich zugänglichen Daten und Interviews mehr als 140 Fälle untersucht, in denen Anwält*innen aus politischen Motiven ihre Lizenz systematisch und willkürlich entzogen worden war.
Die Regierung hat jedoch nicht nur Menschenrechtsanwält*innen im Visier. Seit den Präsidentschaftswahlen 2020 und den Massenprotesten gegen Lukaschenkos Vorhaben, sich eine sechste Amtszeit in Folge zu sichern, greift sie hart gegen jede Form von Dissens durch.
In den Berichten für die Jahre 2023 und 2024 stellte das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte fest, dass die Rechtsverletzungen der belarussischen Behörden mit dem Ziel, alle Formen des Dissenses zu beseitigen, „möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen“, darunter auch das „Verbrechen der Verfolgung“.
Für Menschen, die in Belarus wegen der friedlichen Ausübung ihrer Rechte oder wegen Aktionen zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verfolgt werden, kann ein Rechtsbeistand lebensrettend sein. Solchen Menschen drohen schwerwiegende Rechtsverletzungen, wie zum Beispiel Folter und andere Formen der Misshandlung. Sitzen sie im Gefängnis, fallen ihre Haftbedingungen oft schärfer aus als bei anderen Gefangenen.
Erfahren belarussische Behörden, dass Anwält*innen Fälle mit politischem Hintergrund übernehmen, greifen sie zu einer Reihe von Mitteln, um sie an der Ausübung ihrer beruflichen Pflichten zu hindern. So verweigern die Behörden den Anwält*innen Zugang zu ihren Mandant*innen, hören vertrauliche Gespräche ab und zeichnen diese auf. Sie behindern die Arbeit von Anwält*innen außerdem, indem sie diese zur Unterzeichnung umfassender Vertraulichkeitsvereinbarungen zwingen und der Öffentlichkeit willkürlich den Zugang zu Prozessen verweigern. Damit ist es Anwält*innen nicht möglich, Material an unabhängige Expert*innen weiterzugeben oder schwerwiegende Verstöße gegen die Rechte ihrer Mandant*innen an die Öffentlichkeit zu bringen.
Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte von Belarus wurden Anwält*innen inhaftiert, weil sie politisch verfolgte Menschen vertreten haben. Mindestens sechs Anwält*innen – Maksim Znak, Aliaksandr Danilewitsch, Vital Brahinets, Anastasiya Lazarenka, Yuliya Yurhilewitsch und Aliaksei Barodka – verbüßen derzeit Haftstrafen zwischen 6 und 10 Jahren aufgrund falscher Anschuldigungen.
Seit September 2020 haben die belarussischen Behörden mindestens 23 Anwält*innen willkürlich inhaftiert, um sie mit der Begründung dieser Festnahme an der Verteidigung politisch verfolgter Menschen zu hindern und ihnen ihre Lizenz zu entziehen. Viele Anwält*innen wurden willkürlich festgehalten und verhört und waren anderen Schikanen und Drohungen ausgesetzt.
„Trotz aller Bemühungen der Regierung haben sich die belarussischen Menschenrechtsanwälte geweigert, ihre Arbeit einzustellen, nur weil ihnen die Lizenz entzogen wurde“, sagte Maryia Kolesava-Hudzilina, Präsidentin der Belarusian Association of Human Rights Lawyers. „Sogar aus dem Exil setzen unsere Anwälte den Kampf fort und nutzen internationale Schutzmechanismen, um die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen in Belarus zur Rechenschaft zu ziehen.“
Das Justizministerium verstößt gegen internationale Grundsätze zum Schutz der anwaltlichen Unabhängigkeit, da es die volle Kontrolle über die Anwaltschaft in Belarus ausübt. So überwacht es etwa die Zulassung von Anwält*innen und maßt sich an, Anwaltslizenzen zu entziehen sowie die Ausübung der Anwaltstätigkeit zu regeln und nimmt den Selbstverwaltungsorganen der Anwaltskammern jegliche Unabhängigkeit. Präsident Lukaschenko erklärte, dass die Arbeit von Anwält*innen der eines „Staatsmannes“ gleiche, der die vom Staat übertragenen Aufgaben ausführt und dessen Interessen schützt.
Angesichts der Kontrolle über die Zusammenstellung der ausführenden Organe der belarussischen Anwaltschaft und ihre Arbeit können die Belarusian Republican Bar Association (dt.: die Belarussische Republikanische Anwaltskammer) und die regionalen Anwaltskammern nicht als unabhängige Selbstverwaltungsorgane angesehen werden, die die Interessen aller Anwält*innen in Belarus vertreten, so die Organisationen.
Nach einer umfassenden Änderung des Gesetzes über die Anwaltschaft und die anwaltliche Tätigkeit in der Republik Belarus im Jahr 2021 können Rechtsanwält*innen ihren Beruf nicht mehr als Einzelanwält*innen ausüben oder Kanzleien eröffnen. Stattdessen sind sie verpflichtet, sich Rechtsberatungsbüros anzuschließen, die von regionalen Anwaltskammern in Abstimmung mit dem Justizministerium eingerichtet und von diesem beaufsichtigt werden.
Die belarussische Regierung sollte die politisch motivierte Strafverfolgung unverzüglich einstellen, alle Schikanen und Angriffe auf Anwält*innen beenden und sicherstellen, dass sie ihre Aufgaben ohne Einmischung oder Angst vor Repressalien erfüllen können. Die belarussischen Anwaltskammern sollten politisch motivierte Repressalien gegen ihre Mitglieder beenden, die Interessen der Anwält*innen und ihrer Mandant*innen schützen und die Unabhängigkeit der Anwaltschaft wahren.
Internationale Akteure sollten die belarussischen Behörden auffordern, ihren internationalen Verpflichtungen nachzukommen, die Justiz nicht länger als Repressionsinstrument zu missbrauchen, alle politischen Gefangenen freizulassen und dafür zu sorgen, dass belarussische Anwält*innen ihre beruflichen Pflichten ohne Einschränkung und im Interesse ihrer Mandant*innen ausführen können.
„Die belarussischen Anwaltskammern haben es versäumt, die Anwaltschaft in Belarus zu schützen. Die Regierung instrumentalisiert sie, um Anwälte ins Visier zu nehmen und zu unterdrücken“, so Maksim Palavinka, Experte vom Right to Defence Project. „Stattdessen stehen sie dem Staat treu zu Diensten und sind mehr als bereit, sich an politisch motivierten Repressalien der Behörden gegen Anwälte zu beteiligen.“