(New York, 6. Mai 2021) - Die schwindende Unterstützung der Geber für lebenswichtige Versorgungsleistungen in Afghanistan schränkt den Zugang von Frauen zu einer grundlegenden medizinischen Versorgung ein, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Nach der Ankündigung von US-Präsident Joe Biden, alle US-Streitkräfte aus Afghanistan bis zum 11. September 2021 abzuziehen, sind in den kommenden Monaten weitere Kürzungen wahrscheinlich.
Der 39-seitige Bericht, „‘I Would Like Four Kids—If We Stay Alive’: Women’s Access to Health Care in Afghanistan,“ dokumentiert sowohl, wie afghanischen Frauen und Mädchen der Zugang zu medizinischer Versorgung erschwert wird, als auch die Verschlechterung des Gesundheitssystems aufgrund der schwindenden internationalen Unterstützung. Der Rückgang der internationalen Gebermittel hat bereits jetzt negative - und mitunter lebensbedrohliche - Auswirkungen auf das Leben vieler Frauen und Mädchen, da er den Zugang zu medizinischer Versorgung sowie deren Qualität beeinträchtigt.
„Die internationalen Geber sitzen das jetzt aus. Sie wollen sehen, ob der Abzug der ausländischen Truppen dazu führt, dass die Taliban eine größere Kontrolle über das Land erlangen“, sagte Heather Barr, Interims-Direktorin für Frauenrechte bei Human Rights Watch. „Das ist jedoch keine Entschuldigung für die Kürzung von Geldern für lebenswichtige Dienste, die Hilfsorganisationen in unsicheren und von den Taliban kontrollierten Gebieten leisten.“
Für den Bericht sprach Human Rights Watch im März und April mit 56 Personen in Afghanistan, darunter 34 Frauen, über deren Erfahrungen mit der Gesundheitsversorgung. Zudem führte Human Rights Watch Gespräche mit 18 Menschen, die in Afghanistan im Gesundheitssektor arbeiten, darunter auch der Gesundheitsminister.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten war die afghanische Regierung auf die Unterstützung internationaler Geber angewiesen, um wichtige Versorgungsleistungen, etwa im medizinischen Bereich, zu finanzieren. Aber diese Geberunterstützung ist seit Jahren rückläufig und wird wahrscheinlich weiter zurückgehen, vielleicht sogar rapide, so Human Rights Watch. Im Jahr 2013 haben die Mitgliedsländer des Entwicklungshilfeausschusses der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 141 Millionen US-Dollar für die Gesundheits- und Bevölkerungshilfe in Afghanistan bereitgestellt. Bis 2019 war dieser Betrag um 26 Prozent auf 105 Millionen US-Dollar gesunken.
Afghanistan hat kurzfristig kaum Möglichkeiten, sich finanziell selbst zu tragen. Über 75 Prozent des Staatsbudgets stammen von internationalen Gebern. Im Jahr 2020 sanken die nachhaltigen inländischen Einnahmen im Vergleich zu 2019 um 2,8 Prozent, was hauptsächlich auf den wirtschaftlichen Abschwung durch die Covid-19-Pandemie zurückzuführen ist.
Da den Krankenhäusern die Mittel für die Finanzierung der medizinischen Grundversorgung ausgehen, erheben sie nun Gebühren für Leistungen, die bislang kostenlos waren. Viele Patient*innen können diese nicht bezahlen oder sich nicht einmal den Transport zu einer medizinischen Einrichtung leisten, die möglicherweise weit von ihrem Wohnort entfernt ist. Der Fortschritt bei einigen Schlüsselindikatoren, wie z.B. dem Zugang zu pränataler Versorgung und qualifizierter Geburtshilfe, stagniert oder kehrt sich sogar um.
„Das Land wird von den Taliban kontrolliert. Die Menschen sind arm, es gibt keine Arbeit“, sagt ein Arzt aus der Provinz Kapisa, nordöstlich von Kabul. „Die Kliniken sind weit von dem Wohnort der Frauen entfernt, deshalb sterben sie oft bei der Geburt oder das Baby stirbt.... Die Leute haben nicht einmal Geld für den Transport ins Zentrum, zu einem staatlichen Krankenhaus, und im staatlichen Krankenhaus müssen sie dann noch für ihre Medikamente bezahlen.“
Frauen und Mädchen haben Schwierigkeiten, selbst die grundlegendsten Informationen zu den Themen Gesundheit und Familienplanung zu erhalten. Es besteht ein ungedeckter Bedarf an modernen Formen der Empfängnisverhütung. Eine Betreuung während und nach der Schwangerschaft ist oft nicht verfügbar. Moderne Krebs- und Fruchtbarkeitsbehandlungen sowie psychologische Betreuung sind ebenfalls weitgehend nicht verfügbar. Routine- und Vorsorgeuntersuchungen wie PAP-Abstriche und Mammographien werden praktisch gar nicht durchgeführt und bei einem Großteil der Geburten ist nach wie vor keine medizinische Fachkraft anwesend, die den Geburtsvorgang begleitet.
Frauen bekommen oft mehr Kinder, als sie wollen, weil sie keinen Zugang zu adäquaten Verhütungsmitteln haben. Sie sind Risikoschwangerschaften ausgesetzt, weil sie nicht ausreichend versorgt werden. Zudem unterziehen sie sich Eingriffen, die sicherer wären, wenn neuere Techniken zum Einsatz kämen. Die Mütter- und Säuglingssterblichkeit ist weiterhin sehr hoch.
Neben den USA planen auch andere NATO-Mitgliedsländer, ihre Truppen aus dem Land abzuziehen. Die befragten Afghan*innen äußerten die Befürchtung, dass die Taliban immer mehr Kontrolle über ihr Leben erlangen oder dass die ohnehin schon massive Gewalt im Land weiter eskalieren wird. Sowohl die zunehmende Kontrolle durch die Taliban als auch die steigende Gewalt haben negative Auswirkungen auf die Unterstützung der Geber für Afghanistan und somit auch auf die Gesundheit von Frauen.
Es ist entscheidend, dass die Geber den dringenden Bedürfnissen der Menschen in Afghanistan, einschließlich der medizinischen Versorgung von Frauen und Mädchen, Priorität einräumen, so Human Rights Watch. Die USA und andere Länder, deren Truppen in Afghanistan stationiert sind, sollten den Bedarf an Hilfe und ihre Verpflichtung, diese zu leisten, bewerten und zwar unabhängig davon, ob sie ihre Truppen abziehen. Sie sollten sich des Umfangs und der Dringlichkeit der Bedürfnisse in Afghanistan bewusst sein. Sie sollten politische und sicherheitspolitische Entwicklungen nicht für einen Rückzug nutzen zu einer Zeit, in welcher der Bedarf an internationaler Hilfe größer ist denn je.
„Gerade jetzt dürfen wir die afghanischen Frauen, die oft vor der brutalen Wahl stehen, ihre Familien zu ernähren oder sich um ihre Gesundheit zu kümmern, nicht im Stich lassen“, sagte Barr. „Die internationale Finanzierung des Gesundheitssystems ist eine Frage von Leben und Tod. Wann immer es hier zu Kürzungen kommt, werden Frauen sterben.“