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(Sanaa) – Der rapide Anstieg von Angriffen auf Journalisten seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten in Jemen überschattet den jüngsten Fortschritt im Land hin zu mehr Meinungsfreiheit, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Zwar hat die Regierung um Präsident Abdu Rabu Mansour Hadi die Überwachung und Reglementierung der Medien im Rahmen breit angelegter Menschenrechtsreformen gelockert. Belästigungen, Bedrohungen und Angriffe auf Journalisten, Blogger und andere Kritiker durch die Regierung und zivile Täter werden jedoch weder öffentlich verurteilt noch strafrechtlich verfolgt.

Der 45-seitige Bericht „‘A Life-Threatening Career’: Attacks on Journalists under Yemen’s New Government” zeigt, dass in Jemen das Recht auf Meinungsfreiheit gestärkt wurde, seit Hadi im Februar 2012 Ali Abdullah Salih als Präsident abgelöst hat. Ali Abdullah Salih hatte drei Jahrzehnte lang regiert. Die rechtlichen Verbeserungen werden jedoch dadurch abgeschwächt, dass  immer mehr Medienvertreter bedroht und angegriffen werden. Früher wurden jemenitische Journalisten durch Sicherheitskräfte der Regierung bedroht. Heute droht ihnen auch Gefahr von anderer Seite, so etwa durch Anhänger der ehemaligen Regierung, durch Huthi-Rebellen, durch Separatisten aus dem Süden des Landes und durch religiöse Konservative.

„Dass Präsident Hadi diese Angriffen auf jemenitische Journalisten nicht anspricht, bedeutet nicht nur, dass der Gerechtigkeit nicht Genüge getan wird, sondern auch, dass sich alle Medien vor weiteren, gravierenderen Angriffen fürchten müssen“, so Joe Stork, kommissarischer Leiter der Abteilung Naher Osten.„Wenn die Fortschritte beim Thema freie Meinungsäußerung einen tatsächlichen und nachhaltigen Einfluss auf die jemenitische Gesellschaft haben sollen, dann muss die Regierung sämtliche Angriffe auf Journalisten öffentlich verurteilen und schonungslos ermitteln. Ebenso muss sichergestellt werden, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“

Während verschiedener Aufenthalte in Jemen zwischen Februar und April 2013 haben Human Rights Watch-Mitarbeiter 20 Angriffe auf Journalisten dokumentiert. In einem dieser Fälle wurde ein Journalist, Wagdy al-Shabi, 28, im Februar in seinem Haus in Aden zusammen mit einem Freund ermordet. Al-Shabis Frau hatte Schüsse aus dem Wohnzimmer gehört, wo ihr Mann und sein Freund sich unterhalten hatten. „Ich sah zwei Männer in Zivilkleidung und Armeewesten. Sie trugen Waffen”, so Al-Shabis Frau. „Als sie mich sahen, schossen sie in meine Richtung. Ich konnte jedoch ins Schlafzimmer flüchten und versteckte mich mit meinen Kindern.“ Es kam zu keiner Festnahmen in diesem Fall. 

In anderen Fällen berichteten Journalisten, dass Sicherheitskräfte oder andere Gruppen, die sie eventuell kritisiert hatten, sie angegriffen oder Todesdrohungen gegen sie ausgesprochen hätten. Der Herausgeber eines Magazins, Ahmed Said Nasser, 35, sagte, er habe zahlreiche Drohungen erhalten, nachdem er Präsident Salih in einer seiner Veröffentlichungen mit einem Politmord im Jahr 1977 in Verbindung gebracht hatte. „Wenn du in diesem Fall weiter recherchierst“, so eine Drohung per Telefon, „dann wirst du umgebracht.“

Ein anderer Journalist, Hamdi Radman, 33, sagte, drei Soldaten seien auf ihn zugegangen und hätten ihn mit ihren Schlagstöcken verprügelt, als er im Dezember 2012 mit seiner Kamera festhielt, wie Militärtruppen Demonstranten auseinandertrieben. „Sie hörten nicht auf, mich zu schlagen“, so Radman gegenüber Human Rights Watch. Einer der Soldaten habe dann „seine Schusswaffe entsichert und in meine Richtung in die Luft geschossen.“

In allen 20 von Human Rights Watch untersuchten Fällen hatten die Journalisten selbst oder hatte der Journalistenverband Beschwerde bei der entsprechenden jemenitischen Behörde eingereicht. Diese leiteten jedoch keine ernsthaften Ermittlungen ein und reagierten, wenn überhaupt, nur sehr langsam und unzureichend. In keinem der Fälle wurden die Täter verurteilt. Jemenitische Journalisten und andere Medienvertreter sagten gegenüber Human Rights Watch, die Tatsache, dass Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden, habe besorgniserregende Auswirkungen auf die gesamten Medien. Dies führe zu Angst und Selbstzensur. 

Statistiken von der Freedom Foundation, einer lokalen Gruppe, die zu Pressefreiheit in Jemen arbeitet, zeigen das Ausmaß der Bedrohungen, denen Journalisten ausgesetzt sind. So wurde 2012 gegen 19 Journalisten aufgrund ihrer Veröffentlichungen strafrechtlich ermittelt, u.a. wegen Vorwürfen der Verleumdung in krimineller Absicht, ein Vergehen, das mit Freiheitsstrafe geahndet werden kann. In der ersten Hälfte des Jahres 2013 dokumentierte die Freedom Foundation 144 Angriffe und Übergriffe gegen Journalisten, Zeitungen und andere Medienorgane. Innerhalb des gleichen Zeitraums wurden 74 Journalisten in 55 Fällen Verstöße gegen das 1990 erlassene Presse- und Veröffentlichungsgesetz oder gegen andere Verordnungen vorgeworfen. Hierbei wurden die Betroffenen auch der Verleumdung beschuldigt.

Khaled al-Hammadi, ein bekannter Journalist, berichtete, dass ein Versuch des Verteidigungsministeriums im Januar ihn  zu diffamieren, zu großer Bestürzung bei anderen Journalisten geführt habe. Diese fürchteten, dass auch sie zur Zielscheibe werden könnten, wenn ein Journalist wie Al-Hammadi öffentlich angegangen wurde. „Da ich, ein national und international bekannter Journalist, von der Regierung [verbal] angegriffen wurde, haben die anderen Journalisten nun Angst, ihnen könnte das Gleiche passieren“, so Al-Hammadi. „Besonders junge Journalisten, die weder wohlhabend noch gut vernetzt sind, wollen nicht mehr über heikle Fälle berichten.“

Journalisten begeben sich besonders dann in Gefahr, wenn sie über Korruptionsfälle berichten. Korruption ist ein weit verbreitetes Problem in Jemen. Human Rights Watch hat von zwei Fällen erfahren, in denen gegen Journalisten wegen Verleumdung ermittelt wurde, nachdem sie über die Verwicklung von Beamten in Korruptionsaffären berichtet hatten.

Hochrangige Beamte berichteten Human Rights Watch im Februar bei verschiedenen Treffen in der Hauptstadt Sanaa, die größten Herausforderungen für die Regierung Hadis seien nach wie vor die politische Unsicherheit und Instabilität im Land. Dies erschwere ihre Bemühungen, in den Fällen zu ermitteln, bei denen es zu Angriffen nicht nur auf Journalisten, sondern auch auf  Sicherheitsbeamte und Regierungsminister kommt. Einige Beamte warfen den Medien einen Mangel an Professionalität vor. Zudem sagten sie, die Medien würden dem politischen Wandel im Land schaden - Aussagen, die wie eine Rechtfertigung der Angriffe gegen die Medien aussehen.

Die jemenitische Regierung soll sämtliche Angriffe auf Journalisten verurteilen. Ebenso müssen unverzüglich transparente und objektive Ermittlungen in allen Angriffsfällen durchgeführt werden. Die Verantwortlichen sollen zur Rechenschaft gezogen werden, so Human Rights Watch. Das jemenitische Parlament soll Gesetze ändern oder aufheben, die das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Medien beschränken. Auch soll ein auf Pressefragen und Veröffentlichungen spezialisiertes Gericht abgeschafft werden, das unrechtmäßig Journalisten verfolgt und sie wegen vermeintlicher Vergehen zu Freiheitsstrafen verurteilt.

Anfang September wurde Human Rights Watch darüber informiert, dass der Premierminister durch eine Verordnung einen Ausschuss gegründet habe, der eine Liste von Fragen beantworten solle, die ihm im Juni 2013 von Human Rights Watch übersandt worden waren. Vorsitzender des Ausschusses ist ein Abgeordneter des Ministeriums für Menschenrechte. Weitere Mitglieder kommen aus dem Innen-, Außen- und Justizministerium.  Der Ausschuss ist mit der Untersuchung betraut und muss seine Ergebnisse dem Premierminister vorlegen. Die erste Sitzung des Ausschusses fand am 4. September statt. Human Rights Watch gab an, dass die Gründung dieses Gremiums ein wichtiger Schritt sei. Der Ausschuss soll institutionelle Unterstützung erhalten, so dass tatsächliche und dauerhafte Veränderungen auf den Weg gebracht werden können, um die Freiheit der Medien in Jemen zu stärken.

„Gesetzliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit aufzuheben, dies reicht nicht aus, damit jemenitische Journalisten ihre Arbeit tun können“, sagte Stork. „Die Regierung muss aktiver werden, damit Journalisten nicht ständig über ihre Schulter schauen müssen, um sich selbst zu schützen.“

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