(New York, 23. Februar 2011) - Millionen US-Angestellte - unter ihnen Eltern von Kleinkindern - leiden unter fehlenden oder schwachen gesetzlichen Regelungen hinsichtlich dem Anspruch auf bezahlte Elternzeit und der Einrichtung von Stillräumen. Zudem werden zahlreiche Beschäftigte mit Familienpflichten von ihren Arbeitgebern diskriminiert, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Betroffenen erleiden große gesundheitliche, finanzielle und berufliche Einbußen. Im Vergleich mit anderen Ländern entgehen amerikanischen Arbeitgebern dadurch Produktivitätssteigerungen und es entstehen Kosten für Neuanstellungen.
Der 90-seitige Bericht „Failing its Families: Lack of Paid Leave and Work-Family Supports in the US“ basiert auf Interviews mit insgesamt 64 Eltern aus den gesamten USA. Der Bericht stellt die finanziellen und gesundheitlichen Folgen für die Angestellten dar, die nach Geburt oder Adoption über keine oder nur wenig bezahlte Elternzeit verfügen. Er dokumentiert darüber hinaus die fehlende Bereitschaft von Arbeitgebern, Stillräume einzurichten und flexible Arbeitszeiten zu ermöglichen. Auch häufige Diskriminierung gegenüber Eltern und insbesondere Mütter von Kleinkindern werden belegt. Nach Angaben der Interviewten verursacht das Fehlen von bezahlter Urlaubszeit die verspätete Impfung von Säuglingen, postnatale Depressionen, andere gesundheitliche Probleme und eine verfrühte Beendigung des Stillens. Viele Eltern, die sich unbezahlt von der Arbeit freistellen lassen, müssen Schulden aufnehmen oder öffentliche Unterstützung beantragen. Einige Frauen berichteten, dass Vorurteile von Arbeitgebern gegenüber arbeitenden Müttern ihre Karriere zum Stillstand gebracht haben. Gleichgeschlechtlichen Eltern wurde häufig sogar unbezahlter Urlaub verweigert.
„Wir können es uns einfach nicht leisten, gesetzlich keine bezahlte Elternzeit zu gewährleisten - besonders unter den aktuellen wirtschaftlichen Bedingungen“, so Janet Walsh, stellvertretende Direktorin der Frauenrechtsabteilung von Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Die USA hat Nachteile davon, dass sie nicht allen Arbeitern den Zugang zu bezahlter Familienzeit zusichert. Länder mit diesen Programmen weisen Produktivitätsgewinne auf, haben geringere Kosten durch Personalwechsel und sparen bei der Gesundheitsversorgung.“
Eine von Human Rights Watch interviewte Frau berichtete, dass ihr Vorgesetzter unzufrieden über ihre Schwangerschaft war und sie auch noch in den letzten Monaten vor der Geburt zwang, den Fußboden zu reinigen und Aufgaben zu erfüllen, die normalerweise von anderen Mitarbeitern übernommen wurden. Er weigerte sich, ihr nach der Geburt bezahlte Krankheitstage zu bewilligen. Als die Arbeitnehmerin dann nach sechs Wochen unbezahltem Urlaub an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, verweigerte er ihr einen Ort, um Muttermilch abzupumpen, und zwang sie, Nachtschichten zu übernehmen. Zudem drohte er ihr mit Kündigung, falls sie sich frei nehmen würde, um ihr erkranktes Kind zum Arzt zu bringen. Da sie nicht krankenversichert war, erhielt sie keinerlei Behandlung für ihre schwere postnatale Depression.
Das Bundesgesetz 'Family und Medical Leave Act' (FMLA) berechtigt US-Beschäftige, unbezahlten Urlaub zu nehmen, wenn sie sich um neugeborene Kinder oder Familienmitglieder mit ernsten gesundheitlichen Problemen kümmern müssen. Doch dieses Gesetz erfasst nur etwa die Hälfte der Beschäftigten. Dem Büro für Arbeitsstatistik zur Folge haben nur elf Prozent der nicht staatlich beschäftigten Arbeitnehmer (und nur drei Prozent der Angestellten im Niedriglohnbereich) Anspruch auf eine bezahlte Freistellung. Etwa zwei Drittel der Arbeitnehmer haben Anspruch auf bezahlte Krankheitstage. Von den Arbeitnehmern im Niedriglohnbereich ist es nur etwa ein Fünftel. Nach den Ergebnissen mehrerer Studien ist die Anzahl der Arbeitgeber rückläufig, die ihren Angestellten freiwillig eine bezahlte Betreuungszeit aus familiären Gründen ermöglichen.
„Solange die Bewilligung von bezahlter Betreuungszeit in der Willkür der Arbeitgeber liegt, gehen Millionen Beschäftigte leer aus, insbesondere Menschen mit geringfügigem Einkommen, die am meisten darauf angewiesen wären“, so Walsh. „Unbezahlter Urlaub hingegen ist für viele Angestellten keine reale Option. Entweder können sie es sich finanziell nicht leisten oder sie riskieren dabei, ihren Job zu verlieren.“
Nur in Kalifornien und New Jersey gibt es öffentlich finanzierte bundesstaatliche Versicherungsprogramme, um Arbeitnehmern mit familiären Pflichten einen bezahlten Betreuungsurlaub zu ermöglichen. In beiden Bundesstaaten werden die Programme ausschließlich durch minimale Steuerbeiträge der Arbeitnehmer finanziert. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Center for Economic and Policy Research und der City University of New York belegt die positiven Folgen des kalifornischen Versicherungsmodells. Nach den einhelligen Angaben der Arbeitgeber sind positive oder neutrale Auswirkungen auf die Produktivität, die Wirtschaftlichkeit, die Kosten für Arbeitsplatzwechsel sowie die Moral der Arbeitnehmer zu verzeichnen. Negative Effekte wurden, wenn überhaupt, eher von großen als von kleinen Unternehmen berichtet. Ähnliche Studien aus anderen Ländern haben ebenfalls belegt, dass sich bezahlter Urlaub positiv auf die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens auswirkt, indem dies die Produktivität erhöht und die Kosten für Neuanstellungen reduziert.
Darüber hinaus haben Forschungen zu den Auswirkungen bezahlter Elternzeit gezeigt, dass bezahlte und ausreichend lange Freistellungen zu einer Steigerung des Stillens, einer geringeren Säuglingssterblichkeit, einer höheren Impfrate und einer besseren gesundheitlichen Versorgung von Kleinkindern sowie zu einem geringeren Risiko für postnatale Depressionen führen.
„Politiker auf der ganzen Welt haben begriffen, dass es von großem öffentlichen Interesse ist, Arbeitnehmer darin zu unterstützen, sowohl ihre beruflichen als auch ihre familiären Verpflichtungen zu erfüllen“, so Walsh. „Es ist gut für das Geschäft, gut für die Wirtschaft, gut für die öffentliche Gesundheit und gut für die Familien. Es ist höchste Zeit, dass auch die Vereinigten Staaten beginnen, diese Erkenntnis umzusetzen."
In anderen Ländern und im Rahmen internationaler Abkommen wurde schon vor langem eine bessere Unterstützung für arbeitende Eltern rechtlich verankert. Bezahlte Mutterschaftszeit wurde durch nationale Gesetze in mindestens 178 Ländern und für Väter in mehr als 50 Ländern rechtlich garantiert. Mehr als 100 Länder garantieren 14 oder mehr Wochen bezahlte Mutterschaftszeit nach der Geburt, darunter Australien, Kanada und Großbritannien. Die 34 Mitglieder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), unter ihnen die wirtschaftlich stärksten Staaten der Welt, ermöglichen durchschnittlich 18 Wochen bezahlten Mutterschaftszeit, davon im Durchschnitt 13 Wochen mit vollem Lohnausgleich. In den meisten OECD Ländern steht Vätern und Mütter auch darüber hinaus noch zusätzliche bezahlte Elternzeit zur Verfügung.
Auch für Eltern in anderen Ländern ist es ein ermutigendes Zeichen für die Bedeutung von bezahlter Elternzeit, dass in den meisten EU-Ländern seit dem Jahr 2008 und im Verlauf der zurückliegenden Wirtschaftskrise die Höhe des Lohnausgleichs entweder angehoben wurde oder Elternzeitprogramme reformiert wurden, ohne die Lohnfortzahlung zu reduzieren, so ein Bericht der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2010.
Es hat in diesen Ländern keineswegs den Haushaltsetat gesprengt, eine bezahlte Elternzeit für die Eltern von Neugeborenen zu garantieren. Die öffentlichen Ausgaben für Mutter- und Vaterschaftszeit betragen in den Ländern der Europäischen Union im Durchschnitt nur 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Kosten werden normalerweise durch eine Kombination öffentlicher Finanzierungsmechanismen getragen, zum Beispiel mittels Anteile aus den Lohnsteuereinnahmen, aus dem allgemeinen Steueraufkommen, speziellen Gesundheitsfonds oder Arbeitgeberanteilen. In den meisten Staaten geht der Trend weg von einer direkten Finanzierung durch den Arbeitgeber. Eine weltweite Studie aus dem Jahr 2010 von Forschern der McGill Universität und der Northeastern Universität zeigt, dass Staaten mit garantierter Familienzeit auch die wirtschaftlich am konkurrenzfähigsten Staaten sind.
„Mit relativ geringen Ausgaben können bezahlte Elternzeit und andere Unterstützungsmaßnahmen für arbeitende Familienmitglieder wortwörtlich Leben retten, die finanzielle Sicherheit von Familien sichern und sogar die Produktivität von Unternehmen erhöhen“, so Walsh.
Die Entwicklung von Gesetzen, die Beschäftigen helfen, sowohl ihren beruflichen als auch ihren familiären Verpflichtungen nachzukommen, steht in direktem Zusammenhang mit dem im letzten Jahrhundert deutlich gestiegenen Frauenanteil an den Arbeitnehmern. Dennoch haben die demographischen Veränderungen unter den Beschäftigten in den USA nicht zu politischen und rechtlichen Veränderungen geführt, um die Arbeitnehmer angemessen zu unterstützen. In den Vereinigten Staaten machen Frauen gegenwärtig etwa die Hälfte der Arbeitnehmer aus. Und die große Mehrheit aller Kinder lebt in Haushalten, in denen beide Elternteile arbeiten.
Nicht nur fehlt es in den meisten amerikanischen Bundesstaaten an einer rechtlichen Verankerung von bezahlter Elternzeit, auch in anderen Bereichen ist das Arbeitsrecht unzureichend, um einen ausreichenden Schutz für arbeitende Familienmitglieder zu garantieren, so Human Rights Watch. Das Bundesrecht gewährt stillenden Müttern zwar Unterstützung, doch viele Beschäftigte werden von den Regelungen nicht erfasst. Es gibt keinerlei Schutz für Arbeitnehmer, die um flexible Arbeitszeiten bitten, und kaum Schutz gegenüber Diskriminierung am Arbeitsplatz auf Grund familiärer Verpflichtungen.
Der amerikanische Kongress und die Parlamente in den einzelnen Bundesstaaten sollen eine öffentlich finanzierte Versicherung einrichten, um Eltern von Neugeborenen und Arbeitnehmern, die sich um kranke Familienmitglieder kümmern, bezahlten Urlaub zu gewähren, so Human Rights Watch. Die Regierungen in den Bundesstaaten und in Washington sollen zudem bereits bestehende Gesetze zur Einrichtung von Stillräumen und zu der Unterstützung für das Abpumpen von Muttermilch am Arbeitsplatz ausweiten. Sie sollen sich für flexible Arbeitszeiten und -bedingungen einsetzen, damit Arbeitnehmer ihrer familiären Verantwortung nachkommen können, und Mindeststandards für bezahlte Krankheitstage verabschiedet werden. Auch sollen die Antidiskriminierungsgesetze erweitert werden, um Diskriminierung am Arbeitsplatz auf Grund von familiären Pflichten ausdrücklich zu verbieten, so Human Rights Watch.
Die Vereinigten Staaten sollen internationale Abkommen ratifizieren, die sowohl die Gleichberechtigung als auch die Sicherung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen für Beschäftigte mit familiären Verpflichtungen sicherstellen. Dazu zählt unter anderem das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW).
„Trotz der großen Bedeutung 'familiärer Werte' liegen die Vereinigten Staaten im Hinblick auf den Schutz und das Wohlergehen von arbeitenden Familienmitgliedern um Jahrzehnte hinter anderen Staaten zurück“, so Walsh. „In einer solchen Situation kann man kaum stolz darauf sein, eine Sonderrolle einzunehmen. Wir brauchen ein zeitgemäßes Arbeitsrecht zum Schutz aller Arbeitnehmer.“