(Arbil, 16. Juni 2010) -Zahlreiche Mädchen und Frauen in der Autonomen Region Kurdistan werden Opfer von Genitalverstümmelung und leiden unter den schrecklichen Folgen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die kurdische Regionalregierung soll sofortige Maßnahmen ergreifen, um Genitalverstümmelung zu verhindern, und eine langfristige Strategie, einschließlich der Verabschiedung eines Gesetzes, entwickeln, um diese Praxis zu beseitigen.
Der 73-seitige Bericht „They Took Me and Told Me Nothing: Female Genital Mutilation in Iraqi Kurdistan" dokumentiert die Erfahrung von jungen Mädchen und Frauen, die Opfer von Genitalverstümmelung wurden, sowie die sich widersprechenden Standpunkte religiöser Führer und medizinischen Fachpersonals über die Legitimität und die gesundheitlichen Folgen dieser Praxis. Der Bericht schildert die Schmerzen und die Angst der betroffenen Mädchen und Frauen sowie die schrecklichen Folgen für ihre körperliche und emotionale Gesundheit. Die Regionalregierung der Autonomen Region Kurdistan hat sich bislang nicht für ein Verbot von Genitalverstümmelung entscheiden können, obwohl andere Formen geschlechtsbezogener Gewalt, wie zum Beispiel Ehrenmorde oder häusliche Gewalt, durchaus bekämpft werden.
„Genitalverstümmelung verstößt gegen die Rechte von Frauen und Mädchen, insbesondere gegen ihr Recht auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit“, so Nadya Khalife, Nahost-Expertin der Frauenrechtsabteilung von Human Rights Watch. „Es ist an der Zeit, dass die Regionalregierung ihrer Verantwortung gerecht wird und konkrete Maßnahmen einleitet, um diese schreckliche Praxis zu beseitigen, denn von alleine wird sie nicht verschwinden.“
Mitarbeiter von Human Rights Watch befragten im Mai und Juni 2009 insgesamt 31 Mädchen und Frauen aus der Stadt Halabja und vier weiteren Döfern im Nordirak. Befragt wurden auch islamische Geistliche, Hebammen, medizinisches Fachpersonal und Regierungsbeamte. Nichtregierungsorganisationen zufolge wird Genitalverstümmelung möglicherweise auch von anderen Gruppen im Irak praktiziert. Doch außerhalb der kurdischen Region gibt es bislang keine gesicherten Informationen über die Verbreitung der Praxis.
Auch das Ausmaß von Genitalverstümmelung in der Autonomen Region Kurdistan ist nicht vollständig bekannt, da die Regierung keine regelmäßigen Untersuchungen zu diesem Thema durchführt. Allerdings deuten Untersuchungsergebnisse lokaler Organisationen darauf hin, dass die Praxis weit verbreitet ist und zahlreiche Mädchen und Frauen Opfer von Verstümmelung wurden.
Die von Human Rights Watch gesammelten Nachweise belegen, dass für viele Mädchen und Frauen in der Autonomen Region Kurdistan die Genitalverstümmelung eine unvermeidliche Prozedur ist, der sie irgendwann zwischen ihrem dritten und zwölften Lebensjahr unterzogen werden. In einigen Fällen bewirkt der gesellschaftliche Druck, dass sich selbst erwachsene Frauen der Prozedur unterziehen mussten, manchmal als Voraussetzung für eine Heirat.
Human Rights Watch traf Gola, eine 17-jährige Schülerin aus dem Dorf Plangan. Gola berichtete gegenüber Human Rights Watch, „Ich erinnere mich, wie meine Mutter und ihre Schwägerin uns zwei Mädchen mitnahmen. Vier andere Mädchen waren noch dabei. Sie brachten uns nach Sarkapkan, um dort den Eingriff durchzuführen. Sie brachten uns in ein Badezimmer und spreizten dort unsere Beine auseinander, um etwas abzuschneiden. Eine nach der anderen kamen wir an die Reihe, ganz ohne Betäubungsmittel. Ich hatte Angst, aber hielt die Schmerzen aus. Ich habe immer noch sehr starke Schmerzen, dort wo sie mich geschnitten haben, immer dann, wenn ich meine Menstruation habe."
Junge Mädchen und Frauen beschrieben, wie sie von ihren Müttern zu einer lokalen, nicht offiziell lizensierten Hebamme gebracht wurden. Meistens wurde ihnen vorher nicht gesagt, was passieren würde. Die Hebamme, manchmal mit Hilfe der Mutter, spreizt die Beine der Mädchen und verstümmelt die Klitoris mit einem Rasiermesser. Oft benutzt die Hebamme dieselbe Klinge, um mehrere Mädchen hintereinander zu verstümmeln.
In der Autonomen Region Kurdistan praktizierende Ärzte berichteten gegenüber Human Rights Watch, dass Genitalverstümmelung in der Region meistens als Klitoridektomie, d.h. als teilweise oder vollständige Entfernung der Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut erfolgt. Medizinischem Fachpersonal zufolge wurden in Krankenhäusern manchmal sogar noch weitreichendere Eingriffe an erwachsenen Frauen durchgeführt. Die Praxis hat keinerlei medizinische Zwecke und kann schwere körperliche und emotionale Folgen nach sich ziehen.
Die letzte Regionalregierung hatte einzelne Schritte eingeleitet, um Genitalverstümmelung zu beseitigen. Eine Anordnung des Justizministeriums aus dem Jahr 2007 verpflichtete alle Polizeibezirke, die Verantwortlichen für Genitalverstümmelung zu verhaften und strafrechtlich zu verfolgen. Allerdings ist die Existenz dieser Anordnung kaum bekannt und Human Rights Watch konnte nicht feststellen, ob sie überhaupt jemals angewendet wurde.
Im Jahr 2008 unterstützte zwar eine Mehrheit in der Kurdischen Nationalversammlung die Einführung eines Gesetzes zum Verbot von Genitalverstümmelung. Doch der Gesetzentwurf wurde bislang nicht verabschiedet und es ist unklar, wann das Gesetz endgültig in Kraft treten wird. Im Frühjahr 2009 entwickelte das Gesundheitsministerium zusammen mit einer Nichtregierungsorganisation eine umfassende Strategie gegen Genitalverstümmelung. Doch das Ministerium zog später seine Unterstützung wieder zurück und stellte sein Engagement in dieser Sache ein. Eine öffentliche Kampagne über Genitalverstümmelung und ihre Folgen wurde ohne Angabe von Gründen ebenfalls aufgeschoben.
Die im Juli 2009 neu gewählte Regierung hat bislang keine Schritte eingeleitet, um Genitalverstümmelung zu beseitigen.
Die historischen Ursprünge der Praxis in der Autonomen Region Kurdistan sind unklar. Manche der befragten Mädchen und Frauen berichteten gegenüber Human Rights Watch, dass die Verstümmelung auf der Vorstellung basiere, dass alles was sie berühren haram, d.h. unrein, sei, solange sie sich der schmerzvollen Prozedur nicht unterzogen haben. Für andere ist Genitalverstümmelung einfach ein traditioneller Brauch. Die meisten Frauen bezeichneten Genitalverstümmelung als islamische Sunna, d.h. als freiwillige Handlung, die den eigenen Glauben stärkt.
Islamische Gelehrte und Theologen weisen einen Zusammenhang von Genitalverstümmelung und dem Islam an sich zurück. Demnach ist Genitalverstümmelung durch den Koran nicht gerechtfertigt und lässt sich mit den Lehren des Islam nicht vereinbaren. Die befragten Frauen und Mädchen sagten jedoch, dass sie von islamischen Geistlichen unterschiedliche Ansichten gehört haben, ob es sich bei der Praxis um eine religiöse Pflicht handelt. Die befragten Geistlichen sagten, dass eine als Sunna verstandene religiöse Praxis dann abzulehnen sei, wenn sie das Leben von Menschen gefährdet. Islamische Geistliche seien deshalb in der Pflicht, diese Praxis zu stoppen.
Die befragten Mitarbeiter im Gesundheitswesen äußerten ebenfalls unterschiedliche Ansichten über das Leid, das von Genitalverstümmelung verursacht wird, und über ihre eigene Verantwortung zur Bewusstseinsbildung zu diesen Gefahren.
Über die Verbreitung von Genitalverstümmelung wurden kürzlich zwei Studien herausgegeben. Im Januar 2009 führte das ehemalige Menschenrechtsministerium eine Studie im Bezirk Chamchamal durch. Insgesamt wurden 521 Schülerinnen im Alter von elf bis 24 Jahren befragt. 40,7 Prozent der Befragten waren Opfer einer Genitalverstümmelung. Von den unter Dreizehnjährigen waren 23 Prozent betroffen und von denjenigen ab 14 Jahren 45 Prozent.
Im Jahr 2010 veröffentlichte der Verband für Krisenhilfe und solidarische Entwicklungszusammenarbeit (WADI), eine deutsch-irakische Menschenrechtsorganisation, die Ergebnisse einer eigenen Untersuchung. Zwischen September 2007 und Mai 2008 wurden in den Provinzen Arbil und Sulaimaniya und in der Region Germian/Kirkuk insgesamt 1.408 Frauen und Mädchen im Alter von 14 Jahren und darüber befragt. 72,7 Prozent der Befragten hatten eine Genitalverstümmelung erlitten - 77,9 Prozent in Sulaimaniy, 81,3 Prozent in Germian und 63 Prozent in Arbil.
Ein Grund für diesen hohen Prozentsatz war die weite Alterspanne der befragten Mädchen und Frauen. Für den Altersbereich von 14 bis 18 Jahren betrug der Anteil der Betroffenen 57 Prozent.
Human Rights Watch fordert die Verantwortlichen in der Autonomen Region Kurdistan auf, eine langfristige Strategie zu entwickeln, um Genitalverstümmelung zu verhindern und zu beseitigen. Bei der Umsetzung dieser Strategie sollen die Regierung, Geistliche, medizinisches Fachpersonal und lokale Gemeinschaften eingebunden werden. Sie soll auch ein Gesetz zum Verbot von Genitalverstümmelung an Kindern und Frauen umfassen. Zudem soll eine Kampagne über die gesundheitlichen Folgen von Genitalverstümmelung eingeleitet werden und Präventionsmechanismen in allen Bereichen der reproduktiven Gesundheit, Bildung und Alphabetisierung verankert werden.
Die Regierung soll auch mit lokalen Gemeinschaften und mit einflussreichen Personen zusammenarbeiten, um unter Männern, Frauen und Kindern einen Austausch über Genitalverstümmelung anzustoßen, der zur Bewusstseinsbildung und zu einem besseren Verständnis der Menschenrechte von Mädchen und Frauen beiträgt.
„Die Regierung muss nicht nur Maßnahmen ergreifen, die diese Praxis beseitigen, sondern sich auch für die Anerkennung der Nicht-Verstümmelung von Mädchen als öffentliche Norm einsetzen", so Khalife.
„Genitalverstümmelung ist ein komplexes Problem, aber die negativen Folgen für Mädchen und Frauen sind eindeutig", so Khalife weiter. „Die Beseitigung der Praxis in der Autonomen Region Kurdistan verlangt ein entschlossenes und zielstrebiges Vorgehen der Regionalregierung und die klare Botschaft, dass Genitalverstümmelung nicht länger toleriert wird."