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Saudi-Arabien: Gleichbehandlung für Schiiten

Systematische Diskriminierung von Schiiten in den Bereichen Religion, Bildung, Justiz und Arbeit

(New York, 3. September 2009) – Die saudischen Behörden sollen die Minderheit der schiitischen Muslime als gleichberechtigte Bürger behandeln, fordert Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die saudische Regierung solle auch Kommissionen gründen, um die Fälle willkürlicher Inhaftierung von Schiiten aufzuklären und Empfehlungen für Maßnahmen zur Beendigung der systematischen staatlichen Diskriminierung ausarbeiten. Schätzungen zufolge sind zwischen 10 und 15 Prozent der saudischen Bevölkerung schiitisch.
 
Der 32-seitige Bericht „Denied Dignity: Systematic Discrimination and Hostility toward Saudi Shia Citizens“ dokumentiert die heftigsten religiösen Spannungen, die das Königreich seit Jahren erlebt hat. Ausgelöst wurden diese im Februar 2009 durch Konfrontationen zwischen schiitischen Pilgern und der Religionspolizei in Medina. Im März kam es dann in der Ostprovinz zur willkürlichen Verhaftung schiitischer Demonstranten. Die Schließung privater schiitischer Gebetsräume in Khobar, die im Juli 2008 ihren Anfang nahm und die Inhaftierung von schiitischen Religionsführern in Ahsa in diesem Jahr haben ebenfalls zu den Spannungen beigetragen.
 
„Die saudischen Schiiten wollen lediglich, dass die Regierung sie respektiert und gleichbehandelt“, so Sarah Leah Whitson, Direktorin der Abteilung Naher Osten und Nordafrika von Human Rights Watch. „Und doch behandeln saudische Behörden diese Menschen regelmäßig mit Verachtung und Misstrauen.“
 
Die Regierung solle ebenfalls eine Kommission beauftragen, die untersucht, inwieweit Muslime verschiedener Glaubensrichtungen heilige Stätten gemeinsam friedlich nutzen können,  insbesondere in Mekka und Medina, so Human Rights Watch. König Abdullah hat zwar einige Schritte in Richtung religiöser Toleranz unternommen, doch die Diskriminierung durch staatliche Institutionen besteht fort.
 
Zwischen dem 20. und 24. Februar 2009 kam es zu Konfrontationen zwischen schiitischen Pilgern aus der mehrheitlich schiitischen Ostprovinz und der sunnitischen Religionspolizei. Die Pilger waren zum Todestag des Propheten Mohammed nach Medina gereist. Die Auseinandersetzungen entbrannten auf dem Friedhof Baqi aufgrund der unterschiedlichen Dogmen der beiden Glaubensrichtungen in Bezug auf die Rituale zur Erinnerung an die Toten. Sicherheitskräfte schossen einem 15-jährigen Pilger in die Brust und ein unbekannter Zivilist stach einem schiitischen Religionsführer ein Messer in den Rücken. Bei seinem Angriff schrie er: „Bringt diese Ungläubigen [Schiiten] um.“ Die Behörden wiesen die Behauptung, es habe Verletzte gegeben, zurück und spielten die anschließende Inhaftierung von schiitischen Pilgern herunter. Am 5. März ordnete König Abdullah allerdings an, alle in Medina Festgenommenen aus der Haft zu entlassen.
 
Ende Februar und Anfang März hatten Schiiten in den Städten Qatif und Safwa in der Ostprovinz protestiert und ihre Solidarität mit den in Medina Inhaftierten bekundet. Infolge einer Predigt des schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr, in der dieser geäußert hatte: „Unsere Würde ist mehr wert als die Einigkeit,“ im Königreich kam es auch in Awwamiyya zu Protesten mit Forderungen nach Gleichbehandlung. Die Sicherheitskräfte reagierten mit der Festnahme Dutzender von Demonstranten, viele von ihnen wurden über Monate gefangen gehalten.
 
Im Mai, Juni und Juli soll die Polizei angeblich auf Anweisung der Bezirksregierung der Ostprovinz Schiiten in Khobar inhaftiert haben. Die Polizei soll die Schiiten bedrängt haben private Räume für das Gemeinschaftsgebet zu schließen. Einer dieser Schiiten, Abdullah Muhanna wurde vom 25. Mai bis zum 1. Juli festgehalten. In Khobar gibt es keine schiitischen Moscheen, aber zahlreiche sunnitische Moscheen, die staatlich unterstützt werden.
 
In Ahsa‘, in der südöstlichen Provinz, inhaftierten die Behörden von Januar bis Juli mindestens 20 Schiiten wegen ihrer religiösen oder kulturellen Praktiken. Dazu zählen die Bräuche, dass Frauen den Koran studieren und dass für religiöse Zeremonien spezielle Kleidung verkauft wird. Die Inhaftierten wurden ohne gerichtliches Urteil über Zeiträume von einer Woche bis zu einem Monat festgehalten. In Ahsa‘ gibt es deart religiös motivierte Verhaftungen bereits seit mindestens 2001.
 
Die staatliche Diskriminierung von Schiiten beschränkt sich nicht auf den Bereich der Religion. Der Bericht verweist auf Diskriminierung im Bildungswesen, wo Schiiten nicht Religion unterrichten dürfen und schiitische Schüler von sunnitischen Lehrern zu hören bekommen, sie seien Ungläubige. Ebenso wird auf eine Parteilichkeit im Gerichtswesen aufmerksam gemacht. So schließen sunnitische Richter bisweilen schiitische Zeugen aufgrund ihrer Religion vom Verfahren aus und folgen ausschließlich den Lehren des sunnitischen Rechts. In gewöhnlichen Gerichten dürfen Schiiten nicht Richter werden.
 
Diese Ausgrenzung kommt auch im Bereich der Beschäftigung zum Tragen. Unter den Ministern der Regierung, den hochrangigen Diplomaten und Offizieren des Militärs, gibt es keinen einzigen Schiiten. Schiitische Studenten haben im Allgemeinen keinen Zugang zu Militärakademien.
 
Im Jahre 2003 initiierte der damalige Kronprinz Abdullah den „Nationalen Dialog“ und brachte damit erstmals ranghohe sunnitische und schiitische Geistliche zusammen. 2008 erneuerte Abdullah – inzwischen König – seine Bemühungen um religiöse Toleranz, indem er zunächst im Juni Schiiten und Sunniten in Mekka zusammenbrachte und später, im Juli und Oktober desselben Jahres, in seinen Reden in Madrid und New York, zu Toleranz zwischen den Religionen aufrief. Dennoch gab es in Saudi-Arabien selbst keinen Fortschritt in Richtung religiöser Toleranz.
 
„Die saudische Regierung hat ihre schiitischen Bürger lange aus der Perspektive der Wahhabiten und als Risiko für die Stabilität des Staates gesehen. Sie wurden als Ungläubige gebrandmarkt und ihre nationale Loyalität wurde angezweifelt“, so Whitson. „Es ist an der Zeit, dass schiitischen Bürgern gleiche Rechte zugestanden werden.“

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