(Beirut, 17. August 2009) - Mit einer sich ausbreitenden Serie von Folter und Morden richten sich irakische Milizen gegen Männer, denen sie Homosexualität oder mangelnde „Männlichkeit“ vorwerfen. Bislang haben die irakischen Behörden nichts getan, um diese Vorfälle zu stoppen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Human Rights Watch fordert die irakische Regierung auf, sofort Maßnahmen zu ergreifen, um die Gewalthandlungen der Milizen zu verhindern, die Täter zur Verantwortung zu ziehen und das Wiederaufleben von Gewalt zu stoppen, das die Sicherheit aller irakischen Bürger bedroht.
Der 67-seitige Bericht „‘They Want Us Exterminated': Murder, Torture, Sexual Orientation and Gender in Iraq” dokumentiert eine weit reichende Serie von außergerichtlichen Hinrichtungen, Entführungen und Folter von homosexuellen Männern. Die Vorfälle begannen Anfang 2009 in dem Bagdader Stadtteil Sadr City, einer Hochburg der Mahdi-Armeemiliz von Muqtada al-Sadr. Von dort breiteten sie sich auf viele Städte in ganz Irak aus. Sprecher der Mahdi-Armee schürten Befürchtungen vor dem „dritten Geschlecht“ und der „Verweiblichung“ irakischer Männer und stellten das Eingreifen der Miliz als Heilmittel dar. Einige Personen berichteten, dass die Morde mit irakischen Sicherheitskräften abgesprochen wurden oder diese an den Morden beteiligt waren.
„Die Verantwortlichen im Irak sollen alle Iraker schützen, anstatt sie der Gewalt von bewaffneten Hassmilizen auszusetzen“, sagte Scott Long, Leiter des Programms für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender von Human Rights Watch. „Die Augen vor Folter und Mord zu verschließen, gefährdet die Rechte und das Leben aller Iraker.“
Schweigen und Stigmatisierungen gegenüber Sexualität und Genderfragen im Irak machen es fast unmöglich, eine exakte Anzahl an Todesopfern zu nennen. Doch nach Schätzungen wurden bereits Hunderte von Männern getötet.
Ein Mann berichtete Human Rights Watch, dass die Milizen seinen Partner, mit dem er seit zehn Jahren eine Beziehung führte, im April gekidnappt und getötet haben. „Es war spät in der Nacht und sie kamen zu dem Elternhaus meines Partners, um ihn zu entführen. Vier bewaffnete Männer, maskiert und in schwarzer Kleidung, drangen in das Haus ein. Sie fragten gezielt nach ihm, beschimpften und entführten ihn vor den Augen seiner Eltern. ... Am nächsten Tag wurde sein Leichnam in der Nachbarschaft gefunden. Sie hatten seine Leiche in den Müll geworfen; seine Genitalien hatten sie ihm abgeschnitten und ein Stück von seinem Hals herausgerissen."
Nach Aussagen von Zeugen und Überlebenden dringen die Mörder in Wohnungen ein oder entführen Menschen auf offener Straße. Bevor sie ermordet werden, werden die Gefangenen verhört, um Namen weiterer potentieller Opfer zu erfahren. Teilweise werden groteske Folterungen durchgeführt: einzelnen Opfern wurde als Bestrafung der After zugeklebt. Ärzte berichteten Human Rights Watch, dass Dutzende Menschen verstümmelt in Kranken- und Leichenschauhäusern eingeliefert wurden, sowohl lebend als auch bereits tot.
„Mord und Folter sind keine Mittel, um Moral zu fördern“, sagt Rasha Moumneh, Researcher für den Nahen Osten und Nordafrika von Human Rights Watch. „Diese Morde sind ein Ausdruck für das andauernde und fatale Versagen der irakischen Behörden, Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen und die Bevölkerung zu beschützen.“
Einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen sind nach irakischem Recht keine Straftat. Viele irakische Milizen nehmen zwar für sich in Anspruch, islamisches Recht durchzusetzen. Doch der Human Rights Watch-Bericht zeigt auch, dass die Morde - ausgeführt auf der Grundlage von Willkür und Vorurteilen, ohne Beweise oder rechtmäßige Prozesse - die Rechtsstandards der Scharia missachten. Diese beinhalten die Forderung nach einem rechtmäßigen Verfahren, dem Nachweis der Schuld sowie dem Schutz der Privatsphäre.
Internationale Menschenrechtsstandards verbieten alle Formen von Folter und grausamer Behandlung und garantieren das Recht auf Leben, einschließlich des Rechts auf einen wirksamen Schutz durch den Staat. Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen hat 1994 in dem Präzedenzfall Toonen gegen Australien entschieden, dass der Schutz vor ungleicher Behandlung im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte auch den Schutz der sexuellen Orientierung beinhaltet.
Der Bericht zeigt des Weiteren, dass die Morde genauso von Vorurteilen über sexuelle Fragen wie von der Angst angetrieben werden, dass die Männlichkeit der Iraker auf dem Spiel steht. Viele Männer berichten, dass ihnen von ihren Eltern oder Brüdern mit Ehrenmorden gedroht wird, weil ihr „unmännliches“ Verhalten das Ansehen der Familie oder des Stammes verletze. Das irakische Recht erlaubt durch eine Bestimmung, die noch aus der Zeit Saddam Husseins stammt, mildernde Umstände für Verbrechen, die „mit ehrenhaften Motiven“ ausgeführt wurden.
Viele Iraker suchen, aus Angst Opfer von Übergriffen zu werden, Schutz in den umliegenden Ländern, auch wenn es sich bei diesen Ländern keinesfalls um sichere Zufluchtsorte handelt. Einvernehmliche homosexuelle Handlungen werden in den meisten dieser Länder kriminalisiert und Vorurteile gegenüber sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität rufen in allen von ihnen Gewalt und Diskriminierung hervor. Human Rights Watch fordert das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) sowie Regierungen, die irakische Flüchtlinge aufnehmen, auf, eine rasche Ausreise dieser bedrohten Menschen zu ermöglichen.
Zeugenaussagen aus dem Bericht (alle Namen sind zum Schutz der Personen geändert)
„[Die Mörder] beurteilen Menschen danach, mit wem sie Sex haben. Sie beurteilen sie nicht nach ihrem Gewissen, ihrem Verhalten oder ihrer Moral, sondern nur danach, mit wem sie schlafen. Das Wertloseste, was es im Irak gibt, ist ein Mensch, ein Menschenleben. Es ist billiger als ein Tier, als ein paar gebrauchte Batterien, die auf der Straße verkauft werden. Vor allem Menschen wie wir … Ich kann gar nicht glauben, dass ich jetzt hier mit ihnen darüber rede. Sonst wird das doch hier unterdrückt, unterdrückt, unterdrückt. Das geht nun schon so seit Jahren - wenn ich die Straße entlang gehe, fühle ich mich, als würde jeder mit dem Finger auf mich zeigen. Es fühlt sich an, als würde ich die ganze Zeit über sterben. Und nun dies, im letzten Monat - ich verstehe nicht, womit wir das verdient haben. Sie wollen uns ausrotten. All diese Gewalt und all dieser Hass: das haben diejenigen, die darunter leiden müssen, nicht verdient.“
- Hamid, Irak, 24. April 2009
„Wir haben von den Morden an Homosexuellen seit mehr als einem Monat gehört. Es ist wie ein ständiges Hintergrundgeräusch. Die Geschichte über die Mahdi-Armee und ihre Offensive gegen Schwule begann, sich im Februar zu verbreiten. Alle redeten darüber. Ich hörte darüber von meinen heterosexuellen Freunden. In Caféa in Karada, auf den Straßen in Harithiya (Stadtteile von Bagdad) - überall redeten sie darüber. Zuerst machte ich mir keine Sorgen. Meine Freunde und ich, wir wirken sehr maskulin. Keiner von uns wirkt „weiblich“. Und keiner von uns hat jemals geglaubt, dass uns etwas passieren könnte. Aber dann hörten wir Ende März auf der Straße, dass bereits 30 Männer getötet worden waren.“
- Idris, Irak, 24. April 2009
„Die Mahdi-Armee hat uns viel angetan. … Sie entführten [meinen Partner] für sechs Tage. Er will nicht darüber reden, was sie ihm angetan haben. Auf der Seite seines Körpers waren Blutergüsse; als hätte man ihn eine Straße entlang gezogen. Selbst mir gegenüber kann er nicht beschreiben, was sie ihm angetan haben. In den Staub auf der Windschutzscheibe seines Autos haben sie ‚Tod der Bevölkerung von Lot und allen Kollaborateuren’ geschrieben. In SMS-Nachrichten haben sie uns verhüllte Drohungen geschickt: ‚Ihr seid auf der Liste.’ Sie haben ihm einen Umschlag mit einer Nachricht nach Hause geschickt, zusammen mit drei in Kunststoff gehüllten Kugeln unterschiedlicher Größe. In der Notiz stand: ‚Welche davon willst du ins Herzen kriegen?’ … Ich will ein ganz normaler Bürger sein, ein normales Leben führen, einen Spaziergang in der Stadt machen, einen Kaffee auf der Straße trinken. Aber weil ich der bin, der ich bin, ist das nicht möglich. Ich sehe keinen Ausweg.“
- Mohammad, Irak, 21. April, 2009
„Um 10 Uhr morgens haben sie [Offiziere des Innenministeriums] meine Hände hinter meinem Rücken in Handschellen gelegt. Dann haben sie ein Seil um meine Beine gebunden und mich bis zum Abend Kopf zuunterst von einen Hacken an der Decke hängen lassen. Ich verlor mein Bewusstsein. Während ich mit dem Kopf nach unten hing, wurde ich bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Zwar schnitten sie mich in der Nacht von dem Seil, aber gaben mir kein Wasser und kein Essen. Am nächsten Tag forderten sie mich auf, mich wieder anzuziehen, und führten mich zu dem leitenden Offizier. Er sagte, ‚Gefällt dir das? Wir werden damit solange weitermachen, bist du dich schuldig bekennst.’ ‚Schuldig für was?’, fragte ich. ‚Für deine Arbeit, für die Mitgliedschaft in der Organisation, der du angehörst, und dafür, dass du eine tanta [Tunte] bist.’ Über Tage hinweg musste ich schwere Schläge erdulden, andauernde Demütigungen und Beschimpfungen. … Die gleiche Form von Missbrauch jeden Tag. Während ich mit dem Kopf nach unten hing, schlugen sie auf meinen ganzen Körper wie auf einen Sandsack ein. … Überall an meinem Körper folterten sie mich mit elektrischen Schlägen. Dann vergewaltigten sie mich. Über drei Tage hinweg. 15 von ihnen vergewaltigten mich am ersten Tag, am zweiten Tag sechs und am dritten Tag vier. Während der ganzen Zeit war ein Sack über meinem Kopf.“
- Nuri, 15. und 27 April 2009