Dieser Text ist eine Zusammenfassung des Türkei-Kapitels aus dem World Report 2023. Das ganze Kapitel in englischer Sprache sowie weitere Übersetzungen gibt es hier.
Die türkische Regierung hat im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2023 ihre Zensurbefugnisse ausgeweitet und vermeintliche Kritiker*innen und Oppositionelle mit falschen Strafverfahren und Haftstrafen drangsaliert, so Human Rights Watch heute in seinem World Report 2023.
Am 14. Dezember 2022 verhängte ein Istanbuler Gericht eine Haftstrafe gegen den Bürgermeister der Stadt, Ekrem İmamoğlu, einen Gegner der Regierung Erdogan, und untersagte ihm die Ausübung eines gewählten Amtes aufgrund eines Kommentars über die Istanbuler Bürgermeisterwahl, den er gegenüber den Medien abgegeben hatte. Sollten seine Verurteilung und sein Urteil in der Berufung bestätigt werden, wird Imamoğlu als Bürgermeister abgesetzt und darf für kein anderes politisches Amt kandidieren. Die Regierung Erdogan hat sich mit weitreichenden Mitteln ausgestattet, um soziale Medien zu zensieren und Inhalte zu kriminalisieren, die sie als „Desinformation“ betrachtet.
„Die Regierung Erdogan ist immer schneller und immer weiter von den Menschenrechten und der Rechtsstaatlichkeit abgerückt, indem sie neue Gesetze zur Online-Zensur und Desinformation eingeführt hat, um die Medien mundtot zu machen und friedlichen Dissens zu unterdrücken“, sagte Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Die Regierung hat massiv menschenrechtsverletzende Manöver gegen die politische Opposition durchgeführt, umfassende Verbote öffentlicher Proteste erlassen und die Inhaftierung und Verurteilung von Menschenrechtsverteidiger*innen und vermeintlichen Kritiker*innen durch Gerichte, die nicht unabhängig arbeiten, veranlasst.“
In dem 712-seitigen World Report 2023, der 33. Ausgabe, beschreibt Human Rights Watch die Lage der Menschenrechte in fast 100 Ländern. In ihrem einleitenden Essay erklärt Interim-Exekutivdirektorin Tirana Hassan, dass es in einer Welt, in der sich die Machtverhältnisse verschoben haben, nicht mehr möglich ist, sich bei der Verteidigung der Menschenrechte auf eine kleine Gruppe von Regierungen größtenteils aus dem Globalen Norden zu verlassen. Die weltweiten Aktionen rund um die Ukraine erinnern uns an das außerordentliche Potenzial, das entsteht, wenn Regierungen ihre Menschenrechtsverpflichtungen auf globaler Ebene wahrnehmen. Es liegt in der Verantwortung der einzelnen Länder, ob groß oder klein, ihre Politik an den Menschenrechten auszurichten und sich gemeinsam für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte einzusetzen.
Die Regierung hat ihren hasserfüllten Diskurs gegen die LGBT-Gemeinschaft noch weiter verschärft und sie hat es versäumt, Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen und die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter zu wahren. Die Türkei setzt sich über verbindliche Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinweg, insbesondere über die Forderung nach der Freilassung des Menschenrechtsverteidigers Osman Kavala. Dies veranlasste den Europarat im Februar zu der außergewöhnlichen Maßnahme, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei einzuleiten, eine Form des Sanktionsverfahrens, die damit erst zum zweiten Mal in der Geschichte des Rates angewendet wurde.
Die schockierende Verurteilung von Kavala und mehreren Mitangeklagten im April 2022, die nun alle Haftstrafen verbüßen, und die anhaltende Inhaftierung der Politiker*innen Selahattin Demirtaş, Figen Yüksekdağ und anderer, zeigt, dass kein anderes Mitglied des Europarates die Menschenrechte so eklatant missachtet wie die Türkei, so Human Rights Watch. Diese Menschen sollten in Übereinstimmung mit den bindenden Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unverzüglich freigelassen werden.
Die Türkei hat die höchste Anzahl von Geflüchteten weltweit aufgenommen. So leben, neben Asylsuchenden aus anderen Ländern, schätzungsweise 3,6 Millionen Geflüchtete aus Syrien derzeit in der Türkei. Im Jahr 2022 fuhr die Türkei jedoch die Zahl von Abschiebeflügen nach Afghanistan hoch, obwohl der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen alle Regierungen aufgefordert hatte, Menschen nicht zurück nach Afghanistan abzuschieben. Die türkischen Behörden drängten zudem Hunderttausende Menschen zurück, die versuchten, über die Ostgrenze zum Iran in die Türkei einzureisen, und schoben Hunderte Menschen zurück nach Syrien ab, indem sie sie zwangen, Formulare für eine freiwillige Rückkehr zu unterschreiben.