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A Chinese security officer watches a woman pass through a checkpoint, equipped with a metal detector and facial recognition technology, to enter the main bazaar in Urumqi in the Xinjiang region of China, November 6, 2018.  © 2018 Bloomberg/Getty Images

(New York) - Die Polizei in der chinesischen Region Xinjiang verhört uigurische und andere turkstämmige Muslim*innen auf der Grundlage einer Masterliste mit

50.000 Multimediadateien, die sie als „gewalttätig und terroristisch“ einstuft, so Human Rights Watch heute.

Eine forensische Untersuchung der Metadaten dieser Liste durch Human Rights Watch ergab, dass die Polizei in neun Monaten von 2017 bis 2018 fast 11 Millionen Durchsuchungen von insgesamt 1,2 Millionen Mobiltelefonen in Urumqi, der Hauptstadt von Xinjiang mit 3,5 Millionen Einwohner*innen, durchgeführt hat. Die automatisierten polizeilichen Massenüberwachungssysteme in Xinjiang ermöglichten diese Telefondurchsuchungen.

„Der menschenrechtsverletzende Einsatz von Überwachungstechnologien durch die chinesische Regierung in Xinjiang bedeutet, dass Uigur*innen, die einfach nur den Koran auf ihrem Telefon gespeichert haben, von der Polizei verhört werden können“, sagte Maya Wang, stellvertretende China-Direktorin bei Human Rights Watch. „Besorgte Regierungen sollten die Technologieunternehmen identifizieren, die in diese Massenüberwachung und die soziale Kontrollmaschinerie involviert sind, und geeignete Maßnahmen ergreifen, um ihre Beteiligung zu beenden.“

Human Rights Watch hat wiederholt Bedenken angesichts Chinas Ansatz zur Bekämpfung von Handlungen geäußert, die im Land als „Terrorismus“ und „Extremismus“ bezeichnet werden. Chinas Anti-Terror-Gesetz definiert „Terrorismus“ und „Extremismus“ in einer zu weit gefassten und vagen Weise. Dies erleichtert Strafverfolgung, Freiheitsentzug und andere Einschränkungen für Handlungen, die keineswegs darauf abzielen, den Tod oder schwere körperliche Schäden zur Erreichung politischer, religiöser oder ideologischer Ziele zu verursachen.

Bei den Recherchen von Human Rights Watch wurden auf den Telefonen von etwa 1.400 Einwohner*innen von Urumqi insgesamt mehr als 1.000 eindeutige Dateien gefunden, die mit denen auf der Masterliste der Polizei übereinstimmten. Die Analyse dieser übereinstimmenden Dateien ergab, dass es sich bei mehr als der Hälfte von ihnen - 57 Prozent - offenbar um allgemeines islamisches religiöses Material handelt, darunter Lesungen aller Suren des Koran, des zentralen religiösen Textes des Islam.

Die Liste ist Teil einer großen Datenbank (52 GB) mit über 1.600 Datentabellen aus der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang, die der US-amerikanischen Medienorganisation The Intercept im Jahr 2019 zugespielt wurde. The Intercept berichtete, dass die Polizei in Urumqi von 2015 bis 2019 Überwachungen und Verhaftungen auf der Grundlage von Texten von Polizeiberichten durchgeführt hat, die Teil dieser Datenbank waren.

Die Masterliste der Multimediadateien, die Human Rights Watch untersuchte, befindet sich in einem anderen Teil der gleichen Datenbank. Über diese wurde bislang weder berichtet noch wurde sie analysiert. Einige der Zahlen in diesem Bericht wurden gerundet, damit die Behörden die Informationsquelle nicht identifizieren können.

Die Analyse der Metadaten dieser Masterliste zeigt Foto-, Audio- und Videodateien, die gewalttätige Inhalte enthalten, aber auch anderes Material, das keinen offensichtlichen Bezug zu Gewalt hat. Die Mediendateien enthalten Materialien, die:

  • gewalttätig oder grausam sind, darunter Inhalte, die Enthauptungen oder Formen der Folter zeigen, die anscheinend von bewaffneten Gruppen wie mexikanischen und anderen Drogenkartellen, tschetschenischen Kämpfern oder dem sog. Islamischen Staat (IS) durchgeführt wurden;
  • im Zusammenhang mit ausländischen Organisationen stehen, darunter die Unabhängigkeitsbewegung Ostturkestans, eine islamische Separatistengruppe, der World Uyghur Congress, eine von im Exil lebenden Uigur*innen geleitete Gruppe, und eine uigurischsprachige Sendung von Radio Free Asia, einem von der US-Regierung finanzierten Medienunternehmen;
  • audiovisuelle, prodemokratische Inhalte zeigen, wie z.B. „Das Tor des himmlischen Friedens“, ein Dokumentarfilm über die Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens durch die chinesische Regierung im Jahr 1989;
  • Namen von Städten in Syrien nennen, sowie Dokumentarfilme über die syrische Geschichte und zwei 2015 ausgestrahlte Folgen der beliebten chinesischen Reisesendung „On the Road“ (侣行), in denen der Syrienkonflikt erwähnt wird;
  • gängige islamisch-religiöse Inhalte darstellen, darunter Koranlesungen und Hochzeitslieder.

Human Rights Watch fand in der Datenbank auch eine weitere verwandte Liste mit denselben MD5-Hashes - der eindeutigen Signatur dieser Dateien. Diese Liste enthält offenbar die Suchergebnisse der Überwachungsapp Jingwang Weishi.

Die Suchergebnisse stammen aus einem Zeitraum, der sich über 9 Monate zwischen 2017 und 2018 erstreckt. Diese Daten zeigen, dass die App heimlich fast 11 Millionen Suchvorgänge auf insgesamt 1,2 Millionen Telefonen durchgeführt und insgesamt 11.000 Übereinstimmungen von über 1.000 verschiedenen Dateien auf 1.400 Telefonen gefunden hat.

Die Human Rights Watch-Analyse der Dateinamen und der polizeieigenen Kennzeichnung oder Kodierung der rund 1.000 Dateien ergibt Folgendes:

  • 57 Prozent der 1.000 Dateien sind allgemeines religiöses Material, darunter Lesungen der Suren des Korans.
  • Fast 9 Prozent der abgeglichenen Dateien enthalten gewalttätige Inhalte, darunter Verbrechen, die von Mitgliedern des sog. Islamischen Staates (IS) begangen wurden;
  • 4 Prozent der abgeglichenen Dateien enthalten Aufrufe zur Gewalt, z.B. durch Aufforderung zum „Dschihad“.
  • 28 % der abgeglichenen Dateien können nicht allein anhand der verfügbaren Informationen (z.B. Dateiname und Polizeibezeichnung) identifiziert werden.

Human Rights Watch hat die 1.400 Telefone, die von der Polizei markiert wurden, weitergehend analysiert:

  • Fast 42 Prozent der Telefone enthielten gewalttätiges oder grausames Material;
  • 12 Prozent der Telefone enthielten allgemeines islamisches religiöses Material;
  • 6 Prozent der Telefone enthielten Dateien mit offenkundig politischem Inhalt, z.B. eine Hymne auf „Ostturkestan“ - der Name, mit dem einige turkstämmige Muslim*innen die Region bezeichnen, die die chinesische Regierung „Xinjiang“ nennt -, Videos über den Krieg in Syrien und prodemokratische Proteste in Hongkong;
  • 4 Prozent der Telefone enthielten Dateien, die zu Gewalt aufrufen, wie z.B. zum „Dschihad“.
  • 48 Prozent der Telefone enthielten Dateien, die Human Rights Watch nicht identifizieren konnte.

Das Völkerrecht verpflichtet Regierungen, Straftatbestände genau zu definieren und das Recht auf freie Meinungsäußerung und Gedankenfreiheit zu respektieren, einschließlich des Rechts, Ansichten zu vertreten, die als anstößig gelten. Die Kriminalisierung des bloßen Besitzes von als extremistisch eingestuftem Material, wenn die betroffene Person nicht die Absicht hat, damit anderen Schaden zuzufügen, stellt eine besonders schwerwiegende Bedrohung der Glaubensfreiheit, der Privatsphäre und der Meinungsfreiheit dar. Diese Rechte werden durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte garantiert, den China zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert hat.

Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen sollte dringend eine unabhängige, internationale Untersuchung der schweren Menschenrechtsverletzungen und der Unterdrückung der Grundfreiheiten in Xinjiang durch die chinesische Regierung von Uigur*innen und anderen turkstämmigen Muslim*innen einleiten, so Human Rights Watch. Eine historische hohe Anzahl unabhängiger UN-Menschenrechtsexpert*innen sowie Hunderte von Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt haben solche Maßnahmen empfohlen.

„Die chinesische Regierung vermischt auf empörende und gefährliche Weise den Islam mit gewalttätigem Extremismus, um ihre abscheulichen Übergriffe gegen turkstämmige Muslim*innen in Xinjiang zu rechtfertigen“, sagte Wang. „Der UN-Menschenrechtsrat sollte längst überfällige Maßnahmen ergreifen und die Übergriffe der chinesischen Regierung in Xinjiang und darüber hinaus untersuchen.“

 

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