(Beirut) – In die Explosion vom 4. August 2020 in Beirut, bei der 218 Menschen ums Leben kamen, sind nachweislich hochrangige libanesische Offizielle verwickelt, die sich aufgrund systemischer Probleme im Politik- und Rechtssystem des Libanons jedoch bisher der Rechenschaftspflicht entziehen konnten, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Der UN-Menschenrechtsrat sollte eine Untersuchung anordnen, und Länder, die über ein globales Sanktionsregime im Sinne des Global Magnitsky Act oder ähnliche Menschenrechts- und Korruptionssanktionssysteme verfügen, sollten Sanktionen gegen die Verantwortlichen für die fortlaufenden schweren Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Explosion vom 4. August verhängen und diejenigen, die die Rechenschaftspflicht unterminieren.
Der 127-seitige Bericht mit dem Titel „They Killed Us from the Inside: An Investigation into the August 4 Beirut Blast“ legt das Verhalten der Offiziellen offen und zeigt die langjährige Korruption und Misswirtschaft im Hafen, die es ermöglichten, dass Tonnen von Ammoniumnitrat, einer potenziell explosiven chemischen Verbindung, dort fast sechs Jahre lang willkürlich und unsicher gelagert wurden. Die Detonation der Chemikalie verursachte eine der größten nichtnuklearen Explosionen der Geschichte, die den Hafen in Trümmer zerlegte und mehr als die Hälfte der Stadt beschädigte.
„Die Beweise belegen eindeutig, dass die Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 auf Handlungen und Unterlassungen hochrangiger libanesischer Offizieller zurückzuführen ist, die es versäumten, die von dem Ammoniumnitrat ausgehenden Gefahren genau zu kommunizieren, und das Material wissentlich unter unsicheren Bedingungen lagerten, ohne die Öffentlichkeit zu schützen“, sagte Lama Fakih, Direktorin für den Nahen Osten bei Human Right Watch. „Ein Jahr später sind die Narben dieses verheerenden Tages noch immer in der Stadt zu sehen, während Überlebende und Familien der Opfer auf Antworten warten.“
Auf Grundlage des zum Teil nicht veröffentlichten offiziellen Schriftverkehrs über die Rhosus, das Schiff, das das Ammoniumnitrat in den Hafen brachte, und dessen Ladung, sowie von Interviews mit Regierungs-, Sicherheits- und Justizbeamt*innen versuchte Human Rights Watch nachzuvollziehen, wie das gefährliche Material in den Hafen gelangte und dort gelagert werden konnte. Human Rights Watch hat auch detailliert untersucht, was die Regierungsbeamt*innen über das Ammoniumnitrat wussten und welche Maßnahmen sie zum Schutz der Bevölkerung ergriffen oder unterlassen haben.
Die bisherige Beweislage wirft die Frage auf, ob das Ammoniumnitrat für Mosambik bestimmt war, wie in den Frachtpapieren der Rhosus angegeben, oder ob Beirut der tatsächliche Bestimmungsort war. Die derzeit verfügbaren Beweise deuten auch stark darauf hin, dass mehrere libanesische Behörden nach libanesischem Recht in Bezug auf die Ladung grob fahrlässig gehandelt und damit ein unzumutbares Risiko für das Leben der Bevölkerung zugelassen haben, so Human Rights Watch.
Darüber deuten offiziellen Unterlagen stark darauf hin, dass einige Regierungsbeamt*innen die tödliche Gefahr, die von dem Ammoniumnitrat im Hafen ausging, vorausgesehen und stillschweigend akzeptiert haben. Nach libanesischem Recht könnte dies den Straftatbestand des Totschlags oder der fahrlässigen Tötung erfüllen. Nach den internationalen Menschenrechtsnormen verstößt das Versäumnis eines Staates, vorhersehbare Risiken für das Leben zu verhindern, gegen das Recht auf Leben.
Die Beamt*innen des Ministeriums für Öffentliche Arbeiten und Verkehr, das für den Hafen zuständig ist, wurden vor der Gefahr gewarnt, versäumten es jedoch, die Justiz ordnungsgemäß zu informieren oder die potenziell explosive und brennbare Schiffsladung und die davon ausgehende Gefahr angemessen zu untersuchen. Dann lagerten sie das Ammoniumnitrat zusammen mit anderen brennbaren oder explosiven Stoffen fast sechs Jahre lang wissentlich in einem schlecht gesicherten und schlecht belüfteten Hangar inmitten eines dicht besiedelten Gewerbe- und Wohngebiets und verstießen damit gegen internationale Richtlinien für die sichere Lagerung und Handhabung von Ammoniumnitrat. Berichten zufolge haben sie es auch versäumt, die in Hangar 12 durchgeführten Reparaturarbeiten, die möglicherweise die Explosion am 4. August 2020 ausgelöst haben, angemessen zu überwachen.
Aus dem offiziellen Schriftverkehr mit Zollbeamt*innen, die dem Finanzministerium unterstehen, geht hervor, dass sich eine Reihe von Ministerialbeamt*innen der Gefahren bewusst waren. Die Zollbeamt*innen gaben an, dass sie mindestens sechs Schreiben an die Justiz geschickt haben, in denen sie den Verkauf oder die Ausfuhr des Materials forderten. Aus Gerichtsakten geht jedoch hervor, dass die Zollbeamt*innen wiederholt darauf hingewiesen wurden, dass ihre Anträge verfahrensrechtlich nicht korrekt waren. Von Human Rights Watch befragte Justizbeamt*innen erklärten, der Zoll benötige keine richterliche Genehmigung für den Verkauf, die Wiederausfuhr oder die Vernichtung des Materials.
Das libanesische Armeekommando wies jede Kenntnis über das Ammoniumnitrat von sich, da es keinen Bedarf hatte – selbst nachdem es erfahren hatte, dass sein Stickstoffgehalt den Stoff nach lokalem Recht als Material für die Herstellung von Sprengstoff einstufte und für die Einfuhr eine Genehmigung der Armee und Inspektion nötig waren. Der militärische Nachrichtendienst, der für die Hafensicherheit im Bezug auf Munition, Drogen und Gewalt zuständig ist, unternahm keine erkennbaren Schritte, um das Material zu sichern oder einen Notfallplan oder Vorsichtsmaßnahmen zu erstellen.
Sowohl der damalige Innenminister als auch der Generaldirektor für allgemeine Sicherheit haben eingeräumt, dass sie von dem Ammoniumnitrat an Bord der Rhosus wussten, aber gesagt, dass sie keine Maßnahmen ergriffen haben, nachdem sie davon erfahren hatten, weil es nicht in ihrer Zuständigkeit lag.
Quellen zufolge wusste die Staatssicherheit, die dem Höheren Verteidigungsrat angegliedert ist, dem wiederum die Verteidigungspolitik des Landes obliegt, mindestens seit September 2019 von der Existenz des Ammoniumnitrats und seiner Gefährlichkeit. Allerdings wurde den hochrangigen Beamt*innen die Bedrohung mit unverantwortlicher Verzögerung kommuniziert. Noch dazu waren die bereitgestellten Informationen unvollständig. Das erste Schreiben der Staatssicherheit an den Präsidenten und den Premierminister erging am 20. Juli 2020, zwei Wochen vor der Explosion.
Präsident Michel Aoun, der Vorsitzende des Höheren Verteidigungsrates, gab zu, dass er mindestens seit dem 21. Juli 2020 von dem gelagerten Ammoniumnitrat wusste und einen Berater gebeten hatte, dem nachzugehen, wies im gleichen Zug allerdings jede Verantwortung von sich. Premierminister Hassan Diab, der stellvertretende Vorsitzende des Rates, wusste seit dem 3. Juni 2020 von dem Ammoniumnitrat, unternahm jedoch nichts weiter, als den Bericht der Staatssicherheit vom 20. Juli 2020 an das Justizministerium und das Ministerium für öffentliche Arbeiten weiterzuleiten.
Bei der Explosion im Hafen von Beirut kamen 218 Menschen ums Leben, 7.000 wurden verletzt und mindestens 150 erlitten eine körperliche Behinderung. Der psychische Schaden, den die Menschen im Umfeld erlitten, ist nicht zu beziffern. 77.000 Wohnungen wurden beschädigt und über 300.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Nach Angaben der Weltbank verursachte die Explosion einen geschätzten Sachschaden in Höhe von 3,8 bis 4,6 Milliarden US-Dollar.
Libanesische Beamt*innen versprachen, den Vorfall gründlich und zügig zu untersuchen. Doch in dem Jahr seit der Explosion war es aufgrund von Verfahrens- und Systemmängeln bei den innerstaatlichen Ermittlungen – unter anderem die fehlende Unabhängigkeit der Justiz, die Immunität hochrangiger politischer Beamt*innen, die Nichtbeachtung der Standards für faire Gerichtsverfahren und die Verletzung von Verfahrensrechten – nicht möglich, glaubhaft für Gerechtigkeit zu sorgen.
Die Überlebenden der Explosion und die Familien der Opfer haben lautstark eine internationale Untersuchung gefordert und zum Ausdruck gebracht, dass sie kein Vertrauen in das eigene Rechtssystem haben.
Mittlerweile liegen viele Argumente für eine internationale Untersuchung vor. Der UN-Menschenrechtsrat sollte eine Untersuchung anordnen, um die Ursachen und die Verantwortlichkeit für die Explosion vom 4. August zu ermitteln und die notwendigen Schritte einzuleiten, um den Opfern Zugang zu wirksamen Rechtsmitteln zu verschaffen und weitere Rechteverletzungen zu verhindern, so Human Right Watch.
Länder, die über ein globales Sanktionssystem im Sinne des Global Magnitsky Act und andere Menschenrechts- und Korruptionssanktionsregelungen verfügen, sollten Sanktionen gegen alle libanesischen Offizielle verhängen, die für anhaltende Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Explosion verantwortlich sind und die versuchen sich der Verantwortung zu entziehen, so Human Rights Watch. Solche Sanktionen würden die Verpflichtung dieser Länder bekräftigen, die Verantwortlichen für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen und denjenigen, die darauf drängen, die Verantwortlichen vor inländische Gerichte zu stellen, ein zusätzliches Druckmittel an die Hand geben.
„Trotz der verheerenden Folgen der Explosion wählen libanesische Offizielle weiterhin den Weg der Ausflucht und Straflosigkeit anstelle von Wahrheit und Gerechtigkeit“, sagte Fakih. „Der UN-Menschenrechtsrat sollte unverzüglich eine Untersuchung einleiten, und andere Länder sollten gezielte Sanktionen gegen diejenigen verhängen, die in die andauernden Rechteverletzungen und Bemühungen, die Justiz zu behindern, verwickelt sind.“