(Washington, DC) - Die Tötungen von Menschenrechtsverteidigern durch bewaffnete Gruppen sind in Kolumbien allgegenwärtig. Die Regierung zögert jedoch, Maßnahmen zu ergreifen, um diesen ein Ende zu setzen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 127-seitige Bericht, „Left Undefended: Killings of Rights Defenders in Colombia’s Remote Communities“dokumentiert die Tötungen von Menschenrechtsverteidigern im ganzen Land innerhalb der letzten fünf Jahre sowie gravierende Mängel bei den Bemühungen der Regierung, diese zu verhindern, Menschenrechtsverteidiger zu schützen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Laut dem Büro des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) wurden seit 2016 über 400 Menschenrechtsverteidiger in Kolumbien getötet.
„Kolumbien hat in den letzten Jahren die höchste Zahl an getöteten Menschenrechtsverteidigern aller lateinamerikanischen Länder zu beklagen, aber die Regierung reagierte hauptsächlich mit leeren Worten und mit nur wenig sinnvollen Taten", sagte José Miguel Vivanco, Direktor für Mittel- und Südamerika bei Human Rights Watch. „Die Regierung von Präsident Iván Duque verurteilt die Morde zwar häufig, die meisten Regierungsstellen, die sich mit dem Problem befassen, sind jedoch kaum funktionsfähig oder haben gravierende Mängel.“
Human Rights Watch sprach mit mehr als 130 Personen in 20 der 32 kolumbianischen Bundesstaaten, darunter Mitarbeiter der Justizbehörden, Staatsanwälte, Regierungsbeamte, Menschenrechtsvertreter, humanitäre Helfer, Menschenrechtsverteidiger und Polizisten. Human Rights Watch überprüfte zudem Informationen und Statistiken, die von mehreren Regierungsbehörden und Ministerien zur Verfügung gestellt wurden, darunter das Innen- und das Verteidigungsministerium, die Generalstaatsanwaltschaft, die Ombudsstelle für Menschenrechte, das Büro des Generalinspektors, die Nationale Schutzeinheit und der Oberste Justizrat.
Die Tötungen von Menschenrechtsverteidigern haben zugenommen, seit die Guerilla der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) im Rahmen eines Friedensabkommens mit der Regierung 2016 demobilisiert wurde. Andere bewaffnete Gruppen, darunter mehrere, die aus der FARC hervorgegangen sind, haben diese Lücke gefüllt. Sie kämpfen um die Kontrolle von Territorien, beteiligen sich an illegalen Aktivitäten und wenden Gewalt gegen Zivilisten an. Human Rights Watch dokumentierte Tötungen in sechs der am stärksten betroffenen Gebiete.
Laut OHCHR steigt die Zahl der Tötungen mit jedem Jahr weiter an, von 41 im Jahr 2015 auf 108 im Jahr 2019. Für das Jahr 2020 hat das Büro bisher 53 Fälle dokumentiert, 80 weitere Fälle werden derzeit überprüft. Mindestens 49 der Opfer seit 2015 waren Frauen.
Die Ombudsstelle für Menschenrechte in Kolumbien, eine von der Exekutive unabhängige Regierungsstelle, berichtet von einem Anstieg der Tötungen von Menschenrechtsverteidigern zwischen 2019 und 2020.
Das Versäumnis der Behörden, in vielen von der FARC zurückeroberten Gebieten eine wirksame Kontrolle auszuüben und eine zivile staatliche Präsenz zu etablieren, hat diese Dynamik zu einem erheblichen Teil ermöglicht. Die Regierung setzt zwar das Militär in vielen Teilen des Landes ein, hat es aber versäumt, das Justizsystem zu stärken, den Schutz der Bevölkerung zu verbessern und einen angemessenen Zugang zu Wirtschafts- und Bildungsmöglichkeiten sowie zu öffentlichen Dienstleistungen zu gewährleisten.
Die Tötungen haben in verschiedenen Regionen eine unterschiedliche Dynamik. In Nord-Cauca haben Gruppen, die aus der FARC hervorgegangen sind, viele Menschenrechtsverteidiger aus den indigenen Nasa-Gemeinden getötet, die sich den bewaffneten Gruppen und dem Drogenhandel in ihren Territorien widersetzen.
„Sie [die bewaffneten Gruppen] haben Waffen, Autos und Geld, sie haben alles, um Krieg gegen uns zu führen“, sagte der Anführer einer indigenen Gemeinde gegenüber Human Rights Watch. „Wir haben nur unsere Stöcke, die unsere Autorität, unseren friedlichen Widerstand und unsere Verteidigung des Territoriums symbolisieren.“
In Tumaco töten bewaffnete Gruppen Menschenrechtsverteidiger, die sie verdächtigen, mit dem Militär zu kollaborieren oder die sich nicht an die Befehle der Gruppen halten. Sie bedrohen Menschen, die Projekte unterstützen, um Kokapflanzen - den Rohstoff für Kokain - durch Nahrungspflanzen zu ersetzen.
Argemiro Manuel López Pertuz, 46, der das Ernteersatzprogramm für 200 Familien in einer ländlichen Gegend von Tumaco leitete, wurde am 17. März 2019 von Männern getötet, die zu seinem Haus gingen und 12 Mal auf ihn schossen. Die von der Staatsanwaltschaft gesammelten Beweise deuten darauf hin, dass Mitglieder der bewaffneten Gruppe Contadores ihn getötet haben, die López Pertuz der Kollaboration mit dem Militär beschuldigt hatten.
Kolumbien verfügt über ein breites Spektrum an Maßnahmen, Mechanismen und Gesetzen, die Übergriffe auf Menschenrechtsverteidiger und andere gefährdete Personen verhindern sollen. Ihre Umsetzung ist jedoch oft mangelhaft, wie Human Rights Watch herausfand.
Die dem Innenministerium unterstellte Nationale Schutzeinheit ist seit 2011 mit dem Schutz gefährdeter Personen beauftragt. Sie gewährt Hunderten von Menschenrechtsverteidigern individuelle Schutzmaßnahmen. Allerdings erfolgen diese Schutzmaßnahmen nur als Reaktion auf gemeldete Drohungen. Viele der Getöteten hatten jedoch keine Drohungen vorab erhalten oder waren nicht in der Lage, diese zu melden.
Die Einheit bietet auch kollektive Schutzmaßnahmen für Gemeinschaften oder Gruppen an. Das Budget hierfür ist jedoch extrem begrenzt und die Einheit hat die Mehrzahl der Anträge auf kollektiven Schutz abgelehnt. Die Regierung hat es zudem versäumt, den umfassenden Schutzplan des Innenministeriums von 2018 umzusetzen. Ein Pilotprogramm zum Schutz bestimmter Gemeinschaften und Gruppen ist gerade erst angelaufen.
Das Frühwarnsystem der Ombudsstelle für Menschenrechte spielt eine entscheidende Rolle bei der Überwachung von Risiken, auch in entlegenen Regionen. Aber nationale, bundesstaatliche und kommunale Behörden haben es wiederholt versäumt, auf zahlreiche „Frühwarnungen“ zu reagieren, oder sie haben nur pro forma und ineffektiv reagiert.
Die Regierung hat es auch versäumt, in regelmäßigen Abständen die Nationale Kommission für Sicherheitsgarantien einzuberufen. Deren Aufgabe ist es, Maßnahmen zur Zerschlagung bewaffneter Gruppen zu entwickeln, die für die Tötung von Menschenrechtsverteidigern verantwortlich sind. Die Kommission hat bislang keine konkreten Ergebnisse hervorgebracht.
Die Bemühungen, die unmittelbaren Täter vor Gericht zu bringen, haben sich als effektiver erwiesen. Das Büro des Generalstaatsanwalts hat Richtlinien erlassen und spezialisierte Einheiten geschaffen, um die Tötungen strafrechtlich zu verfolgen. Seit 2016 kam es zu 59 Verurteilungen. Dennoch bedarf es wesentlicher Verbesserungen bei der strafrechtlichen Verfolgung der Personen, die die Tötungen angeordnet haben, sowie bei der Auflösung der bewaffneten Gruppen.
Eines der größten Hindernisse ist die begrenzte Anzahl von Richtern, Staatsanwälten und Ermittlern in den Gebieten, in denen es zu den meisten Tötungen kommt. Das von Präsident Duque im Mai 2019 angekündigte „Spezialteam“ von Richtern, das diese Fälle verhandeln soll, hat die Regierung noch nicht gebildet.
Um ihren Verpflichtungen gemäß den internationalen Menschenrechtsgesetzen nachzukommen, sollte die Regierung rasch wirksame Maßnahmen zur Verhinderung von Tötungen - und zum Schutz der Rechte - von Menschenrechtsverteidigern umsetzen und vollständig finanzieren, so Human Rights Watch. Dabei sollten ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht und andere Merkmale, die das Risiko und die Bedürfnisse von Einzelpersonen oder Gemeinschaften beeinflussen können, berücksichtigt werden. Die Behörden sollten die Kapazitäten der Justizbehörden und Staatsanwälte deutlich erhöhen, um die Verantwortlichen für solche Tötungen zur Rechenschaft zu ziehen.
„Wenn die Regierung nicht entschlossen handelt, werden wahrscheinlich noch viele weitere Menschenrechtsverteidiger getötet werden und Hunderte von gefährdeten Gemeinden ohne Schutz bleiben“, sagte Vivanco.
Kolumbien: Menschenrechtsverteidiger nicht ausreichend geschützt
Über 400 Gemeindeführer und andere seit 2016 getötet
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