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Großbritannien: Überwachungsmaßnahmen vollständig offenlegen

Stärkere Gesetze und bessere Kontrolle erforderlich, um Persönlichkeitsrechte zu schützen

(London) – Berichten zufolge fängt der britische Geheimdienst im großen Stil Internet- und Telefondaten ab und verletzt damit möglicherweise die Persönlichkeitsrechte von Millionen Menschen in Großbritannien und in anderen Ländern, so Human Rights Watch heute.

Die Regierung soll unverzüglich offenlegen, was für und wie umfangreiche Überwachungsmaßnahmen die Government Communications Headquarters (GCHQ), die britischen Nachrichten- und Sicherheitsdienste, durchführen, mit welcher Berechtigung und mit welchen Einschränkungen. Außerdem soll sie eine durchsetzungsfähige und transparente Kontrollinstanz schaffen, die das Parlament kontinuierlich über solche Maßnahmen informiert. Diese Institution muss auch so viele Informationen wie möglich veröffentlichen dürfen, solange diese nicht die nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung gefährden.

„Wenn die Anschuldigungen stimmen, späht die britische Regierung Millionen Menschen im In- und Ausland aus“, so Benjamin Ward, stellvertretender Leiter der Abteilung Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Wir brauchen klare Antworten von ihr darüber, in welchem Ausmaß Menschen überwacht werden. Dann kann eine faktengestützte Auseinandersetzung damit beginnen, wie der Datenschutz verbessert und Eingriffe in das Privatleben kontrolliert werden können.“

Am 21. Juni 2013 deckte die Tageszeitung The Guardian auf, dass die GCHQ seit dem Jahr 2011 im Rahmen der Operation „Tempora“ Internetdaten abfängt, die über Glasfaserverbindungen aus Großbritannien heraus und hinein gesendet werden. Diesen Berichten zufolge haben die Geheimdienste Zugang zu gewaltigen Datenmassen, die von Nordamerika nach und durch Großbritannien gesandt werden, und teilen diese mit der Nationalen Sicherheitsbehörde der USA (NSA). Diese Daten umfassen mutmaßlich Telefonanrufe, Inhalte von Emails und Informationen über die Nutzung von Websites und sozialen Medien.

Weiterhin berichtete The Guardian, dass der britische Geheimdienst mehr als 200 Kabel angezapft hat, die Großbritannien mit dem weltweiten Internet verbinden. Abgefangene Daten werden bis zu drei Tage lang gespeichert und Metadaten über die Identität der Nutzer, ihren Aufenthaltsort und ihre Suchanfragen bis zu 30 Tage. Hunderte GCHQ- und NSA-Analysten filtern diese Daten und suchen nach für sie relevanten Informationen.

Auf Grund der Lage Großbritanniens läuft der Großteil des transatlantischen Internetverkehrs über die Verbindungen, zu denen die Regierung Zugang hat. Das betrifft auch den Datenverkehr zwischen Servern großer US-Internetunternehmen, die in anderen Berichten über ähnliche mutmaßliche NSA-Programme angeprangert wurden.

Die Vorwürfe legen nahe, dass die Gesetze in Großbritannien nicht ausreichen, um solche Überwachungsmaßnahmen zu regulieren und zu kontrollieren. Sie schützen nicht vor massenhaften Verletzungen von Persönlichkeitsrechten.

„Natürlich muss die britische Regierung die nationale Sicherheit schützen und Verbrechen verhindern“, so Ward. „Aber es ist ein Riesenunterschied, ob sie dazu notwendige und verhältnismäßige Maßnahmen ergreift, oder ob sie wahllos die Kommunikationsdaten von Millionen Menschen sammelt und durchsucht, die unter überhaupt keinem Verdacht stehen.“

Dringend muss die Regierung transparent machen, wie viele Daten von Personen außerhalb Großbritanniens sie sammelt und wie sie diese speichert, nutzt oder Dritten zur Verfügung stellt. Das ist besonders brisant, weil diese Personen unter britischem Recht weniger vor Überwachungsmaßnahmen geschützt sind als Menschen im Inland.

Bereits am 25. Juni erfragte Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, im welchem Umfang deutsche Staatsbürger von den Überwachungsmaßnahmen betroffen sind, und drängte darauf, das Thema auf EU-Ebene zu diskutieren. Einen Tag später forderte Viviane Reding, EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, eine Erklärung vom britischen Außenminister William Hague. Wenn die Vorwürfe berechtigt seien, habe das schwerwiegende Auswirkungen auf die Rechte von EU-Bürgern.

Daraufhin verteidigte Hague den Informationsaustausch zwischen Großbritannien und den USA und betonte, dass die Nachrichtendienste beider Länder auf rechtsstaatlichen Grundlagen arbeiteten. „In manchen Ländern kontrollieren die Geheimdienste die Menschen - bei uns existieren sie nur, um ihre Freiheit zu verteidigen“, sagte er. Am 10. Juni teilte er dem britischen Parlament mit, er werde „sich nicht dazu hinreißen lassen, irgendeinen Aspekt der veröffentlichten Informationen zu bestätigen oder zu dementieren“. Er begründete das damit, dass „britische Regierungen grundsätzlich geheimdienstliche Operationen nicht kommentieren“.

„Es ist schlicht unverschämt, dass der britische Außenminister versucht, eine öffentliche Diskussion abzuwürgen, indem er meint, Geheimdienstmaßnahmen nicht kommentieren zu müssen“, so Ward. „Buchstäblich jeder Mensch in Großbritannien und in anderen Ländern könnte überwacht werden - völlig unabhängig davon, ob er irgendetwas mit Straftaten oder Terrorismus zu tun hat. Wir haben alle ein Recht darauf zu erfahren, ob unsere Persönlichkeitsrechte verletzt werden.“

Augenscheinlich agieren die Geheimdienste auf der Grundlage des Gesetzes über Telekommunikationsüberwachung aus dem Jahr 2000, dem Regulation of Investigatory Powers Act (RIPA). Es ermächtigt Staatsminister, „Secretaries of State“, auf Anfrage eines leitenden Geheimdienst- oder Polizeibeamten eine Genehmigung zu erteilen für das Abfangen zu Daten, deren Absender oder Empfänger sich in Großbritannien befindet. Dafür muss der Minister diese Maßnahme als notwendig und verhältnismäßig erachten.

Allerdings können Genehmigungen aus einer Vielzahl vager Gründe erteilt werden. Das Gesetz erlaubt nicht nur im Interesse der nationalen Sicherheit „notwendige“ Überwachungsmaßnahmen, sondern auch solche, die zur Abwehr schwerer Verbrechen oder zum Schutz der Wirtschaft Großbritanniens „notwendig“ sind.

Darüber hinaus ermöglicht Abschnitt 8(4) des Gesetzes, Daten abzufangen, die außerhalb der „britischen Inseln“ gesendet oder empfangen werden, also außerhalb von Großbritannien, Jersey, Guernsey und der Isle of Man. Die Reporter von The Guardian vermuten, dass der Außenminister auf Grund dieser Vorschrift erlaubt hat, aus dem Ausland stammende Daten aus Glasfaserverbindungen abzufangen. Wenn ein Staatsminister eine Überwachungsgenehmigung erteilt, muss er darlegen, dass die Maßnahme „notwendig“ ist, um ein legitimes und gesetzmäßiges Ziel zu erreichen und beschreiben, welche Daten untersucht werden dürfen. Allerdings ist unklar, wie präzise diese Beschreibung sein muss.

Mitunter läuft ein erheblicher Teil des Datenverkehrs zwischen zwei Personen in Großbritannien über Server im Ausland. Auch diese Informationen könnten im Rahmen der Operation „Tempora“ unter den niedrigeren Datenschutzstandards für Kommunikation außerhalb Großbritanniens abgefangen werden.

RIPA enthält nur schwache Datenschutzrichtlinien für abgefangene Kommunikationsdaten von Personen, die sich außerhalb der „britischen Inseln“ befinden. Wie die Daten genutzt werden, ist weder transparent noch ausreichend überprüfbar. Zwar übersieht ein Kommunikationskommissar die Überwachungsbefugnisse der Regierung, aber er wird nicht vom Parlament, sondern vom Premierminister ernannt. Dieser Kommissar überprüft nachträglich einige Überwachungsgenehmigungen dahingehend, ob sie die Kriterien der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit erfüllen. Aber er legt nicht offen, wie viele Genehmigungen er geprüft hat. Auch müssen seine Jahresberichte vom Premierminister freigegeben werden. Der letzte erweckt den Eindruck, dass die Überprüfungen überwiegend nach dem Zufallsprinzip erfolgen.

Wenn eine Person annimmt, dass die Geheimdienste ihre Persönlichkeitsrechte verletzt haben, kann sie Beschwerde einlegen bei einer Gerichtsinstanz, dem Investigatory Powers Tribunal. Diese kann die Überwachungsgenehmigung aufheben, anordnen, dass die gesammelte Daten vernichtet und, dass Schadensersatz geleistet wird. Aber wenn sie der Beschwerde nicht stattgibt, informiert sie die betroffene Person nicht darüber, ob sie überwacht wurde. Auch können ihre Entscheidungen nicht vor Gericht angefochten werden.

„In den 13 Jahren seit Verabschiedung des Überwachungsgesetzes hat sich die Technik in einem Maß weiterentwickelt, das damals nicht vorhersehbar war“, so Ward. „Die Vorwürfe massenhafter Überwachung unterstreichen, dass das Gesetz dringend an die neuen Gegebenheiten angepasst werden muss.“

Unter der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem britischen Human Rights Act, der die Konvention in britisches Recht überführt, muss Großbritannien das Recht auf Privatsphäre schützen. Jeder Eingriff muss „in Einklang mit den Gesetzen“ stehen, „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ und verhältnismäßig sein. Je stärker die Exekutive ihren Ermessensspielraum nutzt, um in Persönlichkeitsrechte einzugreifen, desto mehr ist sie verpflichtet zu gewährleisten, dass angemessener Schutz vor Missbrauch besteht.

Nachdem die Medien aufdeckten, dass die GCHQ an geheimen Überwachungsoperationen der USA beteiligt sind, sagte Hague dem Parlament, dass die Genehmigungen für geheimdienstliche Operationen, die er und andere Staatsminister erteilen, „nach dem Gesetz notwendig, verhältnismäßig und gezielt sein müssen und von uns nach diesen Grundsätzen beurteilt werden“. Die Enthüllungen des Guardian scheinen dieser Behauptung zu widersprechen.

Wenn die Regierung ein Interesse daran hat, dass die Menschen in Großbritannien Vertrauen haben in die Geheimdienste und deren „Treue zu Recht und demokratischen Werten“, muss sie eine Erklärung abgeben über diese Vorwürfe und über die Anwendung des Überwachungsgesetzes.

Darüber hinaus muss sie gewährleisten, dass ein neues Gesetz nur unter außergewöhnlichen Umständen zulässt, dass Telekommunikationsdaten abgefangen werden. Alle Genehmigungen derartiger Maßnahmen sollen von einer unabhängigen Gerichtsinstanz überprüft werden. Auch soll ein neues Gesetz eindeutig regeln, was erlaubt ist und zu welchem Zweck. Unbedingt vermieden werden müssen vage Definitionen wie „im Interesse der nationalen Sicherheit“ oder des wirtschaftlichen Wohlergehens Großbritanniens.

In einem kürzlich veröffentlichten Bericht erinnerte der UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit, Frank La Rue, alle Länder daran, dass die Überwachung von Kommunikation einen „potentiell starken Eingriff in die Meinungsfreiheit und in die Persönlichkeitsrechte“ darstellt, der „die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft bedroht“. Er warnte davor, dass „unangemessene, nationale Gesetze der Ausgangspunkt sind für willkürliche und unrechtmäßige Eingriffe in das Recht auf Privatsphäre. Folglich gefährden sie auch die Meinungsfreiheit“.

Die britische Regierung gehört der Freedom Online Coalition an, einem Regierungsbündnis, das sich dazu verpflichtet hat „zur Weiterentwicklung der Internetfreiheit zusammenzuarbeiten“.

„Großbritannien geriert sich als Vorreiter in Sachen Internetfreiheit. Aber die Regierung wird moralisch unglaubwürdig, wenn sie nur die nationale Sicherheit und nicht die Privatsphäre schützt“, so Ward. „Sie muss unverzüglich offenlegen, was sie im Rahmen der Überwachungsoperationen tut und wie sie dabei Persönlichkeitsrechte schützt.“

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