(New York)– Von der chinesischen Regierung angeordnete Zwangsumsiedlungen verändern das Leben von Millionen Tibetern radikal, ohne dass diese sich dagegen wehren können, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Weil die Regierung in tibetischen Gebieten „neue, sozialistische Landschaften schaffen“ will, hat sie seit dem Jahr 2006 mehr als zwei Millionen Tibeter im Autonomen Gebiet Tibet „umgezogen“. Sie tut das, indem sie Sanierungen anordnet oder neue Häuser bauen lässt. Gleichzeitig hat sie Hunderttausende nomadische Hirten aus dem Osten der Tibetischen Hochebene in andere Regionen oder in „Neue Sozialistische Dörfer“ umgesiedelt.
Der 106-seitige Bericht „‘They Say We Should Be Grateful‘: Mass Rehousing and Relocation in Tibetan Areas of China“dokumentiert umfangreiche Menschenrechtsverletzungen. Insbesondere hält die Regierung keine Rücksprachen mit den Betroffenen und entschädigt sie zum Teil nicht angemessen. Zwangsräumungen sind nur dann legitim, wenn beides getan wird. Darüber hinaus zeigt der Bericht auf, dass die neuen Häuser oft Qualitätsmängel aufweisen, willkürliche Entscheidungen nicht wieder gut gemacht und Existenzgrundlagen unwiderruflich zerstört werden. Außerdem missachtet die Regierung die gesetzlich garantierten Autonomierechte der Tibeter.
„Durch die massenhaften Zwangsumsiedlungen wird die ländliche Population Tibets mit einer Geschwindigkeit und in einem Ausmaß umgeformt, die in der Post-Mao-Ära beispiellos sind“, so Sophie Richardson, China-Expertin bei Human Rights Watch. „Die Tibeter selbst haben keinen Einfluss auf eine Politik, die ihre Leben radikal verändert. In dem ohnehin repressiven Klima können sie sich nicht wehren.“
Die Behörden im Autonomen Gebiet Tibet haben angekündigt, dass sie bis zum Jahresende 2014 mehr als 900.000 weitere Menschen in neue Häuser und Regionen umsiedeln wollen. Etwa seit dem Jahr 2000 haben die Behörden mehr als 300.000 nomadische Hirten umgesiedelt, die vormals in der Provinz Qinghai im Osten der Tibetischen Hochebene lebten. Sie beabsichtigen, bis zum Ende dieses Jahres weitere 113.000 Nomaden sesshaft zu machen.
Die chinesische Regierung betont, dass alle Umsiedlungen und Umzüge völlig freiwillig seien und sie „die Wünsche der tibetischen Bauern und Hirten“ respektiere. Sie weist jegliche Vorwürfe von Zwangsumsiedlungen weit von sich. Außerdem meint sie, kulturell sensibel vorzugehen, weil die neuen Häuser so gestaltet seien, dass sie zu den „ethnischen Besonderheiten“ passten. Weiterhin behauptet die Regierung, dass alle Personen, die neue Häuser bezogen haben, zufrieden und dankbar seien über die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Tatsächlich begrüßen manche Tibeter einzelne Aspekte der Wohnraumpolitik und profitieren von ihnen. Aber viele fürchten, dass sie ihre Existenz nicht mehr dauerhaft sichern können. Und die meisten fühlen sich als Opfer einer Politik, der sie sich nicht widersetzen und die sie nicht beeinflussen können.
Bereits als die Pläne der Regierung bekannt wurden, „Neue Sozialistische Dörfer“ zu errichten, befürchteten viele Tibeter zunehmende Eingriffe in ihre Gemeinschaften. Diese Ängste erwiesen sich als nur zu begründet. Im Jahr 2011 kündigte die Regierung an, in allen 5.400 Dörfern des Autonomen Gebiets Tibet neue Teams aus Beamten und Parteikadern zu stationieren. Diese Teams, die mit den Dorfbewohnern „leben, arbeiten und essen“, sollen ein Überwachungssystem etablieren und verletzen offen die bürgerlichen, kulturellen, politischen und religiösen Grundrechte der Tibeter. Aus Protest gegen die chinesische Politik haben sich seit dem Jahr 2009 119 Tibeter selbst verbrannt. Die Regierung reagiert mit immer repressiveren Maßnahmen.
Human Rights Watch hat zwischen den Jahren 2005 und 2012 Tibeter aus bäuerlichen und nomadischen Gemeinschaften befragt. Sie gaben an, dass unzählige Menschen nicht freiwillig umgezogen seien. Weder habe die Regierung sie konsultiert, noch habe sie ihnen Alternativen angeboten. In Folge der Umzüge, der Verkleinerung ihrer Herden oder des Ab- und Neubaus ihrer Häuser hätten viele Tibeter finanzielle Schwierigkeiten. Ihre neuen Unterkünfte seien zum Teil schlechter als diejenigen, in denen sie vorher lebten. Außerdem seien viele Versprechen nicht eingehalten worden, mit denen die Beamten sie zum Umziehen bewegt hätten.
Entgegen offizieller Behauptungen belegen amtliche Dokumente, dass die tibetischen Haushalte den Großteil der Kosten für den Neubau ihrer Häuser tragen müssen - bis zu 75 Prozent. Laut einer Studie der Zentralregierung müssen „für jeden Yuan Regierungssubventionen die Haushalte selbst 4,5 Yuan beitragen“. Angesichts dieser finanziellen Last ist nicht verwunderlich, dass so viele Tibeter befürchten, ihre Existenzgrundlage zu verlieren oder ihre kulturelle Identität nicht bewahren zu können, wenn sie den Anordnungen der Regierung folgen und ihre Häuser sanieren oder neu bauen.
„Die chinesische Regierung behauptet, dass sie den Tibetern mit den modernen ‚Neuen Sozialistischen Dörfern‘ wirtschaftliche Vorteile bringt“, sagt Richardson. „Zwar mögen ein paar Tibeter von ihnen profitiert haben. Aber die meisten wurden schlicht gezwungen, ihre armen, aber stabilen Lebensgrundlagen zu tauschen gegen eine unsichere Bargeld-Wirtschaft, in der sie oft die schwächsten Akteure sind.“
Die chinesische Regierung verschleiert aktiv, welche Auswirkungen ihre Maßnahmen haben, indem sie unabhängige Untersuchungen in den tibetischen Gebieten verbietet. Seit den Protesten im März 2008 und der anschließenden Verfolgungsoffensive haben Menschenrechtsorganisationen keinen Zugang. Journalisten, Diplomaten, Wissenschaftler und selbst ausländische Touristen gelangen nur sehr schwer in die Tibetische Hochebene, insbesondere in das Autonome Gebiet Tibet. Aber die Auswertung von frei zugänglichen Satellitenbildern enthüllt die gewaltigen Ausmaße der Veränderungen in vielen tibetischen Gemeinschaften. Die Bilder zeigen, dass einige traditionelle Dörfer vollständig abgerissen und in ihrer Nähe „Neue Sozialisitische Dörfer“ errichtet wurden, die aus identischen Häusern in parallelen Reihen bestehen.
Zwar rechtfertigt die Regierung ihre Umsiedlungspolitik vor allem mit wirtschaftlichen Argumenten, aber sie hat auch deutlich gemacht, dass sie mit ihr größere politische Ziele verfolgt. Sie will alle ethnisch-nationalen oder „separatistischen“ Tendenzen in den tibetischen Gebieten bekämpfen und die ländliche Bevölkerung stärker kontrollieren.
Darüber hinaus verwendet die Zentralregierung die unfreiwilligen und unfairen Umsiedlungen von Tibetern als Schablone für ähnliche Maßnahmen gegen ethnische Minderheiten in anderen Landesteilen. Im Juni 2011 ordnete sie an, dass alle Provinzen, einschließlich Sichuan, Qinghai und Gansun, und autonome Gebiete, einschließlich die Innere Mongolei, Xinjiang und Tibet, ihre laufenden Programme zur Umsiedlung von Hunderttausenden nomadischen Hirten bis zum Jahresende 2014 abschließen müssen.
Die chinesische Regierung soll alle Projekte unverzüglich stoppen, die massenhafte Umsiedlungen zur Folge haben. Darüber hinaus soll sie die Gestaltung und die Auswirkungen ihrer Maßnahmen unabhängig untersuchen lassen, auch, indem sie den seit langem bestehenden Besuchsanfragen unterschiedlicher Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen stattgibt.
Wenn die Regierung größere politische Spannungen in den tibetischen Gebieten verhindern will, soll sie dort die langjährigen Probleme lösen. Weiterhin soll sie das Autonomiegesetz entsprechend völkerrechtlicher Grundsätze umsetzen, so dass die Tibeter tatsächlich ihre eigene Politik gestalten können, insbesondere in wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten.
„Es ist pure Fiktion, dass die Tibeter unter chinesischer Herrschaft irgendeine Form von Autonomie genießen. Das belegen die massenhaften Zwangsumsiedlungen, gegen die sie sich nicht wehren können“, so Richardson. „Wenn die Regierung diese Maßnahmen in einem ohnehin schon repressiven Klima fortsetzt, wird sie damit nur neue Spannungen schüren und die Kluft zwischen den Tibetern und dem chinesischen Staat vertiefen.“