(Nairobi, 15. Juli 2010) - Zehntausende Frauen und Mädchen leiden in Kenia wegen mangelhafter Gesundheitsversorgung und einer gescheiterten Regierungspolitik an Geburtsfisteln, einer bei entbindenden Frauen entstehenden Verletzung, die zu Harn- und Stuhlinkontinenz führt, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 82-seitige Bericht „‘I Am Not Dead, But I Am Not Living’: Barriers to Fistula Prevention and Treatment in Kenya“ beschreibt die niederschmetternden Folgen, die eine Fistel-Erkrankung für Frauen in Kenia hat, sowie die tiefe Kluft zwischen der Regierungspolitik auf dem Gebiet der reproduktiven Gesundheit und dem beschwerlichen Alltag der betroffenen Frauen. Der Bericht dokumentiert systematisches Versagen des Gesundheitssystems in fünf Bereichen: Aufklärung und Information über reproduktive Gesundheit und die Gesundheit von Müttern, Aufklärungsunterricht an Schulen, Zugang zu geburtsmedizinischen Notfallmaßnahmen wie Einweisung und Transport in Krankenhäuser, erschwingliche Gesundheitsversorgung für Mütter und Behandlung von Fisteln sowie Verantwortlichkeit im Gesundheitssystem. Zudem schildert der Bericht, wie Frauen, die an einer Fistel leiden, stigmatisiert und misshandelt werden.
„Viele Frauen und Mädchen, die an einer Geburtsfistel leiden, leben in Scham, Not, Gewalt und Armut“, so Agnes Odhiambo, Human Rights Watch-Expertin für Frauenrechte in Afrika. „Gut gemeinte Strategiepapiere reichen nicht, um die Bildung von Geburtsfisteln zu vermeiden und erkrankte Frauen zu heilen. Kenia muss sein Versprechen einlösen, allen Bürgern eine angemessene Gesundheitsversorgung zu bieten.“
Das Risiko, sich eine Geburtsfistel zuzuziehen, erhöht sich, wenn junge Mädchen früh schwanger werden, noch bevor sie eine Schwangerschaft körperlich gut verkraften können. Dies kann zu Komplikationen vor der Geburt führen. Wenn die erforderliche Notfallbehandlung – meist ein Kaiserschnitt – nicht verfügbar ist, können die lang andauernden Geburtswehen zum Absterben von Vaginalgewebe, zur Bildung einer Öffnung (Fistel) und damit zu Inkontinenz führen. Die mangelhafte sexuelle Aufklärung trägt entscheidend zu den frühen Schwangerschaften bei Mädchen bei. Viele der von Human Rights Watch befragten Mädchen verfügten nicht einmal über Grundwissen über Fortpflanzung und reproduktive Gesundheit.
Kwamboka W., die im Alter von 13 Jahren schwanger wurde, als sie noch zur Grundschule ging, sagte im Gespräch mit Human Rights Watch: „Ich wusste nichts über Familienplanung oder Kondome. Ich tat es nur einmal und wurde schwanger. Ich habe immer noch keine Ahnung von Verhütungsmitteln.“
Andere Frauen gaben an, sie hätten nicht erwartet, durch ungeschützten Geschlechtsverkehr schwanger zu werden, weil es ihr erstes Mal gewesen sei oder weil sie unregelmäßige Regelblutungen gehabt hatten.
Der Bericht beruht auf Recherchen, die Human Rights Watch im November und Dezember 2009 in Krankenhäusern in Kisumu, Nairobi, Kisii und Machakos sowie im März 2010 in Dadaab durchgeführt hat. Die Human Rights Watch-Experten befragten 55 Frauen und Mädchen im Alter von 14 bis 73 Jahren von denen 53 an einer Fistel litten. Von diesen Frauen waren zwölf jünger als 18 Jahre. Human Rights Watch befragte auch Chirurgen, die Geburtsfisteln behandeln, Geburtsschwestern, Krankenhausleiter, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, die sich im Bereich Gesundheit und Frauenrechte engagieren, internationale Spender, UN-Vertreter sowie Lehrer an Grund- und weiterführenden Schulen.
Kwamboka W. beschrieb das Leben mit ihrer Geburtsfistel mit den Worten: „Ich dachte, ich sollte mich umbringen. Du kannst nicht mit Leuten herumlaufen. Sie lachen dich aus. Du kannst nicht reisen, du hast ständig Schmerzen. Es ist sehr unangenehm beim Schlafen. Wenn du nahe bei anderen Leuten bist, sagen sie, es riecht nach Urin, und sie schauen dich direkt an und sprechen leise. Es tat so weh, dass ich sterben wollte. Du kannst nicht arbeiten gehen, weil du Schmerzen hast. Du bist immer nass und musst ständig Kleider waschen.“
Obwohl die Regierung offiziell Sexualkundeunterricht an den Schulen eingeführt hat, ergaben die Recherchen von Human Rights Watch, dass die meisten Lehrer das Fach nicht unterrichten, weil es nicht in den Lehrplänen enthalten ist.
Laut dem Bericht erschweren die Gebühren im kenianischen Gesundheitssystem die medizinische Versorgung von Müttern und die Behandlung von Geburtsfisteln in bedeutendem Maße. Viele Frauen, die an einer Fistel leiden, sind sozial schwach. Einige von Human Rights Watch befragte Frauen erzählten, wie schwierig es ist, Geld für eine Operation zu sammeln. Mit der Einführung kostenloser Behandlungen für Schwangere und Mütter in Apotheken und Gesundheitszentren hat die kenianische Regierung einen bedeutenden Schritt nach vorne gemacht. Die Maßnahme lässt jedoch Frauen außen vor, bei denen Komplikationen auftreten, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, wo weiterhin Gebühren erhoben werden. Diese Kosten schrecken Frauen davor ab, sich angemessen behandeln zu lassen.
Staatliche Krankenhäuser sind zwar angewiesen, bedürftigen Personen die Gebühren zu erlassen, laut dem Bericht wird die Regelung jedoch mangelhaft umgesetzt. Zu den Mängeln gehört, dass viele Patienten und einige Gesundheitsanbieter die Regelung nicht kennen und dass manche Einrichtungen nicht über die Gebührenerlasse informieren und den Patienten bewusst Informationen vorenthalten. Zudem sind die Leitlinien zur Umsetzung der Regelung, einschließlich der Kriterien zur Feststellung der finanziellen Bedürftigkeit eines Patienten, unklar formuliert, und es wird nicht ausreichend kontrolliert, ob Krankenhäuser berechtigten Patienten die Gebühren erlassen. Keine der von Human Rights Watch befragten Frauen und Mädchen hatte einen Gebührenerlass erhalten.
„Geburtsfisteln oder Todesfälle während Schwangerschaft und Geburt treffen am häufigsten sozial schwache Frauen und Mädchen, die auf dem Land leben und weder lesen noch schreiben können“, so Odhiambo. „Wichtige Informationen und Versorgungsleistungen erreichen sie nicht. Dies zeigt, dass die politischen Vorgaben der Regierung, die allen eine gleich gute Gesundheitsversorgung gewährleisten sollen, nicht umgesetzt werden.“
Um das Gesundheitssystem zu verbessern, muss das Prinzip der Verantwortlichkeit im Gesundheitssektor gestärkt werden. Dazu müssen den Patienten leicht zugängliche und wirksame Mittel angeboten werden, um ihre Behandlung zu beurteilen oder Beschwerden einzureichen. Zudem muss dafür gesorgt werden, dass solche Kritik tatsächlich zu Veränderungen führt. Die aktuelle Praxis, Briefkästen aufzustellen, in die Patienten Anregungen und Beschwerden einwerfen können, ist nach den Erkenntnissen des Berichts ungeeignet, insbesondere für Analphabeten. Mehrere der von Human Rights Watch befragten Frauen wurden in Gesundheitseinrichtungen missbraucht und hatten dennoch keine Beschwerde eingereicht, weil sie nicht wussten, wie dies möglich ist oder weil sie Vergeltung fürchteten.
In sogenannten „Camps“, die durch internationale Geber finanziert werden und für einige Wochen im Jahr in einer Reihe von Städten Station machen, wird ein geringer Teil der Frauen, die an einer Geburtsfistel leiden, operiert. Doch selbst erfolgreich behandelte Frauen werden oft in ihrer Familie und ihrem sozialen Umfeld stigmatisiert.
Nach Jahren, manchmal sogar Jahrzehnten, im gesellschaftlichen Abseits benötigen viele Frauen und Mädchen Unterstützung, um sich wieder in ihr soziales Umfeld einzugliedern. Sie brauchen psychologische und sozialpädagogische Hilfe, um neues Selbstvertrauen zu gewinnen, den Mut zur Teilnahme am gesellschaftlichen und religiösen Leben zu schöpfen, wieder ein normales Sexualleben aufzubauen und sicherzustellen, dass künftige Entbindungen komplikationslos verlaufen. Zudem benötigen die Frauen Beratung, um den Weg in die finanzielle Unabhängigkeit zu finden.
Die kenianische Regierung soll eine landesweite Strategie erarbeiten und umsetzen, um das Auftreten von Geburtsfisteln zu verhindern und betroffenen Frauen die erforderlichen Therapien anzubieten. In diesem Rahmen soll auch eine Informationskampagne durchgeführt werden, die Frauen darüber aufklärt, welche Ursachen zur Bildung von Fisteln führen, warum Entbindungen in einer angemessen ausgestatteten Einrichtung stattfinden sollten und welche Behandlungsmethoden für Fisteln verfügbar sind. Die Regierung soll einen umfassenden Sexualkundeunterricht in die Lehrpläne aufnehmen und dafür sorgen, dass die Lehrer dem Fach ausreichend Zeit widmen.
Die Regierung soll unverzüglich den Zugang zu Operationen von Fisteln verbessern, indem sie Routineeingriffe in Krankenhäusern finanziell unterstützt und bedürftigen Frauen eine kostenlose Behandlung ermöglicht. Zudem soll der Gebührenerlass für Entbindungen in Apotheken und Gesundheitszentren auf alle geburtsmedizinischen Behandlungen ausgeweitet werden und die Verfügbarkeit und Qualität der geburtsmedizinischen Notfallangebote verbessert werden.