(New York) – Bei Angriffen auf die Protestbewegung im Jemen, bei denen im vergangenen Jahr in der umkämpften Stadt Taiz mindestens 120 Menschen getötet wurden, haben Sicherheitskräfte Krankenhäuser beschossen und gestürmt, Patienten mit vorgehaltener Waffe zum Verlassen des Gebäudes gezwungen und Ärzte geschlagen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Jemens Präsident Ali Abdullah Salih, der sich zurzeit zur ärztlichen Behandlung in den USA befindet, genießt im Jemen Immunität für derartige Angriffe.
In dem 75-seitigen Bericht „‘No Safe Places’: Yemen’s Crackdown on Protests in Taiz“ fordert Human Rights Watch die USA, die Europäische Union und die Staaten am Persischen Golf auf, öffentlich zu bestätigen, dass die Immunität, die Salih und seinen Helfern innerhalb des Jemen gewährt wurde, außerhalb des Landes keine rechtliche Bedeutung hat.
„Die Truppen von Präsident Salih haben Hunderte Zivilisten verletzt oder getötet, Krankenhäuser zwangsgeräumt und die medizinische Versorgung von Verwundeten verhindert“, so Letta Tayler, Jemen-Expertin von Human Rights Watch. „Salih hat das Recht, sich medizinisch behandeln zu lassen. Er und sein Stab haben jedoch keinen Anspruch auf Immunität vor der Strafverfolgung von Völkerrechtsverstößen.“
Als im Januar 2011 viele Jemeniten auf die Straße gingen und ein Ende der 33-jährigen Herrschaft Salihs forderten, wurde Taiz, eine 250 Kilometer südlich der Hauptstadt Sanaa gelegene Stadt, zu einem Zentrum sowohl des bewaffneten Widerstands als auch der friedlichen Proteste und zum Schauplatz zahlreicher Menschenrechts- und Kriegsrechtsverletzungen. Der Human Rights Watch-Bericht stützt sich auf mehr als 170 Interviews mit Demonstranten, Ärzten, Bürgerrechtlern und anderen Zeugen der Operationen, die Sicherheitskräfte und Salih-Anhänger von Februar bis Dezember 2011 in Taiz durchführten.
Die jemenitischen Sicherheitskräfte gingen wiederholt mit übermäßiger bzw. tödlicher Gewalt gegen friedliche Demonstranten in Taiz vor. Während der ab Mitte 2011 durchgeführten Angriffe auf oppositionelle Kämpfer nahmen sie zudem auch bewohnte Viertel in der Stadt wahllos unter Artilleriefeuer. Als Ausgangspunkt ihrer Angriffe nutzten die Regierungstruppen das Al-Thawra-Krankenhaus, das größte Krankenhaus der Stadt, das sie von Juni bis Dezember besetzten, wodurch der medizinische Betrieb praktisch völlig zum Erliegen kam.
Einer der schwersten Angriffe auf Demonstranten ereignete sich in der Nacht vom 29. auf den 30. Mai auf dem Freiheitsplatz in Taiz. Staatliche Sicherheitskräfte und bewaffnete Gruppen schossen auf Demonstranten, setzten ihre Zelte in Brand und räumten ein Freigelände, das sie seit Februar besetzt hatten. Dabei wurden fünfzehn Demonstranten getötet und über 260 verletzt. Arif Abd al-Salam, ein 32-jähriger Geschichtslehrer und Teilnehmer der Demonstrationen, beschrieb den Angriff mit den Worten:
„Sie hatten Panzer und Planierraupen. Sie warfen Benzinbomben in die Zelte und schossen aus verschiedenen Richtungen. Ich sah mit eigenen Augen, wie ein Mann, der die Sicherheitskräfte über einen Lautsprecher aufforderte, den Angriff und das Töten ihrer Brüder zu beenden, erschossen wurde.“
Zu den Opfern der Räumung in Taiz gehörten neben den Demonstranten auch Unbeteiligte. Qaid al-Yusifi, ein Lehrer, wurde am 9. Juli getötet, als er Einkäufe zu seinen Kindern in al-Rawdha bringen wollte, einer Hochburg der Opposition, die wiederholt von Regierungstruppen mit Artillerie angegriffen wurde. Seine Ehefrau Labiba Hamid Muhammad Saif sagte im Gespräch mit Human Rights Watch, sie habe mindestens drei Einschläge in der Nähe des Hauses gehört:
„Wir versuchten, aus dem Fenster zu schauen, weil wir Schreie hörten. Es waren viele Verletzte da und Menschen aus der Nachbarschaft, die ihnen helfen wollten. Der Strom fiel aus und ich konnte die Verletzten nicht erkennen. Dann erkannte ich, dass einer von ihnen mein Mann Qaid war. Er hatte Saft, Milch und Wasser getragen, nicht Bomben oder Patronen.“
Von den 120 Todesopfern, die Human Rights Watch in Taiz bestätigen konnte, waren 57 Demonstranten und Passanten der weitgehend friedlichen Kundgebungen, die bei den Angriffen durch Sicherheitskräfte und bewaffnete Gruppen getötet wurden. Die restlichen 63 Opfer waren Zivilisten, die durch Artilleriebeschuss und andere Angriffe im Rahmen der Militäroperationen gegen oppositionelle Kämpfer getötet wurden. Mindestens 22 Opfer der Angriffe in Taiz waren Kinder.
Während der Angriffe auf dem Freiheitsplatz am 30. Mai drangen Sicherheitskräfte und bewaffnete Gruppen auch gewaltsam in fünf medizinische Einrichtungen ein, die verwundete Demonstranten aufnahmen. Ein Arzt aus einem der betroffenen Krankenhäuser beschrieb, wie ein Sicherheitsbeamter mit seinem Gewehrkolben in das Gesicht eines verletzten Demonstranten schlug, worauf dieser das Bewusstsein verlor. Augenzeugenberichten zufolge sollen Sicherheitskräfte zudem mit Gewehrkolben in die Wunden verletzter Demonstranten geschlagen haben, die sich in einer als Feldlazarett genutzten Moschee am Friedensplatz befanden.
Am 11. November beschoss die Armee das Al-Rawdha-Krankenhaus, wo zur gleichen Zeit Zivilisten ankamen, die bei anderen Angriffen der Sicherheitskräfte verwundet worden waren und sich behandeln lassen wollten. Das Beweismaterial lässt auf direktes Feuer aus Panzergeschützen schließen, was wiederum auf einen gezielten Angriff hindeutet. Einer der Patienten starb offenbar, als er durch ein riesiges Einschussloch in einer Wand fiel.
Viele der völkerrechtswidrigen Angriffe, die der Bericht dokumentiert, gehen auf das Konto der Republikanischen Garden, einer Eliteeinheit der Armee, die unter dem Befehl von Salihs Sohn Brigadegeneral Ahmed Ali Abdullah Salih Ahmed steht, sowie der „Zentralen Sicherheit“ einer paramilitärischen Einheit, die Salihs Neffe General Yahya Muhammad Salih untersteht.
Die Angriffe auf Demonstranten durch jemenitische Sicherheitskräfte verletzen internationale Menschenrechtsstandards, etwa das Recht zur friedlichen Versammlung und Meinungsäußerung. Sie verstoßen auch gegen internationale Standards über die Anwendung von Gewalt und den Einsatz von Schusswaffen. Die Verweigerung medizinischer Behandlung für verwundete Demonstranten verletzt das Recht auf Gesundheit.
Die internationalen Völkerrechtsbestimmungen für bewaffnete Konflikte sind auf die Kämpfe zwischen den Sicherheitskräften und den von lokalen Scheichs befehligten Oppositionskämpfern anwendbar. Die Sicherheitskräfte haben mit ihren wahllosen Artillerieangriffen auf bewohnte Gebiete gegen das Völkerrecht verstoßen. Durch die Besetzung von Krankenhäusern und die Misshandlung von Ärzten haben die Sicherheitskräfte das Prinzip der Neutralität der Medizin missachtet und ihre Pflicht zur Achtung und zum Schutz von Gesundheitseinrichtungen und des medizinischen Personals verletzt.
Die oppositionellen Kämpfer setzten Zivilisten unzulässigen Risiken aus, indem sie in besiedelten Gebieten operierten. „Wir baten sie, nicht in der Nähe unseres Hauses zu schießen, aber sie machten trotzdem weiter“, so ein Bewohner von Al-Rawdha.
Laut Präsident Salih waren „Terroristen“ für das Blutvergießen in Taiz und anderen Städten verantwortlich. In einer schriftlichen Stellungnahme zu den Erkenntnissen von Human Rights Watch gab die Regierung im Dezember den „plötzlichen Angriffen […] der bewaffneten [oppositionellen] Milizen“ die Schuld an den hohen Opferzahlen unter Demonstranten und unbeteiligten Zivilisten. In dem von Human Rights Watch vor Ort gesammelten Beweismaterial finden sich dafür jedoch keine Anzeichen.
Seit April verspricht ein vom Golf-Kooperationsrat (GCC) ausgehandeltes und von den USA und der EU gestütztes Abkommen Salih pauschale Immunität im Gegenzug für einen freiwilligen Machtverzicht. Salih unterzeichnete die Vereinbarung im November. Am 21. Januar 2012 gewährte das jemenitische Parlament ihm und seinem Stab Immunität. Als Staatsoberhaupt genießt Saleh im Ausland bis zum offiziellen Ende seiner Präsidentschaft am 21. Februar zudem diplomatische Immunität.
Die USA, die EU und der GCC sollen das Immunitätsgesetz zurückweisen und die neue jemenitische Übergangsregierung auffordern, das Gesetz zurückzunehmen, da es gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes verstößt. Im internationalen Recht gibt es keine Amnestie für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere schwere Menschenrechtsverletzungen.
„Die USA, die EU und die Golfstaaten sollen klar und deutlich erklären, dass das Immunitätsgesetz im Ausland nicht gilt und im Jemen zurückgenommen werden soll“, so Tayler. „Niemand, der für schwere internationale Menschenrechtsverbrechen verantwortlich ist, darf einen Freibrief erhalten.“