(New York, 12. April 2005). Die Uiguren, eine moslemische Volksgruppe, werde unter dem Vorwand von Anti-Separatismus und Terrorismusbekämpfung religiöser Repression ausgesetzt, so der Inhalt eines neuen Berichts von Human Rights Watch und Human Rights in China, der am Dienstag veröffentlicht wurde. „Der weltweite Krieg gegen den Terrorismus lieferte Peking einen fadenscheinigen Grund, härter denn je in Xinjiang durchzugreifen“, erklärte Brad Adams, Leiter der Asien-Abteilung von Humans Rights Watch. „In anderen Teilen Chinas verfügen die Menschen über etwas mehr Religionsfreiheit. Doch die Situation in Xinjiang ist der in Tibet nicht unähnlich, wo der chinesische Staat versucht, eine Religion umzugestalten, um so eine ethnische Minderheit zu kontrollieren.“
Der 114 Seiten umfassende Bericht, „Devastating Blows: Religious Repression of Uighurs in Xinjian“, (Vernichtende Schläge: Religiöse Repression der Uiguren in Xinjiang), basiert auf Partei- und Regierungsunterlagen sowie auf lokalen Erlässen, Zeitungsmeldungen und Interviews, die in Xinjiang geführt wurden. Er enthüllt zum ersten Mal das komplexe Gebilde aus Gesetzen, Vorschriften und politischen Maßnahmen in Xinjiang, die sich gegen die religiöse Freiheit der Uiguren und darüber hinaus gegen die Vereinigungs-, Versammlungs- und Redefreiheit wenden. Chinesische Polizei und Strafvollzugsbehörden ersticken religiöse Aktivitäten im Keim, sogar in Schulen und in Privathaushalten. Ein offizielles Dokument geht sogar so weit zu sagen, dass „Eltern und Erziehungsberechtigte Kindern nicht erlauben dürfen, an religiösen Aktivitäten teilzunehmen.“
Die Heimat der Uiguren ist die ölreiche, autonome Region Xinjiang Uigur im Nordwesten Chinas. Circa 8 Millionen Menschen gehören dieser türkisch-sprachigen Volksgruppe an. Doch angesichts der Ansiedelung von mehr als 1,2 Millionen Chinesen in den vergangenen zehn Jahren fürchten die Uiguren zusehends um ihre traditionelle Lebensweise. Viele Uiguren möchten größere Autonomie und manche wollen einen unabhängigen Staat. Aber derzeit gibt es wenig Anzeichen für eine gewalttätige Rebellion.
Intensive Kontrolle erstreckt sich auf organisierte religiöse Aktivitäten, religiöse Würdenträger, Schulen, kulturelle Institutionen und Verlage. Sogar das individuelle Erscheindungsbild von uigurischen Privatpersonen wird kontrolliert. Staatliche Behörden überprüfen regelmäßig alle Imams und verlangen so genannte „Sitzungen zur Selbstkritik“. Sie überwachen Moscheen und entfernen religiöse Lehrer und Studenten aus Schulen. Beamte zensieren Literatur und Gedichte im Hinblick auf politische Anspielungen. Die Kontrollbehörden setzen jeden Ausdruck von Unzufriedenheit mit Pekings Politik mit „Separatismus“ gleich, was nach chinesischem Recht ein Verbrechen gegen die Staatssicherheit darstellt und die Todesstrafe zur Folge haben kann.
In Extremfällen werden friedliche Aktivisten verhaftet, gefoltert und manchmal sogar hingerichtet. Der Grund dafür: Sie üben ihre Religion auf eine Weise aus, die nach Meinung der Partei und der Regierung nicht akzeptabel ist. Am härtesten werden jene bestraft, die an so genannten „separatistischen Aktivitäten“ beteiligt waren. Aktivitäten, die offizielle Stellen gegenüber dem In- wie auch dem Ausland immer häufiger als „Terrorismus“ bezeichnen.
In ihrem Alltagsleben sehen sich die Uiguren vermehrt Schikanen ausgesetzt. In den staatlichen Institutionen, einschließlich der Schulen sind das Einhalten religiöser Feiertage, das Studieren religiöser Texte oder das Zeigen religiöser Einstellung durch das äußere Erscheinungsbild streng verboten. Die chinesische Regierung kontrolliert, wer ein Geistlicher sein darf, welche Version des Korans akzeptabel ist, welche religiösen Versammlungen abgehalten werden dürfen und was gesagt werden darf.
„Die Uiguren werden von Peking als ethnisch-nationalistische Bedrohung für den chinesischen Staat empfunden“, erklärte Sharon Hom, Geschäftsführer von Human Rights in China. „Da der Islam als Hauptmerkmal der uigurische Identität gilt, hat China drakonische Maßnahmen getroffen, um die Religion zu unterdrücken. Man will damit das nationalistische Empfinden der Uiguren eindämmen.“
Dokumente und Interviews, die Human Rights Watch und Human Rights in China erhalten beziehungsweise geführt hat, beweisen das mehrstufige Überwachungs-, Kontroll- und Unterdrückungssystem, das gegen die religiösen Aktivitäten der Uiguren im Einsatz ist. Der Parteisekretär von Xinjiang, Wang Lequan, betonte, dass die „Hauptaufgabe“ der Behörden in Xinjiang darin bestünde, „Religion zu verwalten und sie der zentralen Aufgabe des wirtschaftlichen Aufbaus, der Einigung des Vaterlands und dem Ziel nationaler Einheit unterzuordnen.“
Der neue Untersuchungsreport berichtet ausführlich über:
• die aktuellen Vorschriften zur Regelung religiöser Aktivitäten in Xinjiang;
• ein Handbuch für Regierungs- und Parteikader über die Umsetzung politischer Maßnahmen zur Regelung religiöser Aktivitäten von Minderheiten, das im Jahr 2000 zirkulierte. Es beschreibt viele der repressiven Praktiken, die nachfolgend in Form von Vorschriften kodifiziert wurden;
• Vorschriften, die die Beteiligung Minderjähriger an religiösen Aktivitäten verbieten;
• Dokumente, die belegen, das Uiguren vermehrt wegen angeblicher religiöser Delikte und Vergehen gegen die Staatssicherheit inhaftiert und in Arbeitslagern umerzogen werden;
• Vorschriften, die detailliert beschreiben, wie Angelegenheiten, die religiöse und ethnische Minderheiten betreffen, als „Staatsgeheimnisse“ klassifiziert werden.
Einige dieser Dokumente werden zum ersten Mal veröffentlicht. „Diese Dokumente gelten als extrem sensibel und wurden daher nur partei- und regierungsintern weitergegeben“, sagte Adams. „Sie werden willkürlich verwendet, um eine rechtliche Basis gegen die Uiguren zu schaffen.“
Ein offizielles „Handbuch”, das die Religionsausübung in Xinjiang regelt, beinhaltet eine Zusammenfassung der „Vergehen“. Den Behörden wird darin die Möglichkeit gegeben, religiöse Freiheit unter praktisch jedem beliebigen Vorwand zu beschneiden. Darunter fällt zum Beispiel die Verwendung von Religion „um Aktivitäten auszuüben, die dem guten Zustand der Gesellschaft schaden“, oder „um separatistische und reaktionäre Aktivisten zu fördern“. Das Handbuch fährt wie folgt fort:
„Alle Veröffentlichungen (einschließlich von Nachrichten und Artikeln), die in Zusammenhang mit der Forschung und der Lobpreisung der islamischen Religion stehen, müssen der marxistischen Sichtweise von Religion standhalten und den Kriterien, die die Partei und die Regierung für religiöse Vorschriften und Regelungen vorsehen, entsprechen.“
Ein Artikel, der vom Vizedirektor des „Büros für Umerziehung durch Arbeit” von Xinjiang unterzeichnet wurde, enthüllt, dass im Jahr 2001 beinahe die Hälfte der Inhaftierten in Umerziehungslagern wegen Zugehörigkeit zu illegalen Organisationen und Beteiligung an illegalen religiösen Aktivitäten interniert waren.
„Die Religionsvorschriften aus Xinjiang sind so umfassend und weit reichend, dass sie zur Schaffung eines rechtlichen Netzes führen, durch das die Behörden praktisch jedermann ins Visier nehmen können“, erklärte Homs.
Devastating Blows berichtet auch über zwei spezielle Vorschriften – die in diesem Bericht zum ersten Mal veröffentlicht werden. Die Gesetze sehen drakonische Strafen für die unbefugte Veröffentlichung von Informationen über nationale Minderheiten oder religiöse Angelegenheiten vor, selbst wenn sie nicht in Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit stehen.
Der Bericht legt zudem dar, wie China die Ereignisse vom 11. September 2001 und den nachfolgenden „Krieg gegen den Terrorismus“ als Vorwand für sein Vorgehen gegen die Uiguren instrumentalisiert. Obwohl es in Xinjiang religiöse Unterdrückung auch schon vor dem 11. September gab, behauptet die Regierung nun, dass sie sich einer islamistisch inspirierten Abspaltungsbewegung gegenüber sehe. Eine Bewegung, die in Verbindung mit internationalen terroristischen Gruppen und der Al Kaida stehe. Peking unterscheidet jedoch nicht zwischen gewalttätigen Handlungen und friedlicher Meinungsabweichung und schadet dadurch seiner Glaubwürdigkeit. Und es klingt wie aus einem Roman von George Orwell, wenn Beamte behaupten, dass Terroristen nun als friedliche Aktivisten auftreten. Ein Parteisekretär aus Xinjiang sagte:
„Die Vertreter der Unabhängigkeit Xinjiangs haben ihre Taktik seit den Ereignissen vom 11. September geändert. Sie konzentrieren sich nun darauf, China auf ideologischer Ebene anzugreifen. Statt sich – wie bisher häufig praktiziert – an gewalttätigen terroristischen Operationen zu beteilten, werden nun Kunst und Literatur instrumentalisiert, um historische Fakten zu verzerren.“
Human Rights Watch und Human Rights in China fordern die internationale Gemeinschaft auf, Druck auf China auszuüben, damit die gegen die Uiguren gerichteten politischen Maßnahmen und Praktiken beendet werden. Die Organisationen betonen wie wichtig es sei, den chinesischen Behauptungen, wonach alle Separatisten Kriminelle seien oder in Beziehung zu internationalen Terrornetzwerken stünden, zu widersprechen. „Kein Land sollte Uiguren wegen angeblicher Beteiligung an terroristischen, separatistischen oder sonstigen kriminellen Handlungen an China ausliefern“, forderte Adams. „Angesichts der jüngsten Geschehnisse ist zu befürchten, dass diese Häftlinge in China gefoltert oder sogar hingerichtet werden.“
Auszüge aus Devastating Blows
„Wir müssen die Kontrolle über Personen des öffentlichen religiösen Lebens intensivieren und sicherstellen, dass sie politisch qualifiziert sind. Dies ist eine Forderung mit allerhöchster Priorität. Politische Qualifikationen sind folgende: eine glühende Liebe für das Vaterland, Unterstützung der Führungskräfte der Kommunistischen Partei und des sozialistischen Systems, Opposition gegen nationale Abspaltungstendenzen und illegale religiöse Aktivitäten. Weiter: die Verteidigung nationaler Einheit und der Einigung des Vaterlands und eine bewusste Einhaltung aller nationaler Gesetze und Vorschriften...Wir müssen die Überwachung von Orten, an denen religiöse Aktivitäten stattfinden und von Textinhalten intensivieren...“ – Wang Lequan, Parteisekretär von Xinjiang
„Dies ist eine uigurische Schule und die meisten, die hier arbeiten, sind Uiguren. Wir dürfen jedoch weder zu Hause noch in der Arbeit mit Kindern über Religion sprechen. Wenn man nur darüber spricht, ist dies schon illegal. Nicht einmal mit meinem eigenen Sohn darf ich mich über den Islam unterhalten. Wie kann das sein?“
„Manche Schüler unserer Schule, insbesondere Ihre Kinder, haben sich nicht ausreichend auf ihre Lerninhalte konzentriert, da sie gebetet und gefastet haben und sich an religiösen Aktivitäten beteiligt haben; sie haben somit dem Dokument Nr. 51996 der Erziehungskommission der Autonomen Region zuwider gehandelt, wonach Schüler sich nicht an religiösen Aktivitäten (beten, fasten und sonstige religiöse Aktivitäten) beteiligen und damit unsere Schulvorschriften verletzen dürfen.“
„In meinem Heimatdorf kommt regelmäßig die Miliz, um die Dorfbewohner zu überprüfen. Sie kommen in der Nacht, durchsuchen Haus für Haus. Wenn sie religiöses Material finden, werden die Leute zum Verhör mitgenommen. Sie sagen, dass es sich um „illegale religiöse Veröffentlichungen“ handelt. Mein Vater ist ein einfacher Bauer, woher soll er wissen, ob sein Koran illegal ist oder nicht?“
„Das folgende ist mir passiert und ich bin kein fanatischer Moslem. Das einzige was ich tat war in den Unterrichtsstunden häufig über religiöse Lieder zu sprechen. Sie sind weit verbreitet und es ist absurd, dass es nicht erlaubt ist, über sie zu sprechen. Sie stellen einen wichtigen Teil unserer musikalischen Geschichte und Tradition dar, und das ist genau mein Unterrichtsfach. Aber im nächsten Schuljahr haben sie (die Schulbehörden) mir mitgeteilt, dass sich nicht genug Schüler für meinen Kurs eingeschrieben hätten, was jedoch nicht stimmte. Deswegen unterrichte ich nun seit einem Jahr nicht mehr. Sie haben mich nicht entlassen und ich sollte mich nicht all zu sehr beklagen, da ich noch das Brot der Kommunistischen Partei essen darf, aber ich gehen nur noch über den Campus oder sitze an meinem Schreibtisch. Es ist eine totale Verschwendung, aber es ist besser, nicht darüber zu sprechen.” – Ein uigurischer Lehrer in einer höheren Bildungseinrichtung in Xinjiang, Ihm wurde verboten, musikalische Tradition zu unterrichten.
„Mir ist es gelungen, ein Unternehmen mit Verwandten aufzubauen und das ist meine ganzer Stolz. Zuvor hatte ich in einem Büro gearbeitet, wo ich mich mit Lebensmittellieferungen an Schulen beschäftigte, aber dann hieß es: „Hier sind keine Bärte erlaubt. Nicht einmal Oberlippenbärte.” Ich fragte mich: Wie können sie mir vorschrieben, wie ich aussehe? Das ist unsere Tradition und geht niemanden etwas an. Ich hatte dann die Gelegenheit zu kündigen und tat das auch. Aber wenn man im privaten Sektor keinen anderen Job finden kann, muss man sich entweder den Bart abrasieren oder man verhungert.“
Während der „Sitzungen zum Erfahrungsaustausch” werden Geistliche aufgefordert, den anderen Teilnehmern Rechenschaft abzulegen über „Schwierigkeiten“ oder „Vorfälle“, die in ihrer Arbeit aufgetreten sind. So beschreibt ein Imam beispielsweise, wie „illegale” Religionsstunden abgehalten wurden oder wie die Moschee „illegale“ Religionsbücher verwendete. Es kann auch vorkommen, dass sie über ihr Versäumnis berichten, die Behörden über agitierende „Elemente“ zu benachrichtigen oder über Einladungen von Geistlichen aus anderen Gebieten ohne vorherige Genehmigung. Geistliche müssen auch persönliche Fehler zugeben und ob sie „inkorrektes” Gedankentum gefördert haben. Dann müssen sie Beispiele für derartige Fehler anhand anderer Gruppenmitglieder anführen.