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Deutschland

Menschenrechtslage 2024

Während einer Demonstration gegen Rechtsextremismus und für den Schutz der Demokratie am 3. Februar 2024 in Berlin, Deutschland, hält eine Person ein Schild mit der Aufschrift "Demokratie" hoch. 

© 2024 REUTERS/Liesa Johannssen

Nach der Entlassung des Bundesfinanzministers Ende 2024 brach die regierende Ampelkoalition aufgrund eines Haushaltsstreits auseinander.

Im Verlauf des Jahres war es den Parteien des demokratischen Spektrums in Deutschland nicht gelungen, extrem rechten, rassistischen und migrationsfeindlichen Narrativen entgegenzutreten, die es weiter in den Mainstream geschafft haben. Unterdessen konnte die extrem rechte Alternative für Deutschland (AfD) signifikante Zugewinne bei den Wahlen in zwei ostdeutschen Bundesländern verzeichnen. Angriffe auf Angehörige marginalisierter Gruppen, wie etwa Menschen aus der LGBTQ-Community, scheinen ebenso zuzunehmen wie rechte, rassistische und antisemitische Gewalt.

Nach der Eskalation der Feindseligkeiten zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen im Oktober 2023, kam es in Deutschland zu einer deutlichen Zunahme antisemitischer und anti-muslimischer Hassrede und Gewalt. Die Behörden setzten ihren repressiven Kurs gegen entsprechende Proteste fort. Immer wieder wurde über Polizeigewalt berichtet. Eine Bundestagsresolution zum Thema Antisemitismus, die im November verabschiedet wurde, schürte die Angst vor einer Stigmatisierung von Muslim*innen und migrantischen Communitys sowie der Einschränkung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Gleichzeitig wurde der Antisemitismus in Deutschland darin heruntergespielt.

Positiv hervorzuheben ist die Verabschiedung des langerwarteten Selbstbestimmungsgesetzes der Ampelkoalition, mit dem trans* Personen nunmehr ein rechtlich abgesicherter, einfacher Weg zur offiziellen Änderung ihres Geschlechtseintrags zur Verfügung steht.

Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit

Deutsche Behörden haben das zivilgesellschaftliche Leben 2024 wiederholt eingeschränkt, einschließlich einer Beschränkung der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Unter anderem griff die Polizei im Rahmen von Klima- und propalästinensischen Protesten häufig zu Gewalt. Dies fand auch Eingang in den Bericht der Europäischen Kommission über die Rechtsstaatlichkeit 2024.

Deutschland setzte seinen Kurs fort, Klimaproteste zu kriminalisieren. Im Mai klagte die Staatsanwaltschaft die klimaaktivistische Gruppe Letzte Generation an und griff in Reaktion auf die Störaktionen der Gruppe auf Anklagepunkte zurück, die sonst nur im Kontext der organisierten Schwerkriminalität Anwendung finden. Der Anklage waren Razzien in den Wohnungen der Mitglieder der Vereinigung durch bewaffnete Polizeieinheiten sowie eine Überwachung ihrer Kommunikation vorausgegangen.

Die Polizei setzte oftmals unverhältnismäßige Gewalt gegen pro-palästinensische Demonstrant*innen ein. Die Behörden untersagten zudem bestimmten Personen die Einreise nach Deutschland, die auf pro-palästinensischen Veranstaltungen reden sollten.

Die extrem rechte Alternative für Deutschland (AfD) verweigerte ebenso wie das neu gegründete Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) Journalist*innen regelmäßig den Zugang zu ihren Veranstaltungen, was der Deutsche Journalistenverband als Einschränkung der Pressefreiheit einordnete. Laut Reporter ohne Grenzen verzeichnete Deutschland allerdings einen Rückgang der Angriffe auf Journalist*innen durch extrem rechte Gruppen.

Diskriminierung und Intoleranz

Die etablierten Parteien versäumten es, sich extrem rechten, rassistischen und migrationsfeindlichen Narrativen entschieden entgegenzustellen, und verbreiteten diese zuweilen selbst weiter. Unterdessen sorgen sich besonders Menschen aus rassifizierten Gruppen vor dem Erstarken der extremen Rechten.

Im Januar enthüllte die investigative Recherchegruppe Correctiv, dass Mitglieder der AfD sich im November 2023 mit Angehörigen der extremen Rechten in Potsdam getroffen hatten, um Pläne zur „Remigration“ zu besprechen, d. h. zur Abschiebung von Migrant*innen und anderen „nicht-assimilierten Staatsbürgern“. In der Folge gingen über Wochen im ganzen Land Hunderttausende auf die Straße, um gegen die AfD zu demonstrieren. Dessen ungeachtet konnte die Partei bei den Wahlen später im Jahr deutliche Zugewinne verzeichnen.

Offiziellen Zahlen vom Mai zufolge erreichten politisch motivierte Straftaten einen neuen Höchststand, darunter war auch ein deutlicher Anstieg an Angriffen auf Gebäude, in denen Migrant*innen und Asylsuchende untergebracht waren. Zu den insgesamt 60.028 erfassten Straftaten gehörten auch rechtsmotivierte Straftaten, die 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 23 Prozent angestiegen waren (von 23.493 auf 28.945).

Seit dem 7. Oktober 2023 warnten zivilgesellschaftliche Gruppen vor einer Zunahme des antimuslimischen Rassismus und hassbedingter Gewalttaten. Für 2023 erfassten sie 1.923 Fälle, eine Zunahme um 114 Prozent im Vergleich zu 2022. Diese Zahlen spiegelten sich auch in den offiziellen Statistiken wider, die bei insgesamt 1.464 erfassten „islamfeindlichen“ Straftaten im Jahr 2023 eine Zunahme um 140 Prozent im Vergleich zu 2022 auswiesen.

Gleichzeitig gab es nach dem 7. Oktober einen drastischen Anstieg antisemitischer Übergriffe. Die Behörden registrierten 2023 insgesamt 5.164 antisemitisch motivierte Straftaten – ein Anstieg um 96 Prozent gegenüber 2022 (2.641).

Im Juli erschien eine unabhängige Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), in der untersucht wurde, wie Rassismus in den vergangenen 30 Jahren in den Mainstream-Medien thematisiert wurde. Im Ergebnis stellte die Studie fest, dass sich die Berichterstattung – trotz einer höheren Sensibilität für das Thema Rassismus –weiterhin stärker auf individuelle Fälle von Rassismus als auf die strukturelle Dimension in Deutschland fokussierte.

Migrant*innen und Asylsuchende

2024 führten die Debatten rund um Asyl- und Abschiebungsverfahren in Deutschland zu einigen kontroversen Entscheidungen.

Im Juni entschied die Regierung, die Abschiebegesetzgebung derart zu verschärfen, dass ausländische Staatsangehörige bei einer einzigen Aussage in den sozialen Medien, die ein terroristisches Verbrechen verherrlicht oder gutheißt, abgeschoben werden können.

Erstmals seit der Machtübernahme der Taliban 2021 schoben deutsche Behörden 28 Personen nach Afghanistan ab und verwiesen darauf, dass es „sich um afghanische Staatsangehörige [handelte], die sämtlich verurteilte Straftäter waren, die kein Bleiberecht in Deutschland hatten“. Diese Entscheidung wurde unter dem Eindruck eines tödlichen Messerangriffs in Solingen getroffen, der einem abgelehnten syrischen Asylbewerber zur Last gelegt wurde. Die Umsetzung des Bundesaufnahmeprogramms (BAP), mit dem gefährdete Afghan*innen nach Deutschland gebracht werden sollten, läuft weiterhin schleppend – zwischen Oktober 2022 und Juli 2024 erreichten gerade einmal 540 Afghan*innen deutschen Boden.

Deutschland rückte auch zunehmend vom EU-Prinzip der Freizügigkeit innerhalb des Schengenraums ab, als Innenministerin Nancy Faeser im September verkündete, dass auf allen Landgrenzen temporäre Binnengrenzkontrollen neu eingeführt würden, um die „irreguläre Migration“ einzudämmen. Bereits im Oktober 2023 hatte die Ampelregierung Kontrollen an den Grenzen zur Schweiz, nach Polen, der Tschechischen Republik und Österreich eingeführt.

Im Juni trat ein neues Staatsbürgerschaftsrecht in Kraft, das vorsieht, dass alle Antragsteller*innen für eine Einbürgerung das Existenzrecht Israels anerkennen müssen. Die Bundesregierung begründete diesen Schritt als Reaktion auf den wachsenden Antisemitismus in Deutschland sowie damit, dass Israels Sicherheit im nationalen Interesse Deutschlands liege.

Zwischen Januar und August beantragten 174.369 Personen Asyl in Deutschland, eine Abnahme von 21,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die meisten Antragssteller*innen kamen aus Syrien, Afghanistan und der Türkei.

Im Februar bekräftigte die Bundesregierung ihre Verpflichtung zur Aufnahme von Menschen aus der Ukraine in Deutschland. Eine Studie zeigte allerdings, dass die Integration dieser Menschen im europäischen Vergleich noch immer sehr langsam vonstattengeht. Lediglich 27 Prozent der Ukrainer*innen konnten eine Arbeit finden. Im August erfasste das Ausländerzentralregister (AZR) insgesamt 1.157.220 ukrainische Staatsangehörige – die zum Großteil vorübergehenden Schutz genießen.

Geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung

Im April verabschiedete die Bundesregierung das lang erwartete „Selbstbestimmungsgesetz“, mit dem trans* und intergeschlechtliche Menschen sowie nicht-binäre Personen ihren Namen und Geschlechtseintrag auf offiziellen Dokumenten mit einem einfachen Verwaltungsakt und ohne „Experten-Gutachten“ entsprechend ihrer eigenen Geschlechtsidentität ändern können. Das Gesetz trat im August in Kraft und erste Antragsteller*innen erhielten im November ihre neuen Dokumente.

Häusliche Gewalt

Offiziellen Polizeidaten zufolge waren 256.276 Personen 2023 von häuslicher Gewalt betroffen. Das entspricht einem Anstieg von 6,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr, wobei in 70 Prozent der Fälle Frauen betroffen waren. Von den 167.865 Personen, die Opfer von Partnerschaftsgewalt geworden sind, waren beinahe 80 Prozent Frauen. 92 Frauen starben in Folge innerfamiliärer Gewalt.

Armut

Offizielle Daten zeigten, dass 2023 insgesamt 17,7 Millionen Menschen und damit 21,2 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht waren.

Nach einem Besuch in Deutschland 2023 sagte die Menschenrechtskommissarin des Europarats, dass das Versäumnis der Bundesregierung, Armut und Obdachlosigkeit effektiv zu bekämpfen, zu wachsender sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit führe. Die Kommissarin verwies darauf, dass Armut besonders für Kinder, Senior*innen und Menschen mit Behinderungen ein großes Problem darstelle.

Im April verabschiedete die Bundesregierung ihren ersten Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit mit dem Ziel, der Obdachlosigkeit bis 2030 ein Ende zu setzen.

Meinungsunterschiede unter den Koalitionsparteien führten jedoch zu Untätigkeit, die das Recht auf soziale Absicherung beeinträchtigte. So entschied sich die Bundesregierung gegen eine Erhöhung des Bürgergelds, obwohl es von vielen Seiten als nicht ausreichend kritisiert wurde. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts waren Pläne zur Einführung einer neuen Kindergrundsicherung im Jahr 2025 beinahe vollständig zum Erliegen gekommen.

Wirtschaft und Menschenrechte

Nach der Annahme der EU-Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Juni 2024 kündigte die Bundesregierung an, dass ab 2025 zwei Drittel der Unternehmen künftig nicht mehr unter die deutschen Vorschriften zur Prüfung von Menschenrechts- und Umweltverstößen entlang ihrer Lieferkette – das heißt unter das Lieferkettengesetz – fallen würden und alle darüber hinausgehenden EU-Anforderungen zum europarechtlich spätestmöglichen Zeitpunkt bis 2029 umgesetzt würden. Organisationen aus der deutschen Zivilgesellschaft kritisierten den Schritt. Obgleich sowohl das bundesdeutsche Recht als auch das EU-Recht eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht für Unternehmen vorsehen, sind die umweltrechtlichen Bestimmungen und die zivilrechtliche Haftung in der EU-Variante strenger geregelt.