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Deutschland

Menschenrechtslage 2020

Ein Junge spielt Fußball vor einem neuen Graffito, das die neun Opfer des Anschlags von Hanau zeigt, unter einer Brücke in Frankfurt am Main, Deutschland, Juni 2020.

©2020 Michael Probst/AP Photo

Im Februar wurden bei einem rassistischen Anschlag neun Menschen getötet. In Polizei und Bundeswehr traten rechtsextremistische Strukturen zu Tage. Rechtsextremistisch und antisemitisch motivierte Straftaten blieben weiterhin ein schwerwiegendes Problem. Die Proteste gegen die Covid-19-Maßnahmen der Bundesregierung zogen auch Menschen mit neonazistischen und antisemitischen Ansichten an. Schutzbedürftige Gruppen wie Arbeitsmigranten, Asylsuchende und Obdachlose waren von der Covid-19-Pandemie überproportional betroffen. Die Europäische Kommission veröffentlichte im Oktober ihren Bericht über die Lage der Rechtsstaatlichkeit, in dem sie Deutschland für seine Pressefreiheit und seinen Pluralismus lobte, aber auch auf die Zunahme der Angriffe gegen Journalisten hinwies.

Diskriminierung und Intoleranz

Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, einschließlich gewaltsamer Hasskriminalität, bleiben ein Problem.

Laut offizieller Angaben wurden im ersten Halbjahr 2020 insgesamt 9.305 rechtsextreme politisch motivierte Straftaten angezeigt, darunter 390 Gewaltverbrechen, gegenüber 8.605 im Vorjahreszeitraum. Derselben Statistik zufolge gab es bis Juli 876 antisemitische Straftaten, darunter 21 Gewaltdelikte. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts wurde gegen 469 Tatverdächtige wegen antisemitischer Straftaten ermittelt und es gab 4 Festnahmen. Im ersten Halbjahr 2020 wurden 463 islamfeindliche Straftaten bei der Polizei angezeigt. Dabei wurden 21 Personen verletzt. In 33 Fällen richteten sich die Taten gegen Moscheen. Bei Redaktionsschluss hatte es noch keine Verurteilungen gegeben.

Im März veröffentlichte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, ein Kontrollorgan des Europarats, einen Bericht, der erklärt, die Polizei kooperiere bei der Erkennung und Erfassung von Hassverbrechen nicht ausreichend mit der Zivilgesellschaft, was zu einer hohen Dunkelziffer bei solchen Delikten führe.

Eine im gleichen Monat veröffentlichte Erklärung des Innenministeriums verzeichnete 1.620 Angriffe auf Geflüchtete und 128 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte im Jahr 2019.

Im Juni begann der Prozess gegen zwei Männer wegen der Ermordung des hessischen Lokalpolitikers Walter Lübcke im Juni 2019. Die Staatsanwaltschaft legte Indizien vor, die darauf hindeuten, dass die Beschuldigten in der Neonaziszene aktiv waren und Lübcke wegen seiner offenen Haltung gegenüber Geflüchteten ins Visier nahmen.

Über das gesamte Jahr gab es Drohungen gegen Politiker, Aktivisten, Personen des öffentlichen Lebens und einen Rechtsanwalt. Die ersten Drohungen waren bereits im August 2018 verschickt worden. Absender war eine geheime Gruppe, die man als „NSU 2.0“ bezeichnete, in Anlehnung an die Neonazigruppe, die in den Jahren 2000 bis 2007 mindestens 10 Menschen in Deutschland tötete. Die im Jahr 2018 eingeleiteten Ermittlungen ergaben, dass persönliche Daten von Opfern über Polizeicomputer abgerufen worden waren. Daraufhin spitzte sich die öffentliche Debatte über Rechtsextremismus bei der Polizei zu. Mitte September liefen 25 Ermittlungsverfahren gegen 50 Tatverdächtige, ein Teil davon Polizeibeamte.

Im Oktober veröffentlichte das Bundesamt für Verfassungsschutz zum ersten Mal einen Bericht über Rechtsextremismus innerhalb der Polizei. Dieser dokumentiert 350 Verdachtsfälle im Zeitraum März 2017 bis März 2020.

Im September wurden 30 Polizeibeamte vom Dienst suspendiert, und es wurden Disziplinarermittlungen eingeleitet, weil sie an einer Chatgruppe teilgenommen hatten, in der rassistisches und extremistisches Material geteilt wurde, darunter Symbole, die nach deutschem Recht verboten sind. Im Februar wurden 7 Polizeischüler suspendiert, weil sie in Gruppenchats antisemitische und frauenfeindliche Inhalte geteilt hatten. Im Oktober wurde ein weiterer Fall bekannt, in dem 26 Polizeischüler an einem rassistischen Gruppenchat teilgenommen hatten.

Im Januar gab der Militärische Abschirmdienst bekannt, man ermittele gegen 550 Bundeswehrsoldaten wegen des Verdachts auf Rechtsextremismus. Im Juli ließ die Verteidigungsministerin Teile der Eliteeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) auflösen, da Bedenken wegen Rechtsextremismus in dessen Reihen aufgekommen waren.

Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz befand in einem im März veröffentlichten Bericht, die Polizei ignoriere oder bestreite Anzeichen für einen verbreiteten Einsatz selektiver Personenkontrollen auf der Grundlage ethnischer Merkmale, sogenanntem Racial Profiling. Die Kommission empfahl der Bundesregierung, eine Studie zu Racial Profiling durch die Polizei in Auftrag zu geben.

Im Juni verabschiedete Berlin als erstes Bundesland ein Gesetz, das Opfern von Diskriminierung durch staatliche Instanzen, einschließlich der Polizei, die Möglichkeit gibt, Schadensersatzansprüche geltend zu machen.

Im August bestätigte das Bundesarbeitsgericht ein Urteil aus dem Jahr 2018, das einer Frau, die wegen des Tragens eines Kopftuchs nicht als Lehrerin eingestellt wurde, eine Entschädigung zugebilligt hatte.

Internationale Justiz

Im April begann in Koblenz der Prozess gegen zwei mutmaßliche syrische Geheimdienstbeamte wegen Folter in einem syrischen Gefängnis. Das wegweisende Verfahren stützt sich auf die deutschen Gesetze zur universellen Gerichtsbarkeit.

Wirtschaft und Menschenrechte

Im August gab die Bundesregierung bekannt, mehr als 80 Prozent der Unternehmen in Deutschland hätten ihre im Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte verankerte Sorgfaltspflicht nicht erfüllt. Noch im gleichen Monat kündigten die Ministerien für Arbeit und Entwicklungshilfe ein neues Gesetz an, das die Sorgfaltspflicht für Menschenrechte innerhalb der globalen Lieferketten verbindlich vorschreiben soll. Das Wirtschaftsministerium lehnte entscheidende Teile des Entwurfs jedoch ab, so dass bislang keine Einigung über das Gesetz erzielt werden konnte.

Migration und Asyl

In den ersten acht Monaten von 2020 beantragten 74.429 Menschen in Deutschland Asyl, knapp 35 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Die meisten Antragssteller stammten aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und der Türkei. Ende August waren noch 43.316 Anträge anhängig.

Bis zum 30. September nahm Deutschland 713 Asylsuchende und Geflüchtete aus Griechenland auf, entsprechend der im März gemachten Zusage der Bundesregierung zur Aufnahme von Kindern mit gesundheitlichen Problemen und enger Angehöriger sowie unbegleiteter Kinder unter 14 Jahren. Im September kündigte die Bundesregierung an, 1.500 weitere Menschen mit anerkanntem Schutzstatus von den griechischen Inseln aufzunehmen, insbesondere auch aus dem Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, das durch einen Brand verwüstet wurde.

Überwachung, Terrorismus und Terrorismusbekämpfung

Im Februar griff ein Rechtsextremist in Hanau zwei Shisha-Bars an und tötete 9 Angehörige ethnischer Minderheiten, bevor er sich selbst und seiner Mutter das Leben nahm. Vor der Tat hatte der Attentäter im Internet ein fremdenfeindliches, rassistisches und frauenfeindliches Manifest veröffentlicht.

Im Juli begann der Prozess gegen den Attentäter von Halle, der 2019 eine Synagoge und ein Restaurant angegriffen und seine Taten live im Internet übertragen hatte. Zuvor hatte er antisemitische und frauenfeindliche Kommentare gepostet. Das Verfahren ist derzeit noch anhängig.

Bei Redaktionsschluss waren Verfassungsklagen gegen Gesetzesänderungen in mehreren Bundesländern anhängig, mit denen Polizeibefugnisse ausgeweitet, jedoch nicht für mehr Transparenz und Kontrolle gesorgt wird. Die Regelungen enthalten weitreichende Überwachungsbefugnisse, etwa zum Einsatz von Schadsoftware, sowie eine Verlängerung der präventiven Haft.

Im Mai urteilte das Bundesverfassungsgericht, die Überwachung des weltweiten Internetverkehrs durch den Bundesnachrichtendienst (BND) sei verfassungswidrig und verletze den Schutz der Pressefreiheit. Die infolge des Urteils vorgeschlagenen Reformen werden laut Reporter ohne Grenzen zu einer Ausweitung der Befugnisse des BND führen.

In einem im September veröffentlichten Bericht stellte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags fest, dass die geplante Änderung des Netzdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Novelle, die der Bekämpfung der Hasskriminalität dienen sollte, sah vor, dass Internetfirmen dem Bundeskriminalamt mutmaßlich illegale Inhalte melden und persönliche Daten des Urhebers übermitteln müssen, einschließlich der IP-Adresse.

Im November 2019 holte die Bundesregierung eine Deutsche und ihre drei Kinder aus einem Haftlager für mutmaßlicher Mitglieder des Islamischen Staates (ISIS) im Nordosten Syriens zurück nach Deutschland. Im Nordosten Syriens werden noch immer mehr als 80 Deutsche, die mutmaßliche ISIS-Anhänger bzw. deren Angehörige sind, unter unhygienischen, beengten und lebensbedrohlichen Bedingungen festgehalten.

Covid-19

Die Bundesregierung versuchte mithilfe verschiedener Maßnahmen, die Folgen des Lockdowns abzumildern, welchen sie zur Eindämmung von Covid-19 verhängt hatte. Um die Wirtschaft zu stabilisieren und den Verlust von Arbeitsplätzen zu verhindern, verabschiedete sie ein beispielloses Paket von Finanzhilfen.

Trotz intensiver Lobbyarbeit von Seiten der Automobilindustrie nahm die Bundesregierung keine Subventionen für benzin- und dieselgetriebene Autos in ihr Konjunkturpaket auf und beschloss vielmehr, schadstoffärmere Elektroautos zu fördern. Sie erleichterte den Zugang zu staatlichen Sozialleistungen und verhängte von April bis Juni ein befristetes Kündigungsverbot für säumige Mieter. Gesellschaftliche Randgruppen erlebten eine Verschlechterung ihrer ohnehin prekären Lage.

Nach Angaben des Robert Koch Instituts (RKI) trugen Asylsuchende, die in großen Geimeinschaftsunterkünften leben, ein höheres Risiko an Covid-19 zu erkranken, und es kam zu mehreren großen Ausbrüchen unter Bewohnern solcher Einrichtungen. In einem Aufnahmezentrum in Bayern steckten sich im Mai zwei Drittel der rund 600 Bewohner mit Covid-19 an. Dies warf ein Schlaglicht auf den dort herrschenden Platzmangel, der die Einhaltung von Abstandsregeln verhindert.

Große Covid-19-Ausbrüche unter den Mitarbeitern fleischverarbeitender Betriebe, wie die mehr als 2.000 Fälle bei Tönnies im Juni, warfen ein Schlaglicht auf die schlechten und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der Branche. Dort arbeiten häufig Migranten aus Rumänien und Bulgarien, die über Subunternehmer beschäftigt werden. Im Juli legte die Bundesregierung ein Gesetz zur Verbesserung der Bedingungen in der Fleischindustrie vor, das die Beschäftigung über Subunternehmer verbietet und die Rechenschaftspflicht der Unternehmen für die Gesundheit und Sicherheit ihrer Beschäftigten ausweitet.

Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. verschärfte die Pandemie die ohnehin prekäre Lage wohnungsloser Menschen, indem sie deren Zugang zu Verdienstmöglichkeiten, psychosozialer und medizinischer Hilfe sowie staatlichen Finanzleistungen weiter einschränkte.

Im März wurden zur Eindämmung der Ausbreitung von Covid-19 die Schulen geschlossen und der Unterricht für die meisten Kinder ins Internet verlegt. Kinder von Eltern, die in systemrelevanten Berufen arbeiteten, konnten jedoch weiterhin zur Schule gehen. Kinder aus einkommensschwachen Haushalten, insbesondere Flüchtlingskinder, verfügten oft nicht über die nötige Ausstattung und Internetverbindung, um am Online-Unterricht teilzunehmen. Es gab Anzeichen, dass Deutschland bei der Entwicklung des digitalen Lernens in den Schulen hinterherhinkt.

Die Demonstrationen gegen die Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung von Covid-19, etwa die Pflicht, an bestimmten Orten eine Maske zu tragen, zogen auch Menschen mit antisemitischen und neonazistischen Ansichten an. Nach zwei Großkundgebungen in Berlin Anfang und Ende August dokumentierte der Deutsche Journalistenverband Angriffe gegen 9 Kamerateams und 22 Journalisten sowie Drohungen gegen 2 Redaktionen.

Frauenrechte

Das von der Bundesregierung geförderte Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen verzeichnete im April einen 20-prozentige Anstieg der Anfragen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt, der auch in den darauffolgenden Monaten anhielt

Laut der im März veröffentlichten Daten des Bundesamts für Statistik verdienen Frauen in Deutschland noch immer erheblich weniger als Männer. Das geschlechtsspezifische Lohngefälle beträgt im Schnitt 20 Prozent.

Der Zugang zu legalen Abtreibungen wird weiterhin durch einen Mangel an spezifisch geschultem medizinischem Personal und das gesetzliche Verbot von „Werbung“ für Abtreibungen erschwert. Letzteres schränkt den Informationsaustausch über Abtreibungsangebote erheblich ein.

Außenpolitik

Die Bundesregierung betrachtete den Schutz der Menschenrechte als zentrale Säule ihrer Außenpolitik, setzte sich für internationale Menschenrechtsnormen ein und spielte eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Straflosigkeit. Diese Haltung wurde jedoch in Frage gestellt, wenn andere strategische Prioritäten auf dem Spiel standen.

Deutschland saß im vergangenen Jahr als nicht-ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und wurde in den UN-Menschenrechtsrat gewählt. Der deutschen Vertretung in New York gelang es, die Menschenrechte weit oben auf die Tagesordnung des Sicherheitsrats zu setzen: Sie lud die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte nach New York ein, organisierte regelmäßige Treffen mit Vertretern der Zivilgesellschaft und befasste sich mit Krisenlagen. Im Menschenrechtsrat setzte Deutschland sich für eine rasche Reaktion auf die Covid-19-Pandemie ein. Im Hinblick auf bestimmte Ländersituationen wurde Deutschland den Erwartungen jedoch nicht gerecht, da es Gelegenheiten verstreichen ließ, um mehr Führungsverantwortung zu übernehmen.

Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres identifizierte die Bundesregierung die Krise der Rechtsstaatlichkeit in der EU, die Reform der europäischen Migrationspolitik und das EU-weite Sanktionsregime gegen Menschenrechtsverletzer als Kernthemen im Hinblick auf den Schutz der Menschenrechte. Dennoch verfolgten die EU-Institutionen in dieser Zeit keine entscheidenden Maßnahmen gegen den Niedergang des Rechtsstaats in Ländern wie Ungarn und Polen.

In ihren bilateralen Beziehungen sprach die Bundesregierung Menschenrechtsverletzungen in Ländern wie China oder Russland an. Außenminister Heiko Maas forderte eine unabhängige UN-Untersuchung der politischen Umerziehungslager in Xinjiang sowie die Rücknahme des Sicherheitsgesetzes in Hongkong. Andere Minister ließen eine klare Position zur Menschenrechtslage in China jedoch häufig vermissen. Deutschland bot dem russischen Oppositionellen Alexei Nawalny Schutz und medizinische Behandlung.

Die Menschenrechtsbeauftragte im Auswärtigen Amt Bärbel Kofler war eine starke Stimme für Menschenrechtsverteidiger und die unabhängige Zivilgesellschaft weltweit. Der Menschenrechtsausschuss des Bundestags war ein wichtiger Akteur für die Verteidigung internationaler Normen.

Anfang 2020 wies die Bundesregierung die Beschwerde gegen Deutschland und 4 weitere Staaten zurück, die eine Gruppe von 15 Kindern wegen der schleppenden Maßnahmen zur Bekämpfung der globalen Klimakrise bei der UN eingereicht hatte. Die Bundesregierung argumentierte, die Beschwerde falle nicht in den Geltungsbereich des Kinderrechtsabkommens. Ferner seien Deutschlands Verpflichtungen im Rahmen des Abkommens nicht auf die 14 außerhalb Deutschlands lebenden Kinder anwendbar, da Emissionen in einem bestimmten Land keinen vorhersehbaren Einfluss auf die Wahrnehmung von Rechten in einem andern Land hätten.